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Havarie
ОглавлениеWalter Wolfram und sein neuer Kollege Max Mayerz tuckerten in einem grünmelierten Polizeiwagen durch die Stadt. Das altgediente Fahrzeug entstammte einer ausgemusterten Modellreihe der August & Cie. Automobilwerke. Auf den Seitentüren prangte das Wappen der Polizeidirektion Neu-Berlin und prangerte die hinterherhinkende Notlage im Fuhrpark der Ordnungshüter an. Es war ein feuerspuckender Drache mit ausgebreiteten Flügeln, der sich mit seinen Krallen in die fetten Letter PDNB bohrte. Da es sich um ein einfarbiges Wappen in schwarz-korrodiertem Silber handelte, hätte man auch deuten können, dass sich dieses Urzeitfossil über die plakativen Buchstaben der Polizeidirektion Neu-Berlin erbrach. Ohne die seitlich montierte Sirene, die neuerdings elektrisch betrieben wurde und nicht mehr mit Handkurbel, würde die Unterscheidung zur Müllabfuhr noch schwerer fallen.
Die verlegten Schienen in der Mitte der breiten Straße wurden von offenen, geländerlosen Straßenbahnen genutzt, wo der uniformierte Tramführer Schulter an Schulter mit den Fahrgästen verkehrte. Reger Vehikelverkehr füllte die Straßenzüge der Stadt. Auf den Gehwegen herrschte hektisches Gedränge. Nahezu einheitlich gekleidete Herren mit schwarzen Schuhen, schwarz-grau gestreiften Hosen, schwarzen Jacketts, hellgrauen Westen, weißen Hemden und silbergrauen Krawatten dominierten den korpulenten Passantenstrom. Da Neu-Berlin statistisch an zwei von drei Tagen von Regen mit kaltem Ostwind beherrscht wurde, bedeckten mausgraue Wettermäntel aus geschorener Sterblingswolle die adrette Männerwelt. Gedeckelt wurde das Erscheinungsbild von konformen Filzhüten, die Anonymität als auch moderne Mode vereinten, und den obligatorischen Regenschirmen, die bei seltener Trockenheit zum Gehstock umfunktioniert wurden.
Zwischendurch verirrten sich in die dominanten Herrengruppen einzelne weibliche Geschöpfe, die sich für die seltenen Gelegenheiten in der Stadt besonders auftakelten. Perlenketten und Federboas betonten den frisch frisierten Kopf, während enge Korsetts hübsch anzusehende Dekolletees erschufen und die eine oder andere Speckrolle offenbarten. Ein flatternder Rocksaum bildete den Übergang zu neckischen Strümpfen und Stöckelschuhen mit auffälligen Verzierungen. Diese Dirnen genossen die entrückten Blicke. Für jeden Lüstling mit Karies und Parodontitis war ein passendes Format in Form und Farbe dabei. Das kalte Wetter tat der zeigefreudigen Balz keinen Abbruch.
Saxophondominierte Treibjagdmusik drang leiernd aus den Läden auf die Straße. Meistens von Plattenspielern, seltener von bezahlten Musikern, die sich in einer engen Ecke der kleinen Milchbars zusammenpferchen mussten. Zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Rußpartikel aus Schornsteinen und Auspuffrohren strapazierten die Lungen, weshalb Konversation mit ständigem Husten betrieben wurde. Fahrzeughupen tröteten im Kanon. Pfennigabsätze klapperten einen wilden Rhythmus. Der Ostwind pfiff um die Gebäudekanten und verstärkte sich in den Gebäudeschluchten.
Diese melancholische Melodie der Metropole bekamen Walter und sein adoptierter Filius allerdings lediglich am Rande mit, denn das Funkradio, das in einem Stahlchassis am Armaturenbrett montiert war, rauschte ununterbrochen. Walter klopfte einige Male entnervt darauf – ohne Erfolg.
Max zuckte zwar zusammen, als Walter seine alten Knochen blitzschnell bewegte, um dem Rauschen ein Ende zu bereiten, doch die Miene verzog sich nicht. Dafür hatte dieses eine Ereignis einen zu großen Graben hinterlassen. Es fühlte sich an wie eine frische Wunde, die nicht verheilen wollte und immer wieder aufriss, ihn auffraß. Lena hatte seitdem das Haus nicht mehr verlassen; Max musste des Geldes wegen, auch wenn er nur wie ein Geist umherwandelte.
Bequeme Schaftstiefel in Schützengrau wärmten die Füße der beiden Polizisten. Der Uniformjackenrock in preußischem Jägergrün wickelte die Gendarmen ein wie Fladenbrot Schawarma. Aufgenähte Patten an den Kragenenden spiegelten die Dienstränge wie Ornamente wider – Walter hatte viele, Max keine. An ihren Leibriemen aus porösem Leder steckten die Pistolenholster, die mit ihren gummispuckenden Schmuckstücken bestückt waren, daneben schlummerten die Achter. Um den Hals hing das Halsband der Trillerpfeife, die in der Brusttasche steckte. Zwischen den Sitzen klemmten die Schlagstöcke. Auf ihren Schädeldecken ruhte der Husarenhelm, der sie durch den frontalen Polizeistern autoritär als Gesetzeshüter ankündigte, Kopfläusen ein Rückzugsgebiet bot und die Bewegungsfreiheit entscheidend dezimierte, vor allem wenn man am Fahrzeughimmel entlangschrammte. Wenigstens schützte der Augenschirm des Husarenhelms vor der seltenen Sonneneinstrahlung. Überdies musste der Kinnriemen so festgezogen werden, dass man den Unterkiefer kaum noch bewegen konnte, weswegen die meisten Polizisten im Dienst wegen des erzwungenen Lallens nur schwer verstanden wurden.
»Helden sterben.« Der weiße Schnurrbart von Walter bewegte sich kurz, als er die Worte nuschelte. »Merk dir das, mein Junge!«
Walter sondierte stoisch die Umgebung. Nicht die Art von geschärftem Blick, wie man es von einem erfahrenen Mann des Gesetzes erwartete, wenn er breitbeinig wie ein läufiger Rüde und aufrecht wie ein Brückenpfeiler mit in die Seite gestemmten Armen nach Gefahren Ausschau hielt und diese mit seiner bloßen Präsenz im Keim erstickte. Sondern eher ein vorsichtiger, zurückhaltender Blick, der abzuschätzen versuchte, ob man den Dingen ihren Lauf lasse oder überflüssigerweise eingreife, und dann auch nur mit maximaler Passivität aus einer sicheren Defensive heraus.
»Meine Bertha«, er tippte auf seine Pistole im Holster, »musste noch keinem Strolch ins Gesicht blicken. Sie fühlt sich sehr wohl an meiner Hüfte. Und bis zur Pensionierung soll das auch so bleiben.«
Er schaute zu Max. Ein Versuch, herauszufinden, wie dieser tickte. Walter hatte keine Lust auf Ärger oder einen umtriebigen Jungspund, der ihm den Feierabend vergeigen würde. Sein neuer Kollege machte keine Anstalten irgendetwas zu machen.
»Nicht sehr gesprächig, mh?« Walter nickte mit dem Kopf. »Kommt mir entgegen.«
Ein paar Meter beherrschten wieder das Rauschen des Funkradios und das Potpourri der städtischen Melodie den Geräuschpegel.
»Dieses verdammte, neumodische Ding«, fluchte Walter in Richtung Funkradio und versetzte dem Stahlchassis einen erneuten Hieb. Das Rauschen erstarb endgültig. Eine Delle zeugte vom plötzlichen Tod. »Na bitte, geht doch.«
Nun hörte man nur noch die Stadt und den sich verschluckenden Motortakt.
Ein Räuspern glitt durch den weißen Schnurrbart.
»Bertha war meine Frau. Sie ist tot. Gestorben an einer Infektion«, gab er im Stakkato zu Protokoll und ergänzte, »Lange her.« Wieder streichelte er über die Waffe an seiner Seite. Dass er auf hölzernen Bänken im Angesicht teurer Fresken dafür gebetet hatte, ihr folgen zu dürfen, verschwieg er.
Langsam wurde ihm die Stille allerdings unheimlich. Er klopfte sanft auf das Lenkrad und schien zu überlegen wie er das Eis brechen konnte.
»Verheiratet?«
Ein Kloß blieb in Max’ Kehle stecken. Für ein paar Sekunden hörte er auf zu atmen. Dass sich seine Hand in den Sitz krallte, registrierte er erst, als seine Fingerkuppen kribbelten.
»Ja«, antwortete er karg, in einer Art, die darum bat, nicht weiter zu bohren.
Walter verstand und glättete sich den Schnurrbart von der Mitte nach außen mit Daumen und Zeigefinger. »Warum Polizist?«, startete er einen neuen Versuch.
Max atmete schwer aus. Dieser alte Mann hatte ein Händchen für Fettnäpfchen, resignierte er.
»Mein Vater.«
Walter nickte. »Ehrenhaft.«
Die Männer setzten ihre Fahrt schweigend fort. Der eine, weil er keine Lust mehr auf eintönige Antworten hatte. Der andere, weil er keine Lust mehr hatte.
Eine Lichtzeichenanlage schaltete auf Rot. An der Haltelinie blieben sie als vorderstes Fahrzeug stehen. Die Fensterscheiben isolierten sie von der Umgebung.
Max holte seine Taschenuhr hervor und blinzelte gedankenverloren darauf. Er wusste zwar noch nicht wen, wie oder wann, aber er wusste, dass er wie eine Kobra zubeißen, vergiften und würgend verschlingen würde. Seine Wut wurde allmählich chronisch, wenn auch nach wie vor latent. Schock und Trauer überwogen noch, allerdings machten sie langsam Platz. Er stieß einen Schwall verbrauchter Luft aus und stierte durch die Seitenscheibe, wo ihm eine Mutter ins Auge stach, die mit einem okkupierten Kinderwagen ihrem anderen, autonomen Balg beim Kiesel vom Gehweg scharren zuschaute. Apathisch trommelte Max mit seinen Fingern einen polyrhythmischen Auftakt auf seinen Oberschenkeln und schielte zum Mutterglück.
Die Ampelphase zog sich. Nicht nur die Fußgängerüberwege querten hier die Kreuzung, auch die Bahnen des öffentlichen Personennahverkehrs schlängelten sich hier quietschend über die in den Asphalt gestanzten Schienen, während sie Vorfahrt genossen.
Walter unternahm einen letzten Anlauf. Polizeidirektor Gordon Godot hatte ihm aufgetragen, den Jungen Max Mayerz unter die Fittiche zu nehmen und zügig straßentauglich zu machen, obwohl Walter nicht gerade als Pädagoge punkten konnte.
»Wenn du Fragen hast, mein Junge, frag. Ansonsten schau zu und lerne.« Innerlich klopfte er sich für diesen guten Vorstoß auf die Schulter. Seines Erachtens hatte er damit für den Anfang genug Umsicht walten lassen.
»Ok«, erwiderte Max zweisilbig emotionslos, ohne seinen Blick vom Kinderwagen zu lösen.
Ein guter Konstabler muss kein guter Redner sein, dachte Walter bei sich. Es genüge, wenn er die richtigen Worte im richtigen Moment fände.
Rot erlosch und Grün blinkte. Der Polizeiwagen setzte sich in Bewegung und bog in die Kreuzung ein. Plötzlich raste eine Limousine quer über die Straße und erfasste den Polizeiwagen am Heck. Durch den Zusammenstoß geriet dieser ins Schlingern. Er rotierte mehrmals um die eigene Achse, sprang über die Bordsteinkante und krachte mit der Fahrerseite gegen einen Laternenpfahl. Das Verursacherfahrzeug rauschte derweil ungebremst mit einer total zerbeulten Front durch zwei große Schaufenster in einen Lebensmittelladen. Nach lautem Krawall kam es schließlich zum Stehen.
Als beide Fahrzeuge in den Ruhezustand übergegangen waren, verharrte die Szenerie. Auf der Straße tummelten sich Scherben und Karosserieteile wie mit einer Pfeffermühle verstreut. Menschen standen ringsum. Manche versuchten zu begreifen, andere wollten ihre voyeuristische Sensationslust sättigen.
Max hustete. Der Aufprall kam so überraschend, dass er sich an seinem eigenen Speichel verschluckt hatte. Leicht benommen versuchte er die Lage zu überblicken. Anscheinend war die Ölleitung gerissen. Die dampfenden Rauchschwaden aus dem völlig verbeulten Motorraum verrieten jedenfalls nichts Gutes. Glassplitter bedeckten ihn. Die Scheiben hatten dem Druck nicht standgehalten. Schnittwunden überzogen seine Hände. Er wollte gar nicht wissen, wie sein Gesicht aussah. Das Adrenalin übertünchte jegliches Schmerzempfinden. Seinen Kopf konnte er problemlos bewegen. Es fühlte sich sogar unglaublich frei an, als wäre ihm eine Last genommen worden. Ein Blick nach unten verriet ihm auch warum. Der Husarenhelm war von seinem Kopf gerutscht und lag im Fußraum. Neben Max keuchte Walter wie ein Greis im letzten Stadium.
»Verflucht«, knurrte er einem hungrigen Köter gleich. Eine Schimpfworttirade folgte und verwandelte sich in ein langes, gleichbleibendes Surren, das die Luft zum Vibrieren brachte.
Walter klopfte angepisst gegen das Blech der Fahrertür, was den Wortschwall unterbrach und auch Max wieder ins Diesseits zurückholte. So sehr Walter dieses Funkradio auch verabscheute, in diesem Moment hätte er es benötigt, um einen Notruf abzusetzen, denn zumindest er klemmte zwischen verformter Tür, Sitz und Lenkrad wie eine Sardine in der Büchse.
»Jetzt bist du an der Reihe, mein Junge. Ruf Verstärkung, sicher die Unfallstelle, kümmer dich um Verletzte und hol mich aus dieser verfluchten Kiste raus!«
Max besann sich, nickte, befreite sich von Glassplittern, die zum Glück nicht durch den dichtgewebten Uniformjackenrock gedrungen waren, und hievte sich umständlich aus der Schrottkiste, indem er durch das nun scheibenlose Fenster auf seiner Seite kletterte. Verwunderte Menschen standen um ihn herum. Wahrscheinlich fragten sie ihn auch nach seiner Konstitution, aber er vernahm lediglich dumpfe Töne. Er hatte sich zu schnell aus dem Wrack geschält. Sein Kreislauf insistierte. Trotzdem sah er die Limousine im Lebensmittelladen gegenüber deutlich. Wackelig machte er sich auf den Weg, den fürsorglichen Aufforderungen der Umstehenden zum Trotz. Nach ein paar Schritten fiel er auf den Boden. Mit zitternden Armen hielt er sich auf allen Vieren, den Blick gen Laden gerichtet.
Max erkannte, wie sich ein Mann auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig der Limousine näherte. Dieser Mann verhielt sich wie ein Fremdkörper. Während alle anderen Personen wirr umherliefen oder einfach nur starr an Ort und Stelle verweilten, marschierte dieser Herr schnurstracks und ohne Interesse für sein Umfeld auf das Trümmerfeld im Erdgeschoss zu. Ein hagerer, gut gekleideter Herr, in dessen Hand ein Messer herumwirbelte als wäre es ein Spielzeug.
Der einsetzende Regen spülte das Blut aus Max’ Gesicht und hinterließ ein Narbenfeld voller kleiner Glassplitter.
Walter konnte sich kaum bewegen. Das zerknirschte Auto machte es ihm unmöglich, sich eigenständig aus der misslichen Lage zu befreien. Selbst seinen auf halb acht hängenden Husarenhelm konnte er sich nicht richten, weil sein linker Arm bündig verkeilt war und sein rechter Arm zwischen Lenkrad und Bein irgendwie taub. Er glaubte, dass die Taubheit aus einem Bruch herrührte. Lediglich seinen Kopf konnte er leicht drehen, um das Schauspiel zu verfolgen.
Sein junger Kollege lag inzwischen auf der Straße, gestützt auf allen Vieren, die gegenüberliegende Straßenseite fest im Blick. Dort war erst einmal nichts Ungewöhnliches, bis auf die versteinerten Menschen und die dunkle Limousine, die die Front eines Lebensmittelladens demoliert hatte.
Plötzlich erkannte Walter warum Max die Augen nicht abwenden konnte: Samor Nimmersatt. Mit grazilen Bewegungen und verrückten Zuckungen von Gestik und Mimik hielt Samor auf den Unglücksort zu, so als würde er tanzen oder durch den Regen stolzieren. Vorbei an all den menschlichen Statuen, die sich unter ihre Regenschirme flüchteten. Walter wusste, dass unter dem schicken Anzug ein Abort der Gesellschaft verborgen war. Er wollte etwas rufen, aber ein Kapazitätsengpass im gequetschten Brustkorb und vom Glasstaub angeschlagene Stimmbänder produzierten nur einen heiseren, stillen Seufzer. Max musste gewarnt werden, er wusste aber noch nicht wie. Der Junge hatte vermutlich keine Ahnung, wer Samor Nimmersatt war.
Samor Nimmersatt, ein magersüchtiger Draufgänger mit hässlich grinsender Fratze, bildete mit seinem Bruder Namron Nimmersatt ein kongeniales Duo in Sachen Bestechung, Einschüchterung und Brausepulver. Wenn all das nicht half, wurden gröbere Methoden eingesetzt. Walter kannte die beiden aus Erzählungen in der Direktion. Er war froh, bisher von einem Kontakt verschont geblieben zu sein. Derart viel krimineller Energie konnte er nichts entgegensetzen, ohne seinen Kopf zu gefährden. Und das sollte sich heute auch nicht ändern, war er überzeugt. Die Trillerpfeife in seiner Brusttasche könnte die Lösung sein, um Max zu warnen. Er musste nur irgendwie daran kommen.
Währenddessen beobachtete er das Schauspiel aus der Entfernung. Es musste sich um Streitigkeiten im organisierten Milieu handeln und der Unfall war wahrscheinlich rein zufällig passiert. Solange die beiden Konstabler ihre Nase nicht in den Pfeffer tauchten, würden sie nicht niesen müssen.
Samor Nimmersatt befand sich mittlerweile vor dem Haufen Schrott aus Karosserieblechteilen, Kaki, Kiwi und Kumquats. Ein Fruchtfleischkonglomerat aus Äpfeln und Birnen vermischte sich hedonistisch mit einer Saftsymbiose aus Gurke und Tomate, was als rutschiges Schlachtfeld den Bereich vorm Lebensmittelladen säumte.
Vor Samors Füßen, die ekelhaft edel in penibel gepflegtes, braunes Krokodilleder geschnürt waren, kroch ein Mann ohne Geldsorgen aus dem Laden. Der maßgeschneiderte Anzug mit exquisiten Seidenapplikationen hatte durch den Unfall und den Obstgemüseschlamm viel an materiellem Wert verloren. Samor spuckte ein Lutschbonbon aus und zerbröselte es unter seiner Sohle vor den Augen des am Boden liegenden Mannes. Das Messer in Händen des Schlächters war gut versteckt in der Faust, weshalb niemand ein schreckliches Verbrechen vorherzusehen wagte.
Als Max im Streubesitz seiner mentalen Kräfte vorsichtshalber seinen Revolver aus dem Holster holte und die Trommel prüfte, die ihm sechs abschreckende Nattern in Bereitschaft zeigte, bückte sich Samor über das Opfer und trieb das latente Fleischermesser lateral in dessen Hals, um den Schnittkanal bilateral zu vollenden. Das Gekreische des Publikums, das sich keineswegs anmaßte das Spektakel zu stören, beeinflusste den Täter nicht. Seelenruhig reinigte er seine Tatwaffe am Hemdkragen des Toten, bevor er sich anschickte, den Tatort gelassen zu verlassen, stets mit einem schiefen Grinsen, das möglicherweise von einer auffällig genähten Narbe am Kiefer herrührte.
Der andauernde Kampf mit seinem geschwächten Körper raubte Max die Aufmerksamkeit. Krampfige Nackenschmerzen zwangen seinen Blick zu Boden, sodass es ihm entging, wie Samor sich ihm näherte.
Unvermittelt hörte er Walters Trillerpfeife trällern, doch einen Moment später wurde es schwarz.
Kurze Zeit später erwachte Max blinzelnd, neben sich einen Mann registrierend, der einen Tischtennisschläger locker in der Hand drehte. Auf der Schlagfläche befanden sich alte, längst eingetrocknete, dunkle Blutreste, die eine lange Geschichte dieses Sportgerätes erzählen könnten. Er ärgerte sich, dass er so leichtsinnig gewesen war. Das erinnerte ihn an die Geschichte vom verletzten Irbis, der den hungrigen Moschushirsch nicht bemerkte. Um sich der Tamariskenzweige zu bemächtigen, schaltete dieser den Irbis kaltblütig aus. Die Moral von der Geschichte: rieche, höre, sichte. Der Husarenhelm, der im Auto lag, hätte ihn vor Kopfschmerzen bewahrt.
»Du hast Glück, dass ich keinen Polizisten grundlos kaltmache«, raunte der unbekannte Mann mit ziemlich geschmacklosen Krokodillederschuhen. Er bückte sich zu Max, schnappte sich die Trillerpfeife und blies hinein. Dabei lachte er schrill und kratzig, sah sich um und nickte wie zur Bestätigung. »Wie es aussieht, wird keiner kommen, um dir zu helfen, Bastard.«
Ein unangenehmer Geruch nach schwerem Parfüm stieg Max in die Nase. Er kannte diesen Geruch und wagte einen Blick ins Gesicht des Frevlers. Bastard, wiederholte Max in Gedanken. Es machte Klick. Er sah seinem Peiniger direkt in die Augen. Samor Nimmersatt war der Mann, der ihn nun schon zweimal auf die Bretter geschickt hatte. Die frische Narbe am Kiefer des Mannes, die fachmännisch genäht worden war, triefte etwas.
Ein lauter Pfiff griff sich Samors Aufmerksamkeit. Max verfolgte Samors Blick zur geschrotteten Limousine in der zerstörten Schaufensterfront. Dort wartete ein fülliger Mann, der Samor zu sich winkte. Samor pustete genervt die Luft aus seinen Wangen und lies den Kopf traurig hängen.
»Ich habe leider keine Zeit mehr. Mein Bruder gönnt mir aber auch keinen Spaß«, sagte er sichtlich enttäuscht, den Tischtennisschläger auf einem Finger balancierend. »Wir sehen uns wieder!« Dann folgte er dem Ruf seines Bruders.
Benommen stemmte sich Max an einer Litfaßsäule hoch, vorbei an dem mehrfach angeschlagenen Aushang, der die Prohibition der Limonade proklamierte. Erst jetzt merkte er, dass seine Hand schmerzte. Sie krampfte sich um den Revolver. Er hatte ihn die ganze Zeit schussbereit parat gehabt, seine Physis aber nicht zum Tee geladen.
Mit wummerndem Schädel steuerte er den entblößten Kofferraum des Verursacherfahrzeuges an. Zerbrochene Flaschen hatten ihren süßen Inhalt spendabel verteilt. Einen Aufdruck suchte er vergebens. Dem leckeren Geruch nach zu urteilen, dürfte es sich um Limonade handeln, urteilte er mit der durstigen Zunge an der Oberlippe.
Als er sich umdrehte, um nach Walter zu sehen, detonierte eine pralle, glatzköpfige Panzerbeere, die an der Ladendecke zur Schau gestellt worden war, neben der Limolimo, und löste eine Kettenreaktion aus, die die gesamte Stafette an Hängefrüchten gen klebrigen Boden schickte. Kürbisschalenteile, beschleunigt von der Energie und getragen von der Detonationswelle, flogen wild umher. Endlich bewegten sich die schaulustigen Menschen und duckten sich verängstigt weg. Auch Max warf es bäuchlings von den Füßen, hauptsächlich vor Schreck. Umherschleudernde Kerne fragmentierten Einmachgläser, die daraufhin barsten. Eine Saftwalze züngelte aus dem Laden. Die Fruchtpräsenz befruchtete die Luft und erschuf ein urfarbiges, schmackhaftes Meer.
Aus dem Fahrzeughinterteil schleuderte es die Überreste einer zerbrochenen Limonadenflasche hinaus in die Welt, auf die Straße. Fliegende Zukost auf die Motorhaube, bugseitig nachgiebige Karosseriefederung und ein offener Kofferraum erwiesen sich als geeignetes Katapult. Dies markierte den Schlussakkord der Fruchtkanonade, die mit ein paar tatkräftigen Besen schnell beseitigt werden konnte.
Max war plakatiert mit Fallobst. Aus allen Ritzen tropfte matschiges Mus. Der naturgemäße Niederschlag hatte nachgelassen und half ihm nicht bei der Vorreinigung. Ein seitlicher Tritt gegen die Fahrertür ließ Walter vor Schmerz aufheulen, befreite ihn jedoch aus dessen Zwangslage. Auf eine Schramme mehr kam es nicht an. Die beiden Männer schauten sich verdutzt an.
»Was, zur Hölle, ist hier eben passiert?« Max reichte seinem Mentor eine Hand.
Walter hievte sich vorsichtig aus dem Sitz und nahm seinen Husarenhelm ab. Der Kinnriemen hatte sich in seinen Unterkiefer eingeschnitten. Ein fetter Striemen brandmarkte den Wachtmeister.
»Anscheinend nichts«, antwortete Max fassungslos auf seine eigene Frage.
Die Menschen begannen mit den Aufräumarbeiten als wäre nichts geschehen. Sie unterhielten sich, schäkerten und säuberten innerhalb weniger Minuten den Straßenzug. Selbst Leichnam nebst Vehikel waren nach ein paar Lidschlägen in einer Seitenstraße verschwunden. Holzbretter sicherten die zerstörten Schaufenster.
»Die Leute haben Angst.« Da nahm sich Walter nicht heraus. »Sie halten lieber den Mund und schauen unbeteiligt zu als unter die Räder zu kommen. Ein gesunder Selbsterhaltungstrieb.« Er schaute an Max herab, in dessen Hand er den Revolver erblickte. »Was hattest du damit vor? Wolltest du dich einmischen? Du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist. Kannst du damit überhaupt umgehen?«
»Zielen, abdrücken, fertig.« Max krümmte den Abzugfinger in der Luft.
Unbeeindruckt stützte Walter seinen rechten Arm mit schmerzverzerrtem Gesicht.