Читать книгу Der Tote vom Oberhaus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 21
ОглавлениеHauptkommissar Josef Schneidlinger saß an seinem neuen Schreibtisch und kratzte mit dem Löffel den letzten Rest Milchschaum aus seiner Tasse. Dann stand er auf, ging zur Spüle und begann, das Geschirr sorgsam abzuwaschen. Er liebte diese Art der Beschäftigung, gab sich voller Eifer dem Bürsten und Durchspülen hin. Für ihn war Abwasch keine Arbeit, sondern eine Möglichkeit, um in Ruhe nachzudenken.
Nachdem Obermüller und Gruber gerade alle sozialen Netzwerke und Internetforen durchforsteten, um vielleicht auf diesem Wege etwas über Xaver Mautzenbacher herauszufinden, hatte es Schneidlinger auf dem altmodischen Weg versucht und seine Kontakte spielen lassen. Einer seiner Informanten war Acarbay Özdemir. Der kleine korpulente Mann mit dem großen Namen betrieb im Münchner Bahnhofsviertel ein florierendes Import-Exportgeschäft, wobei die meisten seiner Geschäfte legal waren. Er holte Früchte und Textilien aus der Türkei und lieferte Elektrogeräte und Computer nach Istanbul. Nebenbei, um seine lauteren Geschäfte finanziell abzusichern, war er Teil eines großen illegalen Netzwerkes. Eine Sache, der Schneidlinger einst auf die Schliche gekommen war, sie nicht weiter verfolgt hatte und dafür immer noch ausnutzen konnte. So wie jetzt im Fall Mautzenbacher, als es darum ging, die Herkunft der Rolex zu überprüfen, die, wie Obermüller herausgefunden hatte, nirgends gestohlen gemeldet war.
Vor einer Stunde hatte Schneidlinger mit Acarbay telefoniert, und der hatte ihm versichert, er werde sich umhören.
Mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen räumte der Hauptkommissar sein Geschirr zurück in den kleinen Schrank unter dem Kaffeeautomaten und bemerkte nicht, dass seine Gedanken sich nicht mit dem Fall Mautzenbacher beschäftigten, sondern von seinem Freund Acarbay zu einer anderen Münchner Bekanntschaft gewandert waren.
Denn auch Paulina hatte er während Ermittlungen kennengelernt, allerdings auf eine ganz andere Art als Acarbay.
Die junge Frau jobbte neben ihrem Studium für einen Escortservice, und im Rahmen dieser Tätigkeit wurde sie zum Alibi eines Hauptverdächtigen, der in einen großen Wirtschaftsbetrug verwickelt war. Als alles vorbei war, trafen sich Schneidlinger und Paulina zufällig in der Stadt, und nachdem Paulina ihr Studium beendet und ihren verruchten Job an den Nagel gehängt hatte, entstand eine solide Freundschaft zwischen den beiden.
Ein weiterer Zufall wollte es, dass erst Paulina und nun auch Schneidlinger in Passau landeten und er somit eine vertraute Ratgeberin in seiner Nähe hatte. Natürlich war ihm bewusst, dass niemand, der die Vorgeschichte zu dieser Freundschaft kannte, ihm glauben würde, dass sie wirklich nur gute Freunde waren.
Darum war Schneidlinger immer besonders vorsichtig, wenn er zu Paulina ging, um Fragen nach der Art ihrer Beziehung gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Nachdem er am gestrigen Abend mit ihr telefoniert hatte, hatte er seinen Porsche Boxster wenig später in der Heilig-Geist-Gasse geparkt und war zu Fuß zu ihrer Altbauwohnung hoch über der Passauer Fußgängerzone gegangen, wo sie ihn schon vor der Wohnungstür erwartete.
Barfuß, in einem weißen Sommerkleid, die Haut sanft gebräunt, die langen schwarzen Haare zu einem lockeren Zopf geflochten, die Fußnägel rot lackiert. Wie immer war Schneidlinger von ihrer Schönheit fasziniert, und wie immer stellte er sich vor, was wäre, wenn es nicht bei einer freundschaftlichen Umarmung bliebe.
Doch dann hatten sie über seine Entdeckung im Fall Sophia Weberknecht gesprochen, Wein getrunken und überlegt, was Schneidlinger in dieser Sache unternehmen sollte und konnte, ohne sich unbeliebt zu machen.
„Gib dem Hollermann eine Chance“, hatte Paulina schließlich vorgeschlagen, weil sie wusste, wozu Männer um ihrer Karriere willen imstande waren.
Schneidlinger hatte sich die Möglichkeit bei einem Schluck Wein durch den Kopf gehen lassen, und als kurz darauf die Meldung kam, dass im Oberhaus ein toter Mann gefunden worden war, hatte er es als Zeichen des Himmels gedeutet, gelächelt und beschlossen: Hollermann würde seine Chance bekommen.
Ein letztes Mal wischte Schneidlinger mit dem Spüllappen das Becken aus und ging dann zu seinem Schreibtisch. Er hatte einen Termin im Heinrichsbau bei Oberstaatsanwalt Schwertfeger, weil der am Vormittag wegen einer Gerichtsverhandlung nicht an der Besprechung hatte teilnehmen können und jetzt einen mündlichen Bericht einforderte. Eine gute Gelegenheit, wie Schneidlinger fand, um mal über das eine oder andere zu sprechen.
Kurze Zeit später klaubte der neue Chef des K1 seine Wagenschlüssel vom Schreibtisch, zog sein Jackett über und ging mit einem knappen Nicken an Ramona vorbei. Auf dem Gang stieß er auf den Kollegen Gruber, der sich gerade seine langen Haare zu einem Zopf band und in der Spiegelung der Glastür seinen eingezogenen Bauch bewunderte. Als er Schneidlinger entdeckte, ließ er verlegen von Bauch und Mähne ab und rief freudig: „Ah, Chef! Wir haben das Kennzeichen von Mautzenbachers Auto. Ich habe es zur Fahndung rausgegeben.“
Schneidlinger nickte anerkennend. „Gut. Sehr gut.“ Dabei klopfte er Gruber auf die Schulter.
Gruber warf seine Haare nach hinten und lächelte dann unsicher. „Ja, dann will ich mal wieder.“ Er schob das Gummiband in die Hosentasche und sah zu Schneidlinger, doch der steuerte schon die Tür an. Er hatte es eilig. Er legte Wert auf Pünktlichkeit, bei anderen und natürlich auch bei sich selbst.
Als er mit seinem Auto vom Polizeiparkplatz rollte und sich in Richtung Haitzinger Brücke in den allabendlichen Berufsverkehr einreihte, sah er auf seinem Display den eingehenden Anruf von Franziska Steinbacher. Na, bitte, da geht doch was, dachte er und nahm ab.
„Tut mir leid, Chef, aber wir kommen hier nicht weiter. Von den Mitarbeitern hat niemand etwas gesehen, und ohne Zeugen können wir weder einen Täter finden noch einen Unschuldigen entlasten“, keuchte sie etwas kurzatmig, und Schneidlinger hatte das Gefühl, als habe sie das Ganze auswendig gelernt.
„Immer mit der Ruhe, Frau Steinbacher. Ich habe bereits mit der Journalistin Kathrin Selig gesprochen. Sie wird einen Artikel über unseren Mord schreiben. Sie arbeitet sehr professionell, ich glaube das wird uns weiterhelfen.“ Schneidlinger lauschte in sein Handy und versuchte gleichzeitig, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. „Sind Sie noch dran?“
„Ja, aber der Empfang ist hier oben sehr schlecht“, sagte Franziska, was ihr Schneidlinger aber nicht glaubte. Er hatte gehört, dass sie eine Hand auf die Sprechmuschel gelegt und mit jemandem gedämpft gesprochen hatte. Wahrscheinlich Kollege Hollermann, dachte Schneidlinger.
„Kathrin Selig“, fuhr er unbeirrt fort, „die kennen Sie doch vom Fall Weberknecht. Das ist die Journalistin, die Sie nach dem Tod von Hajo Felbermann über dessen Arbeit für die Zeitung befragt haben.“
„Das ist gut!“, erklärte Franziska aufs Geratewohl und fügte hinzu, dass man in so einem Fall auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen sei.
Schneidlinger passierte die Zufahrt zum Innenhof der Staatsanwaltschaft und fuhr auf einen der wenigen freien Parkplätze zu. Kurz berichtete er der jüngeren Kollegin von Grubers Entdeckung und beendete das Gespräch mit den Worten: „Ich muss jetzt aufhören, ich habe einen Termin.“
Ohne Hast stieg der Hauptkommissar die breite Steintreppe empor und gelangte schließlich zum Büro des leitenden Oberstaatsanwalts, der ihn bereits erwartete. Nach einem Blick auf die Uhr ließ der den Single Malt stehen und bat stattdessen bei seiner Sekretärin um Kaffee. Schneidlinger nickte zustimmend und setzte sich auf den angebotenen Platz dem Oberstaatsanwalt gegenüber.
„Was können Sie mir denn über den neuen Fall berichten?“ Schwertfeger beugte sich ein wenig über seine gefalteten Hände und lächelte den Hauptkommissar auffordernd an.
„Nun“, eröffnete Schneidlinger, las von seinem vorläufigen Bericht die wichtigsten Informationen ab und ergänzte dann: „Interessant ist die Wohnsituation, die völlig gegensätzlich zu der Art und Weise steht, wie sich der Tote am späteren Tatort präsentierte.“
Der Oberstaatsanwalt legte nachdenklich die Stirn in Falten.
„Mautzenbacher trug zum Beispiel eine echte Rolex, sagte dem Nachbarn aber, sie sei nur ein Imitat. Warum? Ebenso rätselhaft sind die gefundenen zwanzigtausend Euro. Woher hatte Mautzenbacher die, und warum trug er sie bei einem Besuch der Veste Oberhaus bei sich? Weil er mit dem Täter verabredet war und sie dem geben wollte? Oder musste? Aber warum nahm sie der Täter dann nicht an sich? Oder ahnte der Täter nicht, dass er sein Opfer treffen würde, und wusste somit auch nichts von dem Geld? Sie sehen, der Fall wirft viele Fragen auf.“
Schneidlinger sah Schwertfeger erwartungsvoll an, dann zur Tür, die sich gerade öffnete. Die Sekretärin des Oberstaatsanwalts betrat mit einem Tablett in der Hand den Raum.
„Was werden Sie also unternehmen?“, fragte Schwertfeger.
„Nach der Pleite in der Wohnung haben wir Mautzenbachers Auto zur Fahndung ausgeschrieben, und ich habe einen Zeugenaufruf an die Presse rausgegeben. Vielleicht kann uns ja bald schon jemand etwas zu diesen Widersprüchen sagen.“
Der Oberstaatsanwalt nickte und schwieg, bis seine Sekretärin die Kaffeetassen verteilt hatte. „Und bei Facebook sind Sie auch nicht fündig geworden?“
Der Hauptkommissar lachte kurz auf. Zuhause erklärte er seinen Kindern, sie sollten sich genau überlegen, was sie in dieser Community von sich preisgaben, und im Beruf griff er immer wieder gern und erfolgreich auf genau diese kostenlose Datensammlung zurück. „Nein, zumindest nicht unter seinem richtigen Namen.“
„Was sagt die Gerichtsmedizin?“
Schwertfeger dachte an alles. Doch damit hatte Schneidlinger gerechnet und wiegelte dessen Erwartung sofort ab.
„Oh, das kann dauern. Die Ärzteschaft streikt doch mal wieder, und diesmal machen sie noch nicht einmal vor den Toten halt.“
Schwertfeger rührte in seiner Kaffeetasse und blieb stumm. Er überlegte, was sein ehemaliger Studienfreund und früherer Hauptkommissar Berthold Brauser in diesem Fall getan hätte.
„Ich habe ein paar meiner früheren Kontakte genutzt und versucht, auf diesem Weg etwas über die Rolex in Erfahrung zu bringen“, erklärte Schneidlinger mit Stolz in der Stimme. „Vielleicht gibt es ja eine Verbindung zwischen der Herkunft der Uhr und dem Täter.“
„Letzten Endes müssen Sie jedes Mittel nutzen, solange es legal ist“, erklärte Schwertfeger.
„Natürlich“, gab Schneidlinger zurück und lächelte provozierend. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich, während Schwertfeger ihm für seinen Besuch dankte.
„Und halten Sie mich bitte auf dem Laufenden!“
„Ja, das mache ich doch gern. Aber was ich Sie noch fragen wollte …“, Schneidlinger trat einen Schritt auf Schwertfeger zu und senkte seine Stimme. „Im vergangenen Herbst hatten Sie doch in diesem spektakulären Fall zu ermitteln.“
Der Oberstaatsanwalt wich ein wenig zurück. „Was meinen Sie?“
„Na, den Fall Weberknecht. Die Zeitungen waren damals voll davon, selbst in München, und ich …“
„Was bitte haben Sie mit dem Fall Weberknecht zu tun? Der Fall ist abgeschlossen“ Schwertfeger straffte die Schultern.
„Nun ja. Um mich einzuarbeiten, habe ich mir die alten Akten angesehen und dabei ist mir aufgefallen, dass … Also gut, ich glaube, es wurde etwas übersehen!“
Schwertfeger sah den Hauptkommissar so lange schweigend an, dass dieser schon dachte, er würde gar nichts mehr sagen.
„Herr Schneidlinger, es ist durchaus bewundernswert, dass Sie sich trotz des neuen Falles – dem Sie im Übrigen Ihre gesamte Energie widmen sollten – für die alten Berichte interessieren. Trotzdem möchte ich Sie daran erinnert, dass in diesem Fall eingehend ermittelt wurde. Es gibt wirklich keinen weiteren Handlungsbedarf.“
Beim letzten Satz hatte Schwertfeger jedes einzelne Wort betont, fast als wolle er dem Hauptkommissar ein für alle Mal eintrichtern, sich aus der Sache rauszuhalten.