Читать книгу Der Tote vom Oberhaus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 17

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Die kleine Sunny war in eine übersättigte Welt hineingeboren worden. Der letzte Weltkrieg war lange her, und die Bedrohungen kamen jetzt aus ganz anderen Ecken. Es reichte nicht mehr, satt zu werden, man musste sich auch gesund ernähren und die Umwelt im Auge behalten. Es genügte nicht, ein warmes Haus zu haben, jetzt musste man sich damit auseinandersetzen, wo Strom und Heizöl herkamen. Eine neue Generation Mensch war herangewachsen und hatte gelernt, Fragen zu stellen, ohne Angst vor den Antworten zu haben. Sie fragten, weil die Folgen für andere unbequem waren. Damit machten sie denen das Leben schwer, die dafür sorgten, dass sie so bequem leben konnten. Sie fragten und nahmen sich das Recht, selbst die Antworten zu hinterfragen.

Ausdauernd trugen sie ihre Fragen auf die Straße. Sie demonstrierten und waren erst einmal gegen alles. Doch sie warfen nicht mehr mit Steinen, trugen keine Waffen, sie schmückten sich mit Sonnenblumen und erfanden eine neue Maßeinheit für Liebe.

Sunnys Eltern gehörten zu den besonders Berufenen. Sie waren gegen alles, was ihnen nicht richtig erschien, und das war eine ganze Menge und der Grund, warum sie fast das ganze Jahr über in irgendwelchen Camps lebten, die verhindern sollten, dass an dieser Stelle etwas gebaut wurde, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach nicht brauchte. Nebenbei studierten sie ein wenig und vergaßen dabei völlig, ihre kleine Tochter auf das Leben vorzubereiten.

Sunny war ein auffallend hübsches Kind mit ihren langen dunklen Haaren und den großen Augen, die alles so unschuldig betrachteten. Alle liebten das kleine Mädchen, das jeder nur Sunny nannte, und schon bald hatte sie viele Mütter und Väter. Es war eine treue Gemeinschaft, die da zusammenlebte und in gewisser Weise auch auf Gott baute. Denn sie säten nicht, und sie ernteten nicht, und der himmlische Vater Staat ernährte sie doch. So viele Träume hatten sie im Kopf, so viele Parolen und Ideale im Herzen. Und auch in Sunnys Kopf war kaum Platz für die Schule, die sie nur sehr nachlässig besuchte, weil es niemandem wirklich wichtig schien.

Sie war ein so glücklicher Mensch, was gab es Schöneres auf dieser Welt?

Eines Tages fand man ihre Eltern friedlich nebeneinander liegend in einem Zelt. Sie hatten gekifft und wer weiß was eingeworfen. Niemand wusste etwas Genaues, und nachdem sie tot waren, wollte es auch niemand genauer wissen. Die anderen sagten, es wäre doch schön für die beiden, weil sie gemeinsam gestorben wären, und Sunny solle sich doch für sie freuen. Aber Sunny konnte sich nicht freuen. Sie hatten sie im Stich gelassen, waren ohne ein Wort, ohne einen Abschied gegangen. Im Grunde waren sie einfach nur feige gewesen, denn sie hatten sich davor gedrückt, Sunny durchs Leben zu begleiten. Das musste jetzt die Gesellschaft übernehmen, die Sunnys Eltern so verabscheut hatten, und die hatte wenig übrig für die Lebensphilosophie der Dauerdemonstranten und steckte Sunny in ein Heim.

Hatte das Mädchen bis dahin nur miterlebt, was aus einem Menschen werden konnte, wenn er nicht mehr Herr seiner Sinne war, so musste sie diese Erfahrung nun schmerzlich am eigenen Körper erleiden. Sie musste lernen, die Zähne zusammenzubeißen und hinzunehmen, was nicht zu ändern war. Von jetzt an wurde Protest nicht mehr geduldet. Protest machte alles nur noch schlimmer.

Als sie in dem kleinen Häuschen am Anger ankam, hatte sie schon fast vergessen, dass es die Großmutter gab. Doch die nahm sie auf und fütterte sie von ihrer bescheidenen Rente durch. Ob sie sich darüber freute, Sunny bei sich zu haben, das Kind ihrer Tochter, das so wenig Ähnlichkeit mit ihr hatte und wohl absichtlich diesen Namen trug, erfuhr Sunny nie.

Noch lange nach dem Tod der Großmutter baute Sunny das Gemüse im Garten an und erntete Erdbeeren, so wie die Großmutter ihr das beigebracht hatte. Für einen kurzen Moment war das Haus ein Ort des ungetrübten Glücks.

Als die Großmutter starb, war Sunny achtzehn Jahre alt und ganz allein. Niemand stand ihr bei, und sie erstickte fast an der Einsamkeit, die sich in ihrem schmalen Körper breitmachte. Die Beerdigung war schlicht, denn die alte Frau hatte keine Zeit gehabt, um Freundschaften zu pflegen, hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet, und als sie ging, war nur Sunny bei ihr. Sie versprach, gut auf das Häuschen und den Garten aufzupassen. Über ihr eigenes Schicksal verlor sie aber kein Wort.

Als sie sich einige Wochen später wieder aus dem Haus traute, traf sie ganz zufällig einen Mann, den sie, wenn er auch viel älter als sie war, in ihrer jugendlichen Verliebtheit bald schon anhimmelte. Von jetzt an schlug ihr Herz nur noch für ihn. Für die Nächte, die sie mit ihm verbrachte, und für die Tage, an denen sie sich nach ihm verzehrte.

Nach einiger Zeit zog er bei ihr ein und zeigte ihr, was Liebe wirklich bedeutete, wie sie sich anfühlte und wie sie wuchs und immer größer wurde. Bald darauf war Sunny zum ersten Mal schwanger. Jetzt schien ihr Glück perfekt, und sie dachte, es gäbe keine Möglichkeit mehr, um ihre Freude noch einmal zu vergrößern. Sie brauchte lange, bis sie erkannte, dass die Welt nicht besser war, nur weil man als Kind an die Kraft der Sonnenblume geglaubt hatte.


Der Tote vom Oberhaus

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