Читать книгу Der Agonist - David Goliath - Страница 18
Haue
ОглавлениеMitten im Morgengrauen kam der grünmelierte Polizeiwagen vor einem alten Fabrikgelände quietschend zum Stehen. Das Überraschungsmoment war mit der Verlautbarung der Bremsen dahin. Ein kleines, von Unkraut umzingeltes Gebäude mit einem schwarzen Schornstein stand auf dem Gelände, daneben ein kleiner Holzverschlag mit nur einer Tür.
Max wurde aschfahl, Nessels chronische Blässe unterbietend. Er saß diesmal hinterm Steuer, da Walter neben ihm mit dem Gips am rechten Arm eingeschränkt war, zudem müde und offenkundig missmutig. Auf der hinteren Sitzreihe hatte Edegard Platz genommen. Wie ein kleiner Junge beugte sich dieser aufgeregt nach vorn und stützte sich an den vorderen Sitzen ab, mit einem breiten Grinsen.
»Das ist kein Lagerhaus«, stellte Max erschrocken fest. »Das ist eine Spinnerei!« Er zeigte auf das in diesigen Lichtverhältnissen kaum sichtbare Firmenschild: Teufels Zwirn.
Nessel winkte ab. »Apfel oder Birne. Fallobst. Was das ist, ist doch egal. Wichtig ist, dass da drin etwas ist, das nicht sein soll. Und wir sind hier, um zu konfiszieren und zu inhaftieren. Die Bezeichnung der Gebäude überlassen wir den Architekten und Stadtplanern.«
»Das ist Wahnsinn!«, nörgelte Walter.
»Das ist Polizeiarbeit, meine Herren«, entgegnete Nessel überheblich und sprang aus dem Automobil.
Max beschlich das Gefühl, dass die alte Arbeitsstätte seiner Frau mehr Geheimnisse in sich barg als es den Anschein hatte. »Sollen wir ihm folgen?«
Walter verneinte mit einem tiefen Brummen. »Lass ihn sich die Hörner abstoßen. Wenn es brenzlig wird, geben wir Rückendeckung.«
Nessel ging ein paar Schritte, blieb stehen und schaute zurück zum Fahrzeug. Die verweilenden Silhouetten der beiden Insassen stellten ihn zufrieden. Am Gebäude erwartete ihn eine dunkle Gestalt, entspannt gegen den brüchigen Mauerstein gelehnt.
»Wer bist du denn?«, fragte Nessel verdutzt.
Die Gestalt drehte den Kopf, ohne sich weiter zu bewegen. »Und wer bist du?«
Der saure Hauch eines Kaubonbons schlug Nessel entgegen. Auf komische Fragespielchen hatte er keine Lust.
»Ich muss mit Ludwig Lustig reden.«
»Und ich bin der König von Neu-Berlin.« Die Gestalt grinste süffisant. Eine lückenhafte Zahnreihe kam zum Vorschein.
Nessel holte seine Dienstmarke hervor und tippte mit den dünnen Fingern darauf. »Wir können es auf die harte oder auf die sanfte Tour machen.«
Jetzt stieß sich die Gestalt von der Mauer ab und bäumte sich vor dem Agenten auf. Nessel musste den Kopf in den Nacken legen, um Augenkontakt zu halten.
»Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.« Nessel musste husten, doch er konnte sein Tuch nicht schnell genug hervor holen. Ein Teil des schleimig blutigen Auswurfs landete auf dem Torso der Gestalt. Nessel bot das Tuch an.
Die Gestalt kreiste knackend mit dem Kopf, hob die Schultern und holte eine Waffe hervor.
»So, du Naseweis. Verpiss dich oder ich mach Brösel aus dir!«
Nessel musste konstatiert konsternieren, dass er unterlegen war. Die Physis der Gestalt war weitaus mächtiger. Er schluckte einen dicken Kloß herunter, um Paroli zu bieten.
»Haben Sie dafür einen Stempel in ihrer Waffenbesitzkarte sowie einen in ihrem Waffenmitnahmeschein?«, nickte er gezwungen beiläufig zur vielgeschossigen Waffe des breitschultrigen Mannes und plusterte sich wie ein balzender Hahn auf.
Ein unheimliches Knurren machte Nessel deutlich, dass es dafür nirgendwo einen Stempel gab. Trotz der Unterlegenheit wurde es ihm allmählich zu bunt. In einem Affenzahn schlug er der Gestalt mit der Faust in die Einbuchtung zwischen den Brustwarzen und die Sonne ging langsam auf. Röchelnd wich die Gestalt zurück, sank zu Boden und ließ die Waffe fallen. Nach vorn hechtend ergriff Nessel den Hals. Epinephrin durchströmte seinen schmächtigen Körper.
»Ich muss dringend mit Ludwig Lustig reden, verstanden?«
Die Gestalt nickte.
»Ist er hier?«
Die Gestalt schüttelte den Kopf.
Nessel beugte sich zum Ohr.
»Wenn du ihn siehst, sag ihm, dass Edegard Nessel hier war. Edegard Nessel. Ich lasse mich von niemandem verarschen! Wenn er mir nicht bald meinen Anteil gibt, werde ich ihm seine Gliedmaßen in alle vier Himmelsrichtungen herausreißen. Kannst du dir das merken?«
Die Gestalt nickte.
»Edegard Nessel. Mein Geld. Gliedmaßen herausreißen.«
Die Gestalt nickte schnell hintereinander.
Nessel blickte zuerst zum Holzverschlag, dann zur Spinnerei und anschließend in das rot angelaufene Gesicht des knienden Mannes vor ihm.
»Wieso wird das hier bewacht?«, fragte er sich selbst. »Sind die Kisten hier?«
Die Gestalt schüttelte den Kopf.
»Das Geld?«
Ein Zögern und eine flüchtige Pupillenbewegung zum Holzverschlag verrieten die Gestalt.
Nessel schaute zum Holzverschlag und lächelte. Mit geübtem Würgegriff schickte er den Wachmann ins Land der Träume, bevor er sich hinüber begab. Auf dem Weg zeigte er den ausgestreckten Daumen zum wartenden Fahrzeug. Alles in Ordnung, formten seine Lippen.
Obwohl Walter fast einschlief, hatte er stets ein Auge für Nessels grenzwertiges Vorgehen. Vorsichtshalber lag seine Bertha im Schoß. Die mechanische Sicherung hatte Walter bereits gelöst, damit er im Eifer eines möglichen Gefechts zügig reagieren konnte. Das Risiko, dass er sich aus Versehen die Eier tranchierte, nahm er billigend in Kauf. Mit eingegipstem Waffenarm blieb ihm nichts anderes übrig.
Die aufgehende Sonne blendete beide und machte es kompliziert, Edegard Nessel im Auge zu behalten.
Plötzlich ein Schuss.
»Verdammt!«, fluchte Walter und duckte sich hinter die B-Säule, um sich kurz darauf aus dem Auto zu schlängeln. Max tat es ihm gleich, auf der anderen Seite.
Nessel konnte den schlammigen Lehmboden schmecken. Sein Gesicht lag darauf. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in seinem Rücken aus und lähmte ihn. Er war nicht im Stande Arme oder Beine zu bewegen. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Lediglich ein paar Schritte war er vom mysteriösen Holzverschlag entfernt. Er bildete sich ein, dass er sein Geld schon riechen konnte. Dabei war das nur die Mischung aus seinem Blut, das ihm aus der Nase tropfte, weil er mit dem Gesicht voraus gen Boden gekracht war, und dem Morgentau, den die wenigen Grashalme darboten. Mit einem gepressten Stöhnen regulierte er seine stockende Atmung.
»Waffe runter!«, schrie Walter mit Bertha in der unsicheren linken Hand.
Es folgte ein Schusswechsel.
Die Gestalt hatte sich anscheinend sehr schnell erholt vom narkotischen Handgriff Nessels und schickte zuerst den Prohibitionsagenten auf die Erde, um dann das restliche Magazin der Waffe über die zwei anderen Polizisten hereinbrechen zu lassen. Die verschanzten sich mit ihren kleinkalibrigen Revolvern hinter dem Blechkostüm der Karosserie. Als das Magazin geleert war, rannte der Hüne leichtfüßig wie eine Gazelle in das Gebäude der Spinnerei.
Max nutzte die Feuerpause, um zu Nessel zu sprinten, ihn am Schlafittchen zu packen und durch den Dreck bis hinter das schützende Polizeifahrzeug zu schleifen, das bereits einige Druckstellen von den Gummigeschossen aufwies. Paralysiert empfing Nessel Walters Protest.
»Was fällt Ihnen ein? Sie verdammter Trottel! Sie unfähiger Amateur! Sie blassgesichtige Witzfigur! Wollen Sie uns alle zu Krüppel machen?«
Unvermittelt stand die Gestalt wieder im Hof. Diesmal jedoch mit einer metallischen Platte, einer Art Rüstung, über dem Körper. In der Hand eine futuristische Waffe mit dickem, kreisrundem Lauf. Feuerdämonen spuckten sodann schwarze Kugeln aus, fauchten und tauchten das Gelände in ein mannigfaltiges Fegefeuer aus feinen Stäuben.
Walter begann zu husten, zu würgen und zu niesen. »Was ist das denn schon wieder?«
Beißender Pfeffergeruch stieg Max in die Nase. Sofort kratzte es im Kolben. Instinktiv drehte er sich weg und schützte sein Gesicht mit dem dicken Stoff des grünen Polizeijackenrocks. Auch Nessel wurde der Schutz zuteil. Vor ihnen baute sich eine Nebelwand aus Pfeffer auf. Das entfernte Gelächter des Schlächters drang auf mystische Weise durch den Nebel hindurch, während ständig neue Kugeln zerplatzten und ihren nebulösen Inhalt verteilten.
Kurzerhand schnappte sich Max Bertha vom keuchenden Walter, kniff die Augen zusammen, hielt die Luft an, versiegelte die Lippen, zog den Kinnriemen fest und den Augenschirm des Husarenhelms tief ins Gesicht, suhlte sich infantil im dreckigen Untergrund, rollte sich durch die Gewürzwand hindurch und feuerte aus zwei Rohren sämtliche Geschosse in die vermeintliche Richtung des boshaften Lachens. Ein paar Geschosse prallten zwar am Metallpanzer ab, doch einige trafen ihr Ziel. Rücklings krachte der Hüne in den Schlamm. Mit tränenden Augen und Rotzfäden aus der Nase hastete Max durch die Pfefferwand auf den Metallmann zu.
Eine Kugel hatte diesen übel am Kopf erwischt. Ein fettes Hämatom glänzte in den Farben Violett und Grün. Eilig legte Max dem komatösen Übeltäter kaltgepressten Achterstahl an. Und der Nebel legte sich.
Mit Brunnenwasser wuschen sich die Polizisten die Pfefferreste ab. Walter schnupfte ungehemmt herum.
»Dieses Pfefferzeugs brauchen wir auch«, war Max überzeugt, obwohl seine Narben im Gesicht glühten. »Hat Ihr Büro sowas?« Er schaute zu Nessel.
Nessel war mittlerweile wieder mobil, hatte allerdings mit heftigen Rückenschmerzen zu kämpfen und bewegte sich deswegen etwas behäbig. »Nicht, dass ich wüsste.«
Die widerspenstige Gestalt lehnte desorientiert am Polizeiwagen mit den gefesselten Händen hinterm Rücken. Ein Fuß war nackt, der andere noch beschuht. Die fehlende Socke stak im Mund und verhinderte unerwünschte Kommentare.
»Sie müssen unbedingt Ihre Informanten überprüfen. Und Ihr Vorgehen sollten Sie auch überdenken«, mahnte Walter mit laufender Nase und geschwollenen Augen, sichtlich erschöpft. »Wie erklären wir das dem Direktor?«
Nessel inspizierte den verbeulten Wagen. Ansonsten gab es keine Kollateralschäden, abgesehen von den Gummigeschossen auf dem Fabrikgelände.
»Da es weder größere Personen- noch Sachschäden gibt, müssen wir gar nichts erklären. Das können wir getrost unter den Tisch kehren.«
»Wir haben nichts!«, schimpfte Walter. »Nur Schmerzen!«
»Wir haben einen Verdächtigen«, erwiderte Nessel zufrieden.
»Der uns nichts bringt, weil er nichts sagen wird.« Walters böser Blick galt allein dem BI-Agenten.
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Wachtmeister Wolfram. Wir vom BI haben da gewisse Verhörmethoden, die selbst den störrischsten Stier aus der Reserve locken.«
Walter beließ es dabei. Er wollte einfach nur zurück zum Revier und Max in Ruhe die Verfassung des Deutschen Reiches näher bringen. Außerdem juckte der eingegipste Arm. Ein heißes Bad wäre auch nicht schlecht.
»Werte Kollegen, sie können nach Hause fahren«, überging Nessel das heikle Thema. »Ich kümmere mich um alles Weitere. Schicken sie mir einfach einen Wagen, wenn sie auf dem Revier sind. Bis dahin unterhalte ich mich noch ein wenig mit unserer Beute.«
Ohne Einwand erhob sich Walter und stieg in das Polizeifahrzeug. Max hatte ebenfalls nichts dagegen, so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden.
»Sie wissen, was Sie tun«, verabschiedete sich Max lapidar vom Agenten und starrte noch einmal fasziniert auf den Metallpanzer, den die Gestalt trug. Er klopfte ein paar Mal mit dem Fuß dagegen. Einerseits, um die Materialstärke zu testen, andererseits, um der Gestalt zu signalisieren, dass sie sich vom Fahrzeug wegrobben musste, damit sie fahren konnten. Kurzerhand und kurzentschlossen nahm Max der Gestalt das Rüstungsteil ohne Gegenwehr ab. »Können wir wenigstens das hier beschlagnahmen?«, fragte er in Nessels Richtung.
Dieser nickte desinteressiert. »Legen Sie es beiseite. Ich nehme es dann mit und mache die Beweismitteldokumentation.«
Sichtlich befriedigt ließ Max das Teil zurück und stieg fahrerseitig ins Automobil.
Mit dem Verschwinden der Polizisten widmete sich Nessel ungestört dem Holzverschlag. Noch war kein weiterer Mensch auf dem Fabrikgelände erschienen, weshalb er sich alle Zeit der Welt lassen konnte. Das allmählich wiederkehrende volle Bewusstsein des Hünen verfolgte Nessels Schritte verärgert.
Mit einem gewaltigen Fußtritt verschaffte sich der Agent Zutritt zum Holzverschlag. Muffige Luft und Staubpartikel begrüßten ihn. Zielstrebig wanderte er in die Mitte des Raumes, wo sich ein eingetrockneter, dunkelroter Blutfleck befand, der ihn aber nicht weiter störte, und drückte mit dem Fuß auf ein Ende einer knarrenden Holzbohle, bis sich ein Spalt abzeichnete, den er nutzte, um die Bohle mit der Hand anzuheben. Darunter lag bündelweise Geld und ein goldenes Garn. Verwundert stellte er fest, dass das Garn eine unsaubere, aufgedröselte Risskante aufwies, aber die Scheine lenkten ihn sogleich wieder ab.
»Ludwig, du verdammter Mistkerl! Wie hast du das alles so schnell verkaufen können?«, raunte er und steckte sich den Großteil des Geldes unter sein aufgeknöpftes Hemd in sein Unterhemd. Das Grinsen wurde dabei stets breiter. Einen Teil ließ er zurück.
»Für deine Mühen.«
Als er zurück ins Sonnenlicht trat, fuhr ein Wagen davon. Er wollte schon losrennen, weil er dachte, es wäre sein Taxi, aber dann entdeckte er zwei Männer darin, die ihn merkwürdig anfunkelten und mit Blicken durchlöcherten. Zumindest den Beifahrer konnte er schemenhaft an der charakteristischen Hakennase erkennen. Auch der Proportionsunterschied zwischen dem dünnen Fahrer und dem korpulenten Beifahrer entging ihm nicht. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Die festgenommene Gestalt fehlte. Allein der Körperpanzer funkelte in der Morgensonne. Er schaute dem Wagen ungläubig hinterher.
»Scheiße!«