Читать книгу Gene des Lichts - Day An - Страница 10
Letzter Ausweg
ОглавлениеDas Lämpchen an einem der Tische leuchtete auf, kaum feststellbares Summen war zu hören. Herr Yi drückte auf einen versteckten Knopf am Tisch neben ihm, das pulsierende Lichtchen erlosch, Alarmsummen verstummte, worauf die Tür zum Arbeitsraum aufging und ein ziemlich aufgeregter junger Mann erschien. Er blieb vor den sitzenden Herren stehen, verbeugte und entschuldigte sich mehrmals für die Störung, beugte sich zum Herrn Yi und wollte gerade etwas sagen. Herr Yi winkte ihn mit der Hand ab, sein Gesicht wurde krebsrot.
»Es gibt keinen Grund vor dem Gast der Familie zu flüstern! Das hat und wird es nie geben. Das ist eine Beleidigung, du Tölpel!«, sagte Herr Yi vorwurfsvoll.
Der junge Mann war offensichtlich beschämt und antwortete sofort mit lauter Stimme:
»Ein Besucher bittet um Empfang, er sagte, er wäre ein Vertreter der chinesischen Regierung. Er möchte unseren Gast sprechen. Wir halten ihn unten an der Information fest.«
Herr Yi überlegte kurz, stand auf und befahl:
»Niemand weiß über unseren Gast Bescheid. Startet den Hubschrauber, gibt Alarm. Niemand darf das Haus betreten, keiner darf es verlassen. Niemand.« Herr Yi wandte sich seinem Gast zu: »Herr Moureu, gehen wir nach oben zum Hubschrauber. Wir fliegen Sie sofort aus, auf das Boot, zum Flughafen, wo auch immer Sie wollen.«
Moureu saß still, überlegte, fragte schließlich den jungen Mann:
»Wer ist der Besucher?«
Der junge Mann reichte Moureu ein Bündel Papiere, Brieftasche und ein Handy, gab als Antwort:
»Diese Sachen gehören ihm.«
Moureu nahm die Sachen an sich und durchsuchte den Inhalt der Brieftasche, fand diverse Ausweise, einen Diplomatenpass, durchblätterte alle Papiere, nahm sich das Handy vor. Zuerst schaute er sich die gespeicherten Nummern an, dann wen der Besucher alles angerufen hatte, von wem er angerufen wurde. Bei einer Nummer blieb er stehen und machte das Handy aus. Offensichtlich zufrieden mit der Untersuchung, sagte er etwas entspannter zum Herrn Yi:
»Wir müssen nicht unbedingt sofort weg, lassen Sie bitte zuerst den Besucher herein. Hören wir uns an was er zu sagen hat, dann wissen wir mehr. Hubschrauber soll trotzdem startbereit bleiben. Geben sie Großalarm, so wie Herr Yi eben befahl.«
Herr Yi nickte dem jungen Mann zu, worauf dieser schnellen Schrittes den Raum verließ. Die Herren gingen wortlos in den Raum nebenan. Dieser Raum war nur für unliebsame Besucher gedacht, ohne Fenster, mit gefliestem Boden, Wänden aus Spiegeln und mit billigen Gemälden behangen. Die Möbel waren stabil und schwer. Einige Minuten später betraten mehrere Männer den Raum, zwischen ihnen war der Besucher. Auf Herrn Yis Kopfnicken verließen die Begleiter den Raum, der Besucher blieb Mitte im Raum stehen. Es war ein Chinese, älter als sechzig, mittelgroß und von sehr kräftiger Statur. Er wirkte und bewegte sich wie ein Ringer, was er bestimmt auch war. Sein Anzug schien neu zu sein, von einfacher Qualität, passte nicht zu seiner Figur, als ob er ihn gerade auf gut Glück gekauft hatte. Offensichtlich kam er nicht aus der neuen Oberschicht, legte jedoch Wert auf korrekte Erscheinung. Die Männer des Herrn Yi waren nicht zimperlich bei seiner Durchsuchung gewesen, wodurch das Hemd und die Krawatte zusätzlich gelitten hatten.
Moureu schaute Herrn Yi an, unter sich brauchten sie keine Worte, sie verständigten sich mit ihren Blicken. Moureu fragte den Besucher:
»Wer sind sie? Was wollen Sie von mir?«
Ohne seinen Kopf oder die Augen zu bewegen, schaute sich der Besucher im Raum um. Er registrierte alles. Sollte er ein falsches Wort sagen, eine falsche Bewegung machen, dann wird er den Raum lebendig nie mehr verlassen. Hinter den Spiegeln waren mehrere Waffen auf ihn gerichtet. Im Gegensatz zu den anderen Räumen welche er eben gesehen hatte, war der Boden gefliest, keine Fenster, es war ein Hinrichtungsraum. Der Mann atmete langsam ein und sagte steif:
»Ich heiße Yuan Chi, bin Vertreter der Regierung der Volksrepublik China. Ich bin hier, um … Ihnen und Ihrem Gast unsere Grüße und Wertschätzung zu übermitteln.«
»Was ist ihr Rang, Herr Chi?« Moureu behielt die Höflichkeit bei, obwohl die Angelegenheit sehr undurchsichtig war.
»General der Armee der Volksrepublik Chinas, Mitglied des Generalstabs, und … mehr. Es bedürfte viel Ihrer kostbaren Zeit, um alles aufzulisten«, antwortete General Chi. Seiner Haltung war tatsächlich zu entnehmen, dass er ein Soldat sei. Seine Haltung war beispielhaft stramm.
»Woher wissen sie, dass ich hier bin?« Moureus Stimme wurde schärfer.
»Wir haben seit zwei Tagen vergeblich versucht sie zu kontaktieren, suchen sie gezielt seit gestern. Familie Yi war einer der Anlaufpunkte. Wir haben von den Bestellungen und Vorbereitungen erfahren. Familie Yi hat eine besondere Feier, das war uns bekannt. Wir hofften, dass sie der Gast sein würden.«
»Ich kenne sie nicht, General Chi. Wer hat sie geschickt, wer ist das: Wir?«
»Die drittletzte Telefonnummer von welcher ich angerufen wurde. Sie ist in meinem Handy gespeichert. Das sind wir«, antwortete der General angespannt.
Moureu hatte die Nummern bereits gesehen und wusste, wer damit gemeint war. Nur deswegen hatte er dem Besucher den Zugang gewährt.
»General Chi, wird die Familie Yi weiterhin beschattet?« Moureu musste nun schnell entscheiden wie er vorgehen wird.
»Nicht meh, seit sie das Haus betreten haben. Wir waren uns nicht sicher ob Sie es sind, haben es aber gehofft. Alle sind bereits abgezogen«, antwortete der General.
»Ich wäre sehr verstimmt, falls meine Freunde, Familie Yi, weiter belästigt werden. Ich wäre sehr, sehr, unglücklich«, sagte Moureu leise. Seine Ansage war eine eindeutige Warnung, sogar mehr als das, eine klare Drohung. Der General hatte den Sinn verstanden, daher versuchte er seine Worte vorsichtig zu wählen.
»Ich kann Ihnen vor Scham nicht in die Augen schauen, es war nicht unsere Absicht Sie zu verstimmen. Die Angelegenheit ist äußerst dringend, sonst hätten wir es nie gewagt etwas Derartiges zu tun. Es geht um Leben und Tod. Ich soll Ihnen ausrichten: Der Fluss fließt rückwärts bis zur Gabelung, der Bambus wurde gefällt.« General Chi atmete ein- und aus, fügte hinzu, »das war die Botschaft.«
Moureu verstand die codierten Sätze. Es war keine gute Botschaft, aber keine dringende Botschaft von Leben und Tod, daher befragte er den General Chi weiter.
»Und die wahre Botschaft vom Leben und Tod?«
»Wir haben eine Seele für sie«, sprach der General Chi trocken aus.
»Was soll ich mit einer Seele? Als ob ich ein Priester wäre. Ha!« Moureus Stimme klang belustigt, obwohl sein Gesicht scharfe Züge annahm. Etwas stimmte nicht, bahnte sich an. Er wandte sich vom General Chi ab, sah Herrn Yi an und überlegte. In merkbar verärgertem Ton sagte er:
»Ich denke, General Chi, leider haben Sie Ihre wertvolle Zeit verschwendet. Danke für Ihre Bemühungen und die Nachrichten. Ich werde das Land der Väter so bald wie möglich besuchen. Bald. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise.« Damit war für Moureu das Gespräch abgeschlossen. Etwas stimmte nicht!
»Onkel Wu suchen immer nach einer reinen Seele!«, sagte plötzlich General Chi.
Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit glitt Moureu durch den Raum und schlug den General mit offener Handfläche in die Brust, dieser flog mehrere Meter weit, knallte gegen die Wand und fiel auf den Boden. Jedoch, es war bereits zu spät, der General hatte etwas ausgesprochen was er besser nicht hätte sagen sollen. Moureu blieb vor dem General stehen und war kurz davor ihn mit dem nächsten Schlag umzubringen. Er hätte es tun können, ließ es sein, etwas hinderte ihn daran. In der Botschaft des Generals war mehr enthalten, er hatte es nur übersehen. Moureu überlegte schnell und entfernte sich vorsichtshalber einige Meter vom General, um der Versuchung nicht zu verfallen seine vorherige Absicht zu vollenden. Was der General sagte bedeutete, dass er einer der Wenigen war welche die Wahrheit wussten. Oder, wenigstens etwas darüber. Er war einer der offiziell Eingeweihten, dürfte persönlich also keine Gefahr darstellen. Er hat aber einen unverzeihlichen Fehler gemacht, dachte Moureu weiter, einen tödlichen Fehler. Der General hat bestimmt auf eigene Faust gehandelt, als er die Familie Yi bespitzelte. Es gab keinen offiziellen Grund dafür. Was der General nicht wusste, Beijing hätte ihn innerhalb weniger Minuten kontaktieren können. Für Moureu stand fest, der General hatte ein persönliches Interesse daran ihn zu finden. Er umging den offiziellen Weg, also dürfte niemand erfahren, dass er mit seinem Anliegen hier bei den Yi war. Es ist keine Falle. Wenn es eine wäre, dann hätten sie es nicht so unprofessionell angestellt, wie der General Chi eben vorging. Moureu sah sie, als der General den Raum betrat. Die Aura des Generals war gut, sehr gut. Eigentlich, zu gut.
Der Fehler des Generals Chi zeigte bereits seine Wirkung. Hinter den Spiegeln hörte man die aufgeregten Stimmen, in der Festung kamen Schreie auf. Moureu drehte sich zum Herrn Yi, dieser hatte die Aufruhr selbst vernommen, ließ sich in einen Sessel fallen und rang schwer nach Luft.
»Stehen Sie auf!«, befahl Moureu mit resoluter Stimme dem General und zeigte auf einen der Sessel. »Nehmen Sie Platz.«
Der General Chi tat wie ihm befohlen. Er schaute nur noch zum Boden, wie ein Kind welches bei etwas Unerlaubtem ertappt wurde.
»Wissen Sie eigentlich, was Sie gerade getan haben, Narr?«, fragte ihn Moureu verärgert.
»Ich dachte, Familie Yi und Herr Yi wissen das«, antwortete der General zaghaft, »dass sie nicht eingeweiht wurden wusste ich nicht. Es wurde mir nicht gesagt. Ich dachte wirklich, Familie Yi wäre Ihre Familie!«
»Familie Yi IST meine Familie, aber nicht alle wissen alles. Was für eine Seele ist das?« Der General hat einen Volltreffer gelandet, die Freunde aus Beijing haben ihm den richtigen Code gegeben. Leider hat ihn der General am falschen Ort und zur falschen Zeit ausgesprochen.
Herr Yi fing an laut vor sich hin zu beten, stand langsam auf, verbeugte sich vor Moureu, murmelte etwas wie: Tag der Wahrheit …, ging schwerfällig aus dem Raum, machte sehr behutsam und vorsichtig die Tür hinter sich zu. Jetzt werden es alle erfahren, stellte Herr Yi fest. Nein, sie wussten es bereits. Der Tag ist endlich gekommen.
Ohne Luft zu holen, fing der General sofort an wie ein Wasserfall zu reden, sein Begehren zu verbreiten.
»Es geht um eine Frau, sechsunddreißig Jahre alt. Sie hat die allerbeste Militärausbildung, Studium der Geschichte und der Philosophie, spricht ausgezeichnet Englisch, Deutsch, versteht Russisch, Französisch und Italienisch. Ihr Leben ist in höchster Gefahr, deswegen dürfte ich den üblichen Weg nicht gehen, niemand dürfte etwas erfahren. Unser Freund hat mir angeraten Sie persönlich zu suchen, zu finden. Ich soll Ihnen sagen: Sie ist keine für den Verzicht! Sie wäre das was sie suchen, sie ist …«
»Keine für den Verzicht, keine … für den Verzicht … also … eine … Tote«, wiederholte Moureu nachdenklich und leise für sich. Der General wusste bestimmt nicht was diese Worte bedeuteten, aber derjenige, welcher dem General diesen Satz mitteilte, der wusste es genau. Extrem bedeutende Worte. »Sie ist ihre Tochter, nicht wahr, General Chi?« Die Hingabe mit welcher der General sprach führte Moureu auf die richtige Spur.
»Ja«, antwortete dieser beschämt.
»Was hat Sie getan, dass ihr Leben in Gefahr sei, dass das Große Land, oder sie selbst, sie nicht schützen können?« Moureus Jagdinstinkt wurde geweckt.
»Sie war bei einer Delegation einem der hochrangigen Industriellen als Personenschutz zugeteilt. Eigentlich, sollte sie ihn beschatten. Wir vermuteten, dass dieser Mann Geschäfte zum Nachteil für China machte, was sich im Nachhinein bewahrheitete. Er wusste nur, dass sie eine Dolmetscherin war. Die Delegation flog in die USA. Im Hotel ist der Mann über sie hergefallen, dachte wahrscheinlich, solcher Service wäre inklusive. Vorher hatte er sie mit einem Mittel betäubt. Sie hat sich trotzdem gewehrt, ihm einen Arm und ein Bein gebrochen, ebenso die Hand. Auch eine Niere musste raus, ein Ohr fehlt ihm. Ich denke, sie hat es ihm abgebissen. Dann kamen die anderen Begleiter in den Raum, sie hatten die Schreie gehört. Sie dachten, dass sie ihn einfach so umbringen wolle. Mit bloßen Händen hatte sie drei umgebracht, zwei weitere schwer verletz, obwohl sie betäubt war. Sie hatte sich nur gewehrt. Dann ist sie in die Botschaft geflohen. Von da haben wir sie nach Hause gebracht. Das war vor sechs Tagen. Der Mann ist in den USA verblieben, wir können über ihn nicht mehr richten. Seine Familie ist jetzt hinter meiner Tochter her, ein Millionenkopfgeld wurde ausgerufen. Die Mitglieder der Abteilung sind verärgert, sie wollen sie tot sehen, wissen nichts über ihre Identität und Aufgaben. Ihre eigenen Freunde wollen sie tot sehen, die Freunde der Toten wollen sie tot sehen.«
Die Wut war dem General deutlich anzusehen. Dieser Mann war kein Diplomat, kein Schauspieler, er war ein echter Soldat. Alles war echt.
»Haben Sie keine andere Lösung?« Moureu war bereits klar, die Lage der jungen Frau war sehr bedrohlich, besonders wegen des Kopfgeldes.
»Ich kann die Familie des Mannes unter irgendeinem Vorwand verhaften lassen, aber das wird herauskommen. Ich kann die Offiziere und Mitglieder der Abteilung versetzen, sogar alle umbringen lassen. Irgendwann wird auch das bekannt werden. Es sind sehr viele Feinde, zu viele. Das Kopfgeld wird bleiben.« General Chi zögerte. »Ich habe noch nie so etwas getan. Ich kann das nicht, so nicht. Auch wenn ich alle auslöschen ließe, wird sich wenig ändern. Meine Familie wird eines Tages doch bestraft werden. Ich würde meiner Familie nur Schande bringen und unsere Seelen belasten. Wenn sie uns nicht helfen können, dann … werde ich es tun.«
»Weiß sie, was sie erwartet, falls … wir ihre Seele nehmen?« Moureus Stimme wurde leiser und sanfter.
»Nein. Niemand weiß … was dann passiert. Aber … ich denke, sie wird es für uns tun, für Ihre Familie. Sie ist unser einziges Kind. Sie werden auf sie aufpassen, sie beschützen … und … und … sie wird bei Ihnen sein. Unser Freund meinte, ich müsse sie unverzüglich kontaktieren, berichten, denn, meine Tochter wäre … was ich vorher sagte«, antwortete der General leise.
»Das reicht mir nicht aus, ich will ihre Unterlagen. Ich will sie persönlich sehen«, sagte Moureu. »Wo ist sie?«
»Sie wartet im Auto, im Parkhaus, zwei Häuser von hier entfernt«, antwortete der General sofort.
»Holen Sie ihre Tochter. Jetzt«, sagte Moureu, ging zum Tisch, nahm das Handy des Generals und reichte es ihm. Der General ergriff krampfhaft das Handy, schaltete es ein und wählte, sagte einige Sätze, legte sofort auf.
»Sie kommt«, sagte der General leise.
»Gut. Warten Sie bitte hier«, erwiderte Moureu und verließ dem Raum.
Im nächsten Raum war niemand, auch alle anderen Räume waren leer. Die ganze Etage war leer. Moureu sah überall frisch angezündete Duftstäbchen. Er lief zur Treppe und begab sich nach unten.
Die Familie Yi war an der Treppe und in dem angrenzenden Raum versammelt. Nach Moureus Ankunft hatten sie sich inzwischen umgezogen und trugen jetzt ihre festliche Bekleidung. Alle waren auf ihren Knien und sangen ein uraltes Gebetslied. Die Greise versuchten mühsam ihr Gleichgewicht zu halten, sogar die Babys lagen neben ihren Müttern auf dem Boden. Als Moureu auf der Treppe erschien senkten sie ihre Köpfe zum Boden und verstummten. Niemand traute sich ihn anzuschauen, nur die Babys waren zu hören. Alle kannten Moureu, manche sogar seit ihrer Geburt, aber außer dem Herrn Yi hat es bis jetzt niemand gewusst. Moureu war ein Onkel Wu. Die Familie war im Bann der Wu. Das war ein Segen für die Familie, das unvorstellbare Glück, denn ein Wu war der Familie wohlgesonnen.
Herr Yi kniete am Treppenabsatz und sah Moureus Schuhe direkt vor seinem Kopf. Seine Familie wurde tatsächlich von den Geistern gerettet, das erfuhr er bereits von seinem sterbenden Vater. Die Legenden vom Onkel Wu waren so alt wie das chinesische Volk. Nein, sie waren noch viel älter. Diese Legenden waren nicht weit verbreitet. Nicht, dass sie unbedeutend waren, sie waren einfach nur einige der vielen Legenden, welche schon vor Jahrhunderten in Vergessenheit gerieten. Herr Yi kannte alle diese Geschichten auswendig, so wie seine Familie.
Wu waren Krieger, Philosophen, Lehrer, Retter in größter Not, Beschützer des Volkes. Sie verfügten über übermenschliche Kräfte und konnten in die Zukunft sehen. Sie wussten alles, sprachen mit den Geistern der Ahnen. Wu waren unsterblich, manche sagten, es wären von Geistern besessene Menschen, andere hielten sie für die Kinder der Geister. Andere wiederum meinten, sie wären Dämonen. Es gab viele Menschen, welche den Wu huldigten. Viele erzählten, ein Wu hätte sie dann und dann, vor diesem oder jenem gerettet. Wie viele Wu es tatsächlich gab, oder gibt, das wusste niemand, jedenfalls, es gab mehrere. Es soll jedoch immer weniger Wu geben, dafür wurden diese mächtiger. Mehr ging dem Herrn Yi im Moment nicht durch den Kopf, er konnte sich nicht an alles erinnern, er war zu aufgeregt, zu alt.
Herr Moureu blieb auf der untersten Stufe stehen und sprach mit singender Stimme:
»Geehrte Familie Yi, Ihr solltet vor niemandem knien. Steht jetzt auf. Wollten wir heute nicht feiern? Wollt ihr einen Gast so stehen lassen, ohne dass er etwas zu Essen und Trinken, und nicht einmal einen Stuhl zum Hinsetzen bekommt?«
Die Menschen zögerten, erst als Herr Yi langsam aufstand, traute sich einer nach dem anderen ebenfalls aufzustehen. Jedoch, niemand erlaubte sich Moureu anzuschauen.
»Das Essen, das Essen!« Herr Yi war aufgeregt und rief laut durch den Raum. »Unser Gast hat bestimmt großen Appetit!«
Das Eis war gebrochen. Die Menschenmenge löste sich im Nu auf, flüchteten regelrecht. Nur Herr Yi mit einigen jungen Männern blieb vor Moureu stehen.
»Und der Besucher, Onkel Wu, was wünscht Ihr im Bezug auf seine Person?« Herr Yi war wieder der Herr seiner Sinne, wusste, nun musste mit dem Besucher etwas geschehen.
»Nennt mich bitte nie mehr so, mein Freund. Nie. Keiner nennt mich mehr so. Ich bin der, den ihr kennt: Moureu«, sagte Moureu trocken. »Lasst den Besucher dort warten wo er jetzt ist. Er brauchte Zeit, um nachzudenken. Gleich wird eine Frau kommen, kann man sie bitte zu mir bringen? Seien sie bitte höflich zu ihr, besonders höflich. Keine körperliche Durchsuchung, bitte. Wenn sie kommt, nicht anfassen. Fasst sie nicht an! Können wir noch mal in ihren Arbeitsraum, Herr Yi?«
Herr Yi winkte mit dem Arm nach oben und sagte:
»Ja, ja, sie wird gebracht, wird so gemacht. Gehen wir nach oben, danach müssen Sie aber mit uns essen!«
Herr Yi und Moureu liefen langsam die Treppe nach oben, Herr Yi versuchte hinter Moureu zu laufen. Sie kannten sich schon seit einer Ewigkeit, aber jetzt war es offiziell. Es wäre beleidigend vor einem Wu zu laufen und ihm die Sicht in die Zukunft zu versperren.