Читать книгу Der Agonist - David Goliath - Страница 22
Habe
ОглавлениеMit der Abenddämmerung betrat Max sein Zuhause und stolperte direkt über leere Flaschen. Aus Versehen kickte er sie quer durch das Erdgeschoss. Als ob das nicht genügte, pulsierten seine Glasnarben im Gesicht. Schweiß, Pfeffer, Dreck und Anstrengung taten den Schnitten nicht sonderlich gut. Als der klirrende Schall der umherschlitternden Flaschen verebbt war, suchte Max nach Lena. Der dunkle, karge Innenraum schien ihn einzuengen, über ihn hereinbrechen, ihn erdrücken zu wollen. Nirgends brannte eine Kerze. Nirgends gab es ein Lebenszeichen seiner Frau. Ihre Essenz war verflogen. Stattdessen beherrschte etwas anderes das Klima: die Ausdünstungen von Zuckerwasser.
Nachdem er das gesamte Haus auf den Kopf gestellt hatte, beschlich ihn die Erkenntnis, dass Lena fortgegangen war. Zuerst war er erleichtert, weil sie nicht den Suizid gewählt hatte. Doch dann schlug ihn etwas mit dem Hammer zu Boden.
Mitten in der Nacht schreckte Max hoch. Er lag in der Küche. Die Klamotten vom Tag hafteten noch an ihm. Seine Kehle war staubtrocken und einfach alles schmerzte. Er musste einige Stunden auf dem kalten Boden gelegen haben. Unterzuckert hievte er sich auf. Eine halbvolle Flasche mit der goldenen Blume auf dem Etikett lockte ihn an. In einem Zug schüttete er sich die Flüssigkeit in den Rachen und war abrupt voller Leben. Seine knopfgroßen Pupillen weiteten sich erquickt; sein Rücken stellte sich kerzengerade auf. Angefixt durchkämmte er den Nahbereich. Den Möhreneintopf vom Vortag ließ er links liegen. Jede Schranktür wurde aufgerissen, jede Schublade herausgezogen. Im Halbdunkel tastete er wie ein Maulwurf und versuchte nach dem flüssigen Gold zu schnuppern. Endlich entdeckte er im hintersten Winkel der Küche unter einem Tuch eine kleine Ansammlung in einer unscheinbaren Kiste. Gierig entnahm er eine Flasche und trank den Nektar. Rasch leerte er die zweite Flasche. Mit dem letzten Schluck sank er glücklich auf seinen Allerwertesten. Trotz des anstrengenden Tages und der niederschmetternden Erkenntnis fühlte er sich sorglos und voller Energie. Gedanken durchströmten ihn. Mit klarem Geist dachte er über diverse Szenarien nach.
Lena hatte seit dem Vorfall das Haus nicht mehr verlassen. Wieso sollte sie jetzt plötzlich einen Fuß vor die Tür setzen? Verwandte, zu denen sie gehen konnte, hatte sie nicht. Die Kindheit im Waisenhaus einte beide. Zum Einkaufen fehlte das Geld und der Möhreneintopf reichte noch zwei Tage. Vom Einkaufen wäre sie außerdem längst wiedergekehrt. Es sei denn, ein Unfall oder ein Verbrechen hinderten sie daran. Oder sie war Spazieren und ein Unfall oder ein Verbrechen hinderten sie daran, heimzukehren. Max musste die Gedankenjause kurz unterbrechen. Irgendwie endeten alle Szenarien mit Lenas Tod. Oder einer Entführung. Wer wollte sie entführen oder töten und warum? Möglicherweise, um zu vollenden, was begonnen wurde, überlegte er mit zugeschnürter Kehle. Lena war eine bildhübsche Frau, aber weshalb sollte es jemand auf sie abgesehen haben? Sie hatte weder Einblick in dubiose Machenschaften noch Einfluss. Sie war weder reich noch würde sie stehlen oder betrügen. Sie war anständig und ehrlich. Sie könnte einfach weggelaufen sein, weil sie es nicht mehr aushielt. Mit einem Anflug von Verzweiflung exte er die nächste Flasche.
Die geleerte Flasche besaß, wie auch die anderen zuvor, die Prägung der goldenen Blume, was ihn nicht verwunderte. Goldblume war der Renner. Süß, manchmal bitter oder krautig, spritzig und erfrischend. Seit der Limitierung blühte der Schwarzmarkt auf. Die Preise explodierten und findige Schmuggler verdienten sich eine goldene Nase mit der unstillbaren Sucht von Neu-Berlin. In schmalen Gassen munkelte man sogar, dass nicht die grassierende Tuberglukose das Verbot ausgelöst habe, sondern die Raffgier der mächtigen Unterweltbosse.
Der erneute Rausch endete jäh mit dem Absinken des Blutzuckerspiegels, zurück auf dem kalten, harten Küchenboden des einsamen Hauses in der Finsternis der Nacht. Er entschloss sich, Lena zu suchen. Sollte der Zuckeranteil weiter fallen, würde ihn die Verzweiflung antreiben.