Читать книгу Der Tote vom Oberhaus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 3
Prolog
ОглавлениеNach dem Tod der geliebten Großmutter hatte Sunny das kleine Häuschen am Anger kaum verändert. Es gab ihr das Gefühl von Geborgenheit und Liebe. Gefühle, die nur in ihrer Erinnerung existierten. Nach Jahren des Schmerzes symbolisierte die hölzerne Eingangstür mit ihrem blauen Farbanstrich, der an vielen Stellen bereits abblätterte, das Versprechen auf ein besseres Leben. Daran konnte nicht einmal die Feuchtigkeit, die von der Donau heraufstieg, um sich in allen Winkeln des Hauses auszubreiten und die verblichenen Tapeten von den Wänden zu lösen, etwas ändern. Sie hätte mehr aus dem Häuschen und seiner wunderbaren Lage, mit Blick direkt auf den Fluss und allem, was sich darauf bewegte, machen können. Aber für Sunny war es gut, so wie es war.
Ihr reichte der wackelige Küchenstuhl, auf dem sie saß, während sie mit den Händen zärtlich über ihren runden Bauch streichelte. Sie mochte es, wenn er sich soweit vorwölbte, und genoss es immer wieder, wenn die winzigen Fäustchen in ihrem Inneren sanft gegen die Bauchdecke drückten und die kleinen Füßchen strampelten, als könnten sie das Leben kaum erwarten. Beinahe schade, dass es schon bald vorbei sein sollte.
Während an diesem kalten Februartag im Garten der Schnee von einem eisigen Wind erfasst und durch die Luft gewirbelt wurde, sah sie sich in der aus Kindertagen vertrauten Küche um. Auf dem Tisch standen noch die Cornflakesschüsseln und die halb vollen Kakaobecher ihrer Kinder, an ihrer eigenen Tasse hatte sie bisher nur genippt. Die letzte Nacht sei die kälteste in diesem Jahr gewesen, hatte der Nachrichtensprecher am Morgen verkündet, und Sunny hatte sich gefragt, wie er das hatte wissen können. Schließlich war der Winter ja noch nicht vorbei, und man konnte den bevorstehenden Frühling wirklich nur erahnen. Dabei liebte Sunny nichts so sehr wie den Sommer und die Zeit, die sie mit ihren Buben im Garten verbringen konnte. Die Kinder spielten auf der alten verrosteten Schaukel oder in dem kleinen Sandkasten, in dem sie ständig alle möglichen Schätze fanden, während sie selbst zwischen Gemüse und Kräutern nach Unkraut suchte.
Über ihr Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Es gab nichts Wichtigeres in ihrem Leben. Das dachte sie jeden Abend, wenn sie im Kinderzimmer stand, die Kleinen im Schlaf betrachtete und den unschuldigen Geruch einer glücklichen Kindheit einatmete. Einer Kindheit, die sie nie erlebt hatte. Sunny hatte nicht viel zum Leben, aber ihr größter Reichtum war ohnehin das fröhliche Lachen, das schon am Morgen durch das kleine Häuschen schallte, und auch die vielen Fragen, die ihre Kinder an sie und das Leben stellten.
Sie bemühte sich, nicht an die Vergangenheit zu denken, und doch lag sie wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben. Was passiert war, kam Sunny wie ein Film vor, der immer wieder zurückgespult und abgespielt wurde, und den sie einfach nicht löschen konnte.
Für einen Moment schloss sie die Augen. Ihre Wünsche waren so einfach, kitschig, rosarot. Nur hin und wieder erlaubte sie sich, an diesen Traum zu denken. Er war wie eine Droge: ohne Gestern, ohne Gewalt und ohne Schuld. Und während ihre Hände weiterhin beschützend auf ihrem Bauch lagen, begann Sunny zufrieden zu lächeln. Sie musste sich beruhigen – und das Kind. Sie musste ihm sagen, dass sie beide nichts dafür konnten.
Aber ihr fehlten die Worte, die ihr ungeborenes Kind glauben konnte. Ihr fehlten die Worte, die es am Ende verzeihen ließ.
Urplötzlich erstarb ihr Lächeln.
Die Wehen kamen jetzt alle drei Minuten.
Und sie taten weh. Sehr weh!
Doch letztlich war der Schmerz, der gerade so heftig ihren Bauch durchzuckte, nichts. Viel schlimmer waren das Gefühl der Hilflosigkeit und die Angst, ob sie es am Ende wirklich schaffen würde.
Dann, wenn es kein Zurück mehr gab.
Sunny begann, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie hatte gelernt, richtig zu atmen, und sie wusste, dass es ihr helfen würde. Zumindest gegen den Schmerz, den sie gerade fühlte. Tief und immer tiefer einatmen. Den Bauch ganz groß aufblasen. Den Schmerz von ihrem Ungeborenen wegführen, um ihm zu zeigen, dass sie es ihm leicht machen wollte.
Doch gegen ihre Angst half das alles wenig.
Als die Wehen ihr eine kurze Pause gönnten, erhob sich Sunny schwerfällig von ihrem Stuhl. Sie hatte noch so viel zu erledigen, und doch war sie froh, dass es so schnell voranging. Bis die nächste Wehe kam, blieben ihr nicht mehr als zwei Minuten. Entschlossen schob sie den Stuhl an seinen Platz.
Dann musste sie sich eben beeilen.
Das Kind kamfrüher als erwartet. Aber was hatte sie denn überhaupt erwartet? Jeden Tag hatte sie gehofft und gebangt. Und jetzt sah es so aus, als ob sie es wirklich geschafft hatte. Aber sie durfte sich nicht zu früh freuen, das Schlimmste lag ja noch vor ihr. Wer wusste schon, was noch passieren würde, nach allem, was sie zugelassen hatte?
Immer wieder …
Mit schweren Schritten schleppte sie sich die Treppe hinauf ins Badezimmer. Im Flur lagen die Schlafanzüge der Kinder, Hausschuhe und Spielsachen.
Es war eine schwere Entscheidung, aber sie hatte keine andere Wahl.
Schwerfällig sammelte sie die Wäsche ein und schob die Schuhe zur Seite.
Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie, dass es ernst wurde. Sunny suchte Halt am Treppengeländer, das unter ihrem Gewicht leise knarzte. Nach vorn gebeugt begann sie einzuatmen. Tief und immer tiefer, bis es nicht mehr ging. Sie musste die Luft wieder aus ihren Lungen hinaus lassen und den Schmerz empfangen. Und wirklich, als sie ausatmete,
griff er augenblicklich und grob nach ihrem prallen Leib, als wollte er die Mitte ihres Körpers einfach in zwei Teile reißen. Mühsam unterdrückte sie einen Schrei. Zwar würde sie ohnehin niemand hören, aber Sunny verbot sich diese Schwäche.
Sie hatte noch nie geschrien. Egal, was passiert war.
Als alle Luft aus ihrem Körper gewichen war, begann sie, wieder tief einzuatmen, sog die Luft in ihre Lungen, bis in ihren Bauch, bis sie meinte, sie müsste zerplatzen. Sie hielt den Atem an, wollte den Moment hinauszögern. Sie dachte, sie hätte alles im Griff.
Und dann schrie sie doch auf. Vor Schreck, vor Scham und vor Angst. Sie war einfach nicht so stark, wie sie es sich wünschte.
Das Wasser, das plötzlich an ihren Beinen hinunterlief, zeigte ihr, dass die Zeit gekommen war. Sunny betrachtete die kleine Pfütze zu ihren Füßen, sie war hell und klar. Es gab überhaupt keinen Grund zur Sorge.
Wie in Trance riss sie ein paar Handtücher aus dem Regal und zog die nasse Unterhose aus. Dann kniete sie sich hin, und als die nächste Wehe kam, gab sie dem Druck einfach nach, öffnete sich und entließ mit ihrer ganzen Kraft ihr Kind ins Leben.
Als er schließlich vor ihr lag, blutverschmiert und rosig, lächelte sie matt und nahm den Kleinen in ihre Arme. Er war ein bisschen zerknautscht, und die Strapazen der Geburt hatten seinen Gesichtszügen zugesetzt. Trotzdem konnte sie jetzt schon erahnen, wie er später einmal aussehen würde.