Читать книгу Der Tote vom Oberhaus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 6
ОглавлениеKriminalhauptkommissar Schneidlinger saß an seinem Schreibtisch und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Das konzentrierte Lesen von Akten strengte ihn zunehmend an, und der Stapel vor ihm auf dem Schreibtisch verriet, dass Schneidlinger damit so schnell noch nicht fertig sein würde. Dabei konnte er sich noch nicht einmal bei jemandem beschweren. Josef Schneidlinger war der neue Chef im K1, zuständig für Kapitalverbrechen: Mord und Totschlag. Vier Wochen war es her, dass man ihn ins neue Amt eingeführt hatte, und doch war ihm das Bild vor dem Fenster seines Büros noch immer fremd.
Darum hatte er am frühen Nachmittag jeden, der nicht zwingend im Dezernat gebraucht wurde, nach Hause geschickt. „Zeit um Überstunden abzubauen!“, hatte er gesagt und auf seine ganz eigene Art gelächelt, denn das war natürlich nicht der wirkliche Grund.
Er brauchte endlich eine Gelegenheit, um sich einzugewöhnen. Er wollte wissen, wie die neuen Kollegen tickten, und er hatte keine Lust, mit jedem deswegen erst einmal einen trinken zu gehen!
In den ersten Tagen hatte man ihn herumgereicht, hatte von ihm wissen wollen, wie er seinen Job in der Mordkommission angehen wolle und, ja, man hatte ihn sogar gefragt, was ihm eigentlich die Ehre verschaffte, den alten Chef zu beerben. Natürlich waren diese Fragen durchaus berechtigt, zumindest aus Sicht der Kollegen. Denn Schneidlinger war in Passau ein unbeschriebenes Blatt, und alles, was man von ihm wusste, war, dass er verheiratet war, vier Kinder hatte und zurzeit wieder auf dem großen Bauernhof im Rottal lebte, auf dem er geboren worden war. Hinzu kam seine Leidenschaft für seinen Porsche Boxster, den er sommers wie winters fuhr.
In München hatte er sich den respektablen Ruf erarbeitet, ein harter Hund zu sein. Einer, der nicht nur seine Nase überall hineinsteckte, sondern, wenn es sein musste, auch tief graben konnte. Diese Eigenschaft und ein effektives Netzwerk wollte er jetzt einsetzen, um seine Position in Passau zu stärken, um zu beweisen, dass er die richtige Wahl für den freien Posten gewesen war.
Daher hatte er in den vergangenen Tagen, wann immer es seine Zeit erlaubte und er sich unbeobachtet fühlte, die alten Fälle gewälzt. Akten, die ihn Tag für Tag mehr gelangweilt hatten, bis er, vor zwei Stunden, auf den Fall der getöteten Sopranistin Sophia Weberknecht gestoßen war. Sofort hatte er erkannt, dass hier etwas nicht stimmte.
Sein Vorgänger, Kriminalhauptkommissar Berthold Brauser, hatte die junge Frau schon vor ihrem Tod gekannt und sich heimlich mit ihr getroffen. Natürlich stand das nicht so direkt in den Akten, und Brauser selbst war inzwischen in Pension und konnte zum derzeitigen Stand der Recherche nicht dazu befragt werden. Fest stand aber: Nachdem die junge Frau tot aufgefunden worden war, hatte Brauser den Fall an seine jungen Kollegen abgegeben.
Allerdings nicht, und das ging aus den Akten eindeutig hervor, aus Befangenheit, sondern weil er sich in Kombination mit dem zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls ungeklärten Mord an Klaus Wallenstein überfordert gefühlt hatte.
Während Schneidlinger die Zusammenhänge erfasste, stellten sich ihm die Nackenhaare auf – ein sicheres Vorzeichen für eine neue Fährte. Solchen Märchen hatte er noch nie Glauben geschenkt. Dafür hatte er selbst schon zu viel erlebt, und als er weiterlas, huschte ein kaum wahrnehmbares sardonisches Lächeln über sein Gesicht. Das also war das Geheimnis, das die Kollegen mit sich herumtrugen!
Jetzt war er nicht mehr zu halten. Seite für Seite las er die Berichte und fand schließlich den Hinweis auf eine Tonaufnahme, in welcher der Dreifachmörder Joachim Herlau den Kollegen Brauser des Mordes an Sophia Weberknecht bezichtigte.
Schneidlinger lächelte zufrieden, um im nächsten Moment irritiert festzustellen, dass dieses Band auf geheimnisvolle Weise verschwunden und Joachim Herlau tot war, und seine Beschuldigung somit auch nicht mehr wiederholen konnte.
Energisch klappte der Hauptkommissar die Akten zu und schob sie auf seinem Schreibtisch zusammen. Schluss für heute, dachte er und schüttelte über sich selbst den Kopf.
„Man könnte meinen, du hast nichts Besseres zu tun“, lästerte er über seine eigene Beflissenheit und griff nach seinem Handy. Schon als er dem Freizeichen lauschte, entspannten sich seine Züge, und als er die vertraute Stimme hörte, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Hallo Paulina, hier ist Josef!“