Читать книгу Der Tote vom Oberhaus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 12
ОглавлениеEs war kurz nach halb neun Uhr abends, als Franziska mit ihrem Auto direkt auf dem niedergetrampelten Grünstreifen vor der Eingangstür von Wohnblock Nr. 7 der Böhmerwaldsiedlung parkte. Seit sie den inneren Burghof der Veste Oberhaus verlassen hatten, war kein Wort mehr zwischen ihr und Hannes gefallen.
Franziska hatte beschlossen, die Tatsache, dass Hannes auf einmal so dick mit Schneidlinger war, zu ignorieren. Bestimmt hatte er seine Gründe. Dennoch wunderte sie sich, wie schnell sich das Verhalten zwischen zwei Menschen verändern konnte.
„Wir sind da“, erklärte sie mit aufgesetzter Munterkeit, riss die Autotür auf und wäre um ein Haar mit ihren Riemchensandalen in einem Haufen Hundekot gelandet.
Scheiße, fluchte sie innerlich und wusste, dass sie sich besser konzentrieren musste. Aber es war ja nicht nur Hannes, der sich so anders benahm. Wirklich zu schaffen machte ihr die Tatsache, dass Walter allem Anschein nach in den Fall verwickelt war und sie nicht wusste, wie sie, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, damit umgehen sollte.
Als sie endlich auf dem geteerten Eingangsweg stand, wanderte ihr Blick zur Haustür, wo Fahrräder und ein paar Mofas, bei deren Anblick sie bezweifelte, ob die eine Verkehrsüberprüfung überstanden hätten, aufgereiht waren. Weiter drüben, bei einer Baumgruppe, lümmelten ein paar Jugendliche und schauten neugierig zu ihnen herüber. Zwei Mädchen trugen kurze Hosen, die lediglich den Po bedeckten und knappe Shirts. Die Jungs schien das nicht zu beeindrucken, und Franziska sah keinen Grund, das Grüppchen mit den Ereignissen zu behelligen.
Die Klingelschilder verrieten, dass Mautzenbacher im obersten Stock wohnte, und da die Haustür nur angelehnt war, gingen die beiden Kommissare zügig zum Aufzug, der sich, sobald sie eingestiegen waren, rumpelnd in Bewegung setzte.
Auf dem Weg nach oben mutmaßte Franziska insgeheim, dass so ein Haus vielleicht ein besonders schönes Penthouse hatte, ein Schmuckstück, das man von unten nicht erahnen konnte, aber der Grund dafür war, warum ein Mann wie Mautzenbacher, der eine Rolex trug und an dessen Schlüsselbund sich ein BMW-Schlüssel befunden hatte, in so eine Wohnanlage zog. Doch schon die Wohnungstür belehrte sie eines Besseren, und als die Kommissare das schäbige Appartement betreten hatten, staunten sie nicht schlecht.
„Kaputt!“, meinte Hannes, nachdem er mehrmals vergeblich den Lichtschalter betätigt hatte, und blickte skeptisch zu Franziska hinüber, doch die zuckte nur mit den Schultern.
„Warum suchen wir eigentlich, seit wir wissen, dass er in dieser Siedlung wohnt, nach Gründen, warum das alles nicht so sein kann, wie es aussieht?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Franziska den kurzen Flur entlang bis ins Wohnzimmer, drückte auf den Lichtschalter und blieb im abendlichen Dämmerlicht stehen.
„Weil wir uns von seinem feinen Anzug und zwanzigtausend Euro täuschen ließen“, vervollständigte Hannes, der der Kollegin gefolgt war und zusah, wie diese angewidert vor der fleckigen Couch zurückwich. „Dabei hatte er noch nicht einmal Geld, um sich neue Glühbirnen zu kaufen.“
Mit aufgerissenen Augen inspizierte Franziska die kleine Bücherreihe, die in einem wackeligen Regal stand, während Hannes den Uraltfernseher begutachtete. „Der braucht vielleicht gar keinen Strom, sondern läuft noch mit Holzkohle“, amüsierte er sich gerade, als mit einem Schlag Licht und Fernseher angingen.
„Was hast du gemacht?“, rief Franziska erschrocken und fixierte entsetzt das Buch, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte. Es war falsch herum einsortiert gewesen, und Franziska musste es drehen, um den Titel lesen zu können.
„Nichts“, entgegnete Hannes, schaute aber vorsichtshalber auf seine Hände.
Nachdem die Lampen auch nach mehrmaligem Ein- und Ausschalten konstant leuchteten, machten sich die beiden Kommissare mit geübtem Griff an die Durchsuchung des Wohnzimmers.
„Immerhin liest er“, bemerkte Franziska, schüttelte ein Buch nach dem anderen aus und stellte sie dann wieder ins Regal zurück.
„Wonach genau suchen wir?“, fragte Hannes und hob die Kissen an, um anschließend unter der vergilbten Wolldecke nachzusehen.
Ein wenig hilflos blickte Franziska in den kleinen Raum. „Keine Ahnung. Nach etwas, was uns von dem Mann erzählen kann, den wir heute tot im Oberhaus gesehen haben.“
Hannes öffnete die Balkontür und ließ frische Luft herein. Dann zeigte er mit der rechten Hand auf die Jugendlichen, die immer noch vor dem Wohnblock lümmelten. „Vielleicht können die uns etwas über Mautzenbacher erzählen.“
Franziska folgte seinem Blick, sah ein paar Zigaretten aufglimmen und spürte selbst über die große Distanz, wie die Musik, mit der sich die Clique aus einem unsichtbaren Gerät beschallen ließ, in ihrem Inneren vibrierte. „Hartz IV als Zukunftsperspektive“, murmelte sie, ging in die Wohnung zurück und schloss die Balkontür, um mit der frischen Luft auch den Lärm wieder auszusperren. „Nein, glaub mir, die interessieren sich nicht für einen wie den Mautzenbacher.“
Allerdings gab auch seine Wohnung praktisch nichts über ihren Mieter preis. Es gab keine Fotos, keine Rechnungen und keine Urlaubserinnerungen. Nichts.
„Sieht so aus, als hätte er kein Leben gehabt“, stellte die Kommissarin fest, bevor sie aus der Schublade einer Kommode doch noch ein Foto von ihm herausfischte. Sie zeigte es Hannes.
„Der Mann auf dem Bild sieht tatsächlich aus wie die Leiche.“
Franziska wechselte ins Schlafzimmer. Als sie den Kleiderschrank öffnete, hatte sie Angst, er würde jeden Moment auseinanderfallen. Vorsichtshalber hielt sie die Türen fest und sah erst dann genauer hin. Es gab zwei Anzüge, vier Hemden und eine Krawatte. Auf einem Regalbrett lagen eine einfache Trainingshose, zwei ausgeblichene T-Shirts, Unterhosen und Socken, auf dem Boden stand eine Sporttasche mit Werbeaufschrift. Nichts von Wert. Skeptisch sah sie auf die Sachen im Schrank. Etwas fehlte. Sie schloss die Türen und blickte zum Bett. Es war schmal und mit einer fadenscheinigen Bettwäsche bezogen. Auf dem Nachttischchen standen ein Wecker und eine kleine Lampe. Sie zog die einzige Schublade des Möbels auf und stellte fest, dass sie leer war.
Sie wollte gerade nach Hannes rufen, als ihr dieser im Schlafzimmer entgegenkam.
„Schau dir das mal an! Der hat doch tatsächlich den Sicherungskasten mit einer Zeitschaltuhr versehen.“
„Was?“ Franziska verließ das Schlafzimmer und folgte Hannes. „Wie kommt man auf so was?“
Statt zu antworten, las Hannes die Einstellungen ab. „Von sieben Uhr morgens bis um halb neun, und dann wieder von neun bis elf Uhr abends.“
„Vielleicht hat er öfter mal vergessen, das Licht auszuschalten, und wollte auf Nummer sicher gehen“, versuchte es Franziska mit einer möglichen Erklärung. Dann wusste sie, was ihr im Schlafzimmer gefehlt hatte. Es gab weder Bettwäsche zum Wechseln noch Handtücher. „Hier stimmt was nicht“, entschied sie und setzte ihre Suche in Küche und Bad fort.
„Ja, fragt sich nur was …“
Franziska öffnete den Kühlschrank. „Schlecht geworden wäre zumindest nichts“, berichtete sie Hannes, der noch immer vor dem Sicherungskasten stand. „Er hat nur Bier, H-Milch und Fischdosen gelagert.“
„Er sparte halt, wo er konnte.“ Hannes stand jetzt hinter ihr, zeigte aber mit dem Kopf in Richtung Flur und Sicherungskasten.
„An Bettzeug und Handtüchern? Ich weiß nicht. Und stattdessen leistet er sich teure Anzüge und läuft mit zwanzigtausend Euro in der Tasche in der Gegend herum?“
„Vielleicht hat er geklaut.“
„Weißt du, was mich wundert?“, fragte Franziska, ohne auf Hannes einzugehen. „Hier gibt es nichts, was auch nur im Entferntesten an einen Beruf erinnert. Noch nicht einmal einen Hartz IV-Bescheid.“
„Was schlägst du vor?“
„Wir befragen die Nachbarn. Irgendjemand muss doch was über den Mann wissen. Der war einfach zu jung, um sich so konsequent vor dem Leben zu verstecken!“