Читать книгу Der Tote vom Oberhaus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 4
ОглавлениеWochen später
Das Gefühl, dass ihm jemand folgte, hatte ihn zum ersten Mal ergriffen, als er den letzten steinernen Torbogen passiert hatte und in den Burghof der Veste Oberhaus schritt. Natürlich war das blanker Unsinn, warum sollte ihn ausgerechnet hier jemand verfolgen? Und wenn doch, dann hätte er es sicher nicht bemerkt, schließlich wuselten hier oben, auf dem Oberhausberg, Hunderte von Menschen herum. Es war Mitte Juni, und um diese Jahreszeit war die Stadt voller Touristen. Die meisten Besucher, die auf die Burg kamen und in die Welt der Fürstbischöfe eintauchten, wollten in die Vergangenheit reisen, dem Mythos Mittelalter und allem, was davor und danach kam, begegnen. Natürlich gab es auch einige, die einfach nur einen besonders schönen Blick auf die Stadt werfen wollten. Doch die meisten, ob bewusst oder unbewusst, wollten von den Vorfahren lernen, um es in der Gegenwart vielleicht ein bisschen besser zu machen.
Auch Xaver Mautzenbacher suchte nach der Vergangenheit, oder besser gesagt: Sie suchte ihn.
Typisch für ihn war allerdings, dass er nichts davon ahnte. Vielleicht wollte er aber auch gar nicht begreifen, was er falsch gemacht hatte und warum er dafür leiden würde.
Es war früher Montagnachmittag. Mautzenbacher hatte eine Verabredung. Es ging um eine Angelegenheit, für die ihm dieser Ort hoch über der Stadt Passau zwar geeignet, aber höchst ungewöhnlich schien. In der Regel lag es an ihm, den richtigen Treffpunkt auszuwählen, aber in diesem Fall hatte er nicht kleinlich sein wollen.
Es stand zu viel auf dem Spiel.
Während er über den mit Kies bedeckten Hof schritt, warf er einen raschen Blick auf seine Uhr. Es war erst kurz vor zwei. Bis zu seiner Verabredung um drei hatte er noch viel Zeit. Er würde sich in aller Ruhe umsehen können.
Doch als er die Tür zum Empfang öffnete, sah er im Spiegel des Glases ein bekanntes Gesicht und wusste endlich, warum er das Gefühl, verfolgt zu werden, die ganze Zeit über nicht hatte abschütteln können.
Er löste sein Eintrittsticket, erkundigte sich nach dem Weg zum Rittersaal und stieg dann die Treppe hinauf. Mautzenbacher hatte nicht vor, sich die ganze Ausstellung anzusehen, es genügte, wenn er in der Mitte begann. Im ersten Stock angekommen wandte er sich nach links und blieb vor einer Installation stehen, die wiedergab, wie Passau und sein regierender Fürstbischof infolge der Napoleonischen Kriege ihre Selbstständigkeit verloren hatten und fortan zu Bayern gehörten. Im Grunde interessierte ihn das alles nicht. Er war ein Mann, dem es auf andere Sachen ankam. Wissen bedeutete für ihn nicht, die geschichtlichen Zahlen einer Stadt zu kennen. Er wollte nur sicher sein, dass ihn sein Verfolger nicht aus den Augen verlor.
Nichts liebte Mautzenbacher so sehr wie das Spiel, welches er in diesem Moment zu spielen begann. Es begeisterte ihn, dass ihn jemand beschattete – nein: Es erregte ihn. Er genoss, dass er sowohl den Weg als auch das Ziel selbst bestimmte. Er war Herr der Lage, der Gejagte, der zum Jäger wurde. Er fühlte sich nie besser als in diesen Situationen. Und er freute sich schon jetzt auf den Augenblick, in dem sein Verfolger bemerkte, dass er zum Opfer geworden war. So betrachtet waren die Ausstellungsräume also Nebensache. Für Mautzenbacher ging es ausschließlich darum, seinen Verfolger, ohne dass dieser es merkte, hinter sich herzulocken und den geeignetsten Ort für sein Vorhaben zu finden.
Er schlenderte durch den Arkadengang hinein in den Raum mit dem Wohnturm und den Werkzeugen vergangener Zeiten, durch die Kältekammer, die für seine Zwecke leider nicht infrage kam, und durch alle möglichen bunten Aufbauten. Schließlich erreichte er schon den Burghof und hatte noch immer nicht gefunden, was er suchte. Doch dann, er sah das Gesicht
seines Verfolgers schon erhitzt um die Ecke schauen, entdeckte er die Glastür, die ihn in den Fürstenkeller führte.
Dort, wo niemand die Schreie hören würde.
Durch die vergitterten Fenster wurde der Raum nur spärlich ausgeleuchtet, und seine Augen mussten sich erst an das Zwielicht gewöhnen. Doch rasch erkannte er, welch gute Wahler getroffen hatte. Mit zwei schnellen Schritten verschwand er hinter der Tür, in voller Spannung auf den nächsten Moment. Nicht einmal sein Atem hatte sich beschleunigt. Er war ein Mann, der Überraschungen liebte. Natürlich nur, wenn er sie selbst bestimmte, wenn seinem Gegenüber der Schock in die Glieder fuhr.
Schreckensschreie liebte er über alles.
Zögernd, wie nur ängstliche Menschen gehen, wenn sie nicht wissen, was auf sie zukommt, kamen die Schritte näher und tasteten sich schließlich in den Raum hinein. Xaver Mautzenbacher erwartete jeden Moment ein schüchternes „Hallo? Ist da jemand?“.
Als sein Verfolger den Raumbetreten hatte, schloss Mautzenbacher leise die Tür und baute sich in voller Körpergröße vor dem einzigen Fluchtweg auf. Dann begrüßte er seinen Gast, und als er den unterdrückten Schrei vernahm, begann sein ganzer Körper vor Erregung zu kribbeln.
Er musste lächeln. Ach, war das schön, wenn man sich auf etwas freuen konnte!
Zufrieden beobachtete er das Zurückweichen seines Verfolgers, und mit Genugtuung setzte er sich Schritt für Schritt in Bewegung, vorwärts, direkt auf seinen verängstigen Gast zu. Jetzt. Jetzt war es gleich so weit.