Читать книгу Gene des Lichts - Day An - Страница 14
Letzter Tag
ОглавлениеNach fünfzehn Minuten entschied er sich doch aufzustehen. Den Zeigefinger und Kleinfinger der linken Hand könnte er nicht bewegen, die Gelenke waren geschwollen. Zoran hielt die Hand nach oben, so als ob sie gebrochen wäre. Der Hals und der Nacken taten ihm weh, alles tat ihm weh. Langsam schlich er Richtung Küche, blieb im Flur am riesigen alten Biedermeier Spiegel stehen und schaute sich seinen nackten Körper an. Er war sechsundvierzig Jahre alt, sah im Gesicht wie ein Fünfunddreißigjähriger aus, sein Körper war eines durchtrainierten Dreißigjährigen. Er war eins siebenundsiebzig groß, schlank, wog nur noch …, kein Gramm Fett, nur Unsinn im Kopf. Zu wenig, viel zu wenig, dachte er, ich muss mehr essen. Wenigstens waren die Narben kaum noch zu sehen, vor allem jene im Gesicht. Zoran streckte seinen Körper, verbesserte so lange die Haltung, bis er endlich zufrieden war. Er wollte nur ordentlich und aufrecht stehen, die Wirbelsäule entlasten, mehr nicht.
»Für einen Toten siehst du noch recht brauchbar aus!«, sagte Zoran zu sich selbst.
»Ist doch sowieso egal, wie du aussiehst. Geh mir aus den Augen, du nervst!«, sagte er laut zu seinem Spiegelbild.
Zoran zündete die erste Zigarette des Tages an. Auf dem Weg in die Küche drückte er, an der Tür zum Wohnzimmer, auf den Knopf der Rollladensteuerung. Die Pflanzen brauchten Licht. Zoran machte sich einen doppelten Espresso, zündete bereits die zweite Zigarette an und ging mit versteiftem Gang, mit der Tasse und der Zigarette in den Händen ins Wohnzimmer. Das Wohnzimmer glich einem Museum. Das ganze Haus war ein Museum. Zoran setzte sich in einen der Louis-Philippe Sessel hin, lehnte sich vorsichtig nach hinten, genoss die Zigarette und den Espresso. Neben ihm auf dem kleinen Nähtisch war ein Aschenbecher, die Espressotasse behielte er schützend in der Hand. Sein Lebenselixier, er wird sich gleich noch einen zubereiten.
Seine Albträume waren wieder da, viel stärkere als sonst. Er hat extrem schlecht geschlafen, geträumt bei einer Beerdigung gewesen zu sein, wessen, das wusste er nicht mehr. Er konnte den Namen auf den Blumenschleifen nicht lesen, irgendjemand mit Z, und so weiter. Vielleicht ein Zombie? Er schmunzelte bei diesem Gedanken. Zoran wusste es, seine Träume waren in letzter Zeit nicht gut. Nicht deswegen, weil es Albträume waren, sondern weil sie in irgendeiner Weise immer zutrafen. Kann es sein Name gewesen sein? Der Blitz schlägt nicht in die Brennesel, meinte er zu wissen. Sein Name war es nicht, darüber brauchte er sich also keine Gedanken zu machen. Und wenn es so gewesen wäre, dann nicht jetzt. Dafür gab es genug Gelegenheiten, jetzt nicht. Es war ihm auch egal. Ein Vers seines Großvaters ging ihm durch den Kopf:
»Ich muss unerkannt bleiben, wie alle bisher, es ist ihre Zeit, die Zeit der Seher.«
Der Großvater wiederholte ständig irgendwelche Verse, bis Zoran diese eines Tages auswendig kannte. Großvater erklärte ihm nie von wem, oder woher sie stammten. Er lehrte ihn viel, brachte ihm alles Mögliche bei. Sogar Kämpfen. Zoran dachte jeden Tag an ihn, schloss ihn in seine Gebete ein, besonders wenn er kämpfte, oder das tat … was er für seinen Kampf betrachtete.
Im Traum war aber noch etwas. Zoran versuchte sich zu erinnern, zwang sich den Traum aus dem Dunkeln des Vergessens ans Tageslicht herauszuholen. Im Nebel der Träume sah er einen Drachen. Einen wunderschönen Drachen, mit goldenen Schuppen. Der Drache sprühte sein Feuer nach allen Seiten, nur nicht in seiner Richtung. Zu ihm kam nur eine angenehme Wärme und der Duft der Rosen an. Nein, keine Rosen, das war der Duft der Liebe. Gibt es überhaupt einen Duft der Liebe? Er wusste keine Antwort darauf. Zoran versuchte seine Gedanken nachzuvollziehen. Zuerst Espresso, dann denken …
Der Drache flog um ihn herum, verbreitete sein vernichtendes Feuer, breitete die Flügel um ihn herum, so, als ob er ihn umarmen, ihn beschützen wollte. Zoran sah es, der Drache hatte eine tiefe Wunde, da wo sein Herz sein sollte. Die Wunde blutete, Zoran legte seine Hände auf die Wunde, diese verschloss sich. Der Drache ließ vom Zoran los, beugte seinen gewaltigen Kopf zu seinem Gesicht nieder. Zoran schaute in zwei grünste Augen die er sich je vorstellen konnte. Das Grüne …
Nächstes in seinem Traum war, zwei glühende Drachen in absoluter Dunkelheit. Der erste Drache strahlte goldige, der Zweite die roten Farbtöne aus. Sie flogen in vollkommener Harmonie gegen den Himmel. Zoran erschauderte, es wurde ihm kalt. Da war der Traum weg. Zoran lachte laut und zog an seiner Zigarette.
»Danke. Nun bin ich endgültig verrückt«, sagte er laut zu sich, »gut, dass mich bis jetzt niemand weggesperrt hat.« Beim verstellten Lachen verzog er nicht eine Miene. Sein Gesicht war schon seit Jahren gelähmt. Auch wenn er wollte, er konnte sein Gesicht nicht verziehen. Das war ihm auch vollkommen egal, warum sollte er das Gesicht verziehen? Wen sollte er noch anlachen? Es gab für ihn nichts mehr zu lachen, das war seine Meinung. Er war nicht zum Lachen da. Seine Bestimmung war eine andere.
Zoran schaute sich im Raum um, überall sah er alte und kostbare Gegenstände, Antiquitäten. Louis-Philippe und Biedermeier Möbel. Persische Teppiche, alte Kristallkronleuchter, Gemälde, Öllampen, Skulpturen, Kristallvasen, Dosen, Silber, kunstvolles Glas, Porzellan. Wäre auf einer Kommode nicht ein kleiner Flachbildschirm gewesen, dann könnte er wenigstens sagen, er wäre das jüngste Ding, welches sich im Zimmer befand. Zoran kam sich wie ein Pharao vor, ein Pharao in seiner Grabkammer, lebendig mit seiner kostbaren Beute eingeschlossen, mit seinen Gedanken, keinen guten Gedanken. Ein Toter, welcher noch atmet und denkt. Das war er, ein lebender Toter, der die Toten verstand.
»Pure Zeitverschwendung«, sagte er zu sich und warf abwertend und traurig seinen Blick auf die gehorteten Kostbarkeiten.
Der Traum der letzten Nacht war sehr merkwürdig, nun erinnerte er sich wieder. Die Glocken waren so real, als ob sie wirklich geläutet hätten. Lang, kurz, sehr kurz. Er hat die Glockenschläge mitgezählt, die Zahl aber wieder vergessen. Warum sollte er sich so etwas merken, fragte er sich. Er hat schon als kleiner Junge gezählt, manchmal einfach so, angefangen mit Eins, beendet nach … Stunden. Jahre später, als er trainierte, machte er manche Übungen tausendmal hintereinander. Er konnte stundenlang eine einzige Bewegung vollziehen. Für das nutzlose Zeug hatte er früher die Geduld, jetzt nicht mehr, stellte er fest, jetzt hatte er keine Geduld mehr, für nichts und für niemanden. Etwas trieb ihn seit Monaten an, seine innere Spannung nahm an Intensität von Tag zu Tag zu. Er fühlte sich beobachtet, bedrängt. Er hatte so viel zu tun, so viel vor, wollte noch so viele Bücher lesen, sich Fertigkeiten beibringen, lernen. Er war vom Gefühl erfüllt, das ihm die ganze Zeit der Welt nicht mehr ausreicht. Er schlief nicht mehr, lernte, las, und … tat … was er tat.
Jeder Psychiater wird eindeutig bestätigen: »Sie sind am Durchdrehen, um es harmlos auszudrücken!«
Am Alkohol lag es nicht. Die Träume kamen wieder, egal ob er getrunken hatte oder nicht.
»Wer von uns ist noch am Leben? Mit wem soll …« Er war am Ende, das war ihm bewusst. Er konnte nur mit den Toten reden, Lebende mied er, denn … jeder mit den Seinen.
Zoran schaute traurig aus dem Fenster. Es könnte ein schöner Tag werden, dachte er. Quatsch, änderte er gleich seine Meinung, der halbe Tag war schon vorbei, der Rest des Tages wird schön. Er blickte auf eine der vielen Uhren, welche im Zimmer waren. Eine Einzige lief, alle anderen waren abgestellt, sie waren ihm einfach zu laut. Halb drei. Plus-Minus, dachte er, die Uhr lief nie genau. Aber, in dieser Hinsicht hatte er Zeit, die ganze Zeit der Welt, die ganze Zeit des Universums. Er ließ sich von der Tageszeit nicht drängen, oder unter einen anderen Druck setzen.
Als er in der Küche die Tasse abstellte, schaute er auf die Funkuhr, nicht um die genaue Uhrzeit zu sehen, sondern den Tag und das Datum festzustellen. Er wusste nicht welcher Tag es überhaupt war. Schon etwas wacher, ging er zum Sekretär im Flur und machte den Notizblock auf. Unter dem heutigen Datum stand das, was er vorhatte, oder tun sollte. Wenig, heute hatte er keine Termine, sollte nur einen Anruf bekommen.
Gestern hatte sich ein Bekannter von ihm gemeldet, ein Antiquitätenhändler, meinte, er hätte möglicherweise einen guten Deal, einen super Deal für Zoran. Ein Kunde wollte ein Teil seiner Sammlung an alten asiatischen Waffen und Kleinigkeiten verkaufen. Der Verkäufer hat gezielt nach Zoran gefragt, weil er, wie er es sagte, die Sachen nur an einen anderen Sammler abgeben wolle und nicht an einen Händler. Er hätte gehört, Zoran wäre der Richtige. Zoran hatte absolut kein Interesse an Antiquitäten mehr, er hatte genug, aber die Waffen wären doch interessant, auch die Kleinigkeiten, was immer sie sein mögen. Daher hat er seinem Bekannten mitgeteilt, er könne dem Mann seine Telefonnummer geben. Der unbekannte Mann soll ihn direkt anrufen. Auf Zorans Frage, von wem der Mann seinen Namen hatte, antwortete der Bekannte, der Mann wollte es nicht verraten, er hätte den Kontakt von einem guten gemeinsamen Freund empfohlen bekommen. Zoran war mit Geschäften über Mittelsmänner und Bekannte der Bekannten vertraut, das war üblich. Die sicherste Art Geschäfte zu machen war: keine Öffentlichkeit.
Zoran lass weiter, in großen Buchstaben war das Wort Essen vermerkt. Zoran verspürte weder Durst noch Hunger. Er konnte tagelang nichts essen, das viel ihm manchmal nicht mal auf. Sein Körper funktionierte trotzdem wie ein Uhrwerk weiter. Das war auf sein Training in den jungen Jahren zurückzuführen. Als er vierzehn Jahre alt war, las er ein bescheuertes Buch über Krieger im Fernen Osten. Ein Teil dessen Trainings war, um sich abzuhärten, dass die Krieger einen Tag in der Woche nichts gegessen haben, vierundzwanzig Stunden lang absolut nichts. An einem anderen Tag der Woche haben sie nichts getrunken, nicht einen einzigen Tropfen. Zoran hatte die Übungen gemacht. Am Anfang war es natürlich unerträglich, aber nach einigen Wochen war es durchzuhalten. Diese körperliche Tortur hat er jahrelang gemacht. Seit der Zeit empfand er nichts, weder Hunger noch Durst. Wenn er sich jetzt nicht aufschreiben würde, er solle etwas essen, hätte er es vielleicht sogar übersehen. Mit dem Trinken war es einfacher, in jedem Zimmer stand eine Flasche Mineralwasser. Erinnerung genug. Und in Trinkkuren, wie er seine Trinkanfälle nannte, der Wodka-, Korn-, Weißwein-, oder Rumwoche, trank er ausreichend Wasser schon wegen der Getränke mit. Er wusste, wie anstelle von Schmerzmitteln er süchtig nach Zigaretten, Espresso, Alkohol … und … seinen Träumen war. Alles hätte er zugegeben, bis auf das Letzte. Die Träume waren ein Fluch, aber wenn sie ausblieben, erst dann ging es ihm schlecht. Seine Träume haben sich in den letzten Jahren stark verändert, er fing an sie zu kontrollieren, zu durchleben. Nachzuvollziehen, bewusst zu erfassen, durchleben. Er bekam Antworten und Lösungen auf fast alle seine Fragen. Fast alle.
Zoran ging ins Bad und machte sich für den Tag fertig. Gerade als er fertig war, klingelte das Telefon. Zoran suchte im Flur nach dem Handy und schaltete es ein.
»Ja?«, sagte Zoran mit verstellter Stimme. Dies war unnötig, denn seine Scrambler funktionierten einbandfrei.
»Hallo? Spreche ich mit dem ehrenwerten Sammler? Ihr Bekannter hat mir ihre Telefonnummer gegeben, ich solle sie persönlich anrufen«, sagte die tiefe und angenehme männliche Stimme.
Er registrierte alles, der Mann sprach fließend englisch, jedoch mit verstecktem Akzent. Frankreich? Spanien? Nein, dieser Mann hatte mehrere Muttersprachen. Es gefiel ihm, dass der Mann gezielt und ohne Umschweifen direkt zur Sache kam.
»Ja, richtig, ich bin es. Danke für den Anruf«, sagte Zoran.
»Ich bin morgen auf der Durchreise in ihrer Stadt. Wenn es ihnen passt, könnte ich vorbei kommen. Wäre das möglich? Würde ihnen das passen?«
Zoran überlegte kurz. Er hatte heute und morgen nichts vor. Tausend Sachen standen auf der Liste, um erledigt zu werden, aber er hatte nichts Konkretes vor. Das nächste Ziel … stand noch nicht fest.
»Warum nicht. Sie können gerne vorbeikommen. Ich wohne in …«
Die Stimme unterbrach ihn.
»Ihr Bekannter wird mich bringen, oder mir sagen wo sie wohnen. Das ist am einfachsten. Eine Frage noch, bitte. Wurde es ihnen etwas ausmachen, wenn ich meine Sekretärin mitbringe? Ansonsten, ich müsste sie im Hotel alleine zurücklassen. Ohne Begleitung traut sie sich in einer unbekannten Stadt nichts zu unternehmen, nicht einmal das Hotel zu verlassen. Würde das gehen?«
Wieder musste er überlegen. Das passte ihm ganz und gar nicht. Es war nicht üblich, das Fremde noch weitere Fremde mitbringen. Das war gefährlich, er müsste dann zwei Gestalten in Schach halten.
»Ach so, sie hat Angst hier? Und wo kommt sie her, wenn ich fragen darf?«
»Sie ist Chinesin. Alles ist für sie neu, daher dachte ich …, vielleicht dürfte sie mit mir zu ihnen kommen. Aber nur wenn es ihnen auch wirklich passt. Vielleicht kann sie ihnen bei den Übersetzungen behilflich sein. Sie spricht Deutsch«, erklärte die Stimme.
Die Stimme war sehr freundlich, entspannt, Zoran spürte die Wärme, spürte die Zuneigung ihm gegenüber, die Höflichkeit war überragend. Er hätte nie erlaubt, dass ein Fremder noch jemanden mitbringt. Alle seine Sinne sagten ihm, dieser Stimme könnte er vertrauen.
»Ja, gerne, bringen sie die Dame bitte mit. Wie sieht es mit ihrer Zeit sonst aus? Was halten sie davon, wenn bei der Gelegenheit, ihre Begleiterin und sie bei mir zum Essen bleiben? Ich würde mich sehr freuen.« Warum er diese Frage stellte, das war Zoran in dem Moment nicht klar. Sie kam nicht aus seinem Kopf, sie war ein Produkt seiner unterschwelligen Gedanken, kam aus dem Bauch, aus seinem Unterbewusstsein. Er wollte gerade die Frage zurückziehen, als die Stimme antwortete.
»Ich habe es bereits veranlasst, die Sammlung wird heute zu ihnen geliefert. Es wäre besser, wenn sie die Lieferung abwarten, statt Besorgungen wegen des Essens zu machen. Ich denke, die Lieferung hat Priorität. Bleiben sie bitte bis auf Weiteres zu Hause.«
Zoran dachte nach. Der Mann hat es also bereits veranlasst, dass seine Sammlung an ihn ausgeliefert wird. Ohne ihn zu kennen, ohne ihn je gesehen oder vorher gesprochen zu haben. Das sprach in Zorans Augen entweder für absolute Dummheit, einen Betrüger mit Blenderware, oder, einhundertprozentige Vertrauensbasis. Das gefiel ihm, der Mann war auf seiner Wellenlänge, so oder so, auf Risiko eingestellt. Mal sehen, was daraus wird.
»Absolut kein Problem. Ich muss nicht ausgehen. Falls ich doch noch etwas brauche, dann werde ich es mir bringen lassen. Ich werde Ihre Lieferung abwarten. Die Einladung zum Essen bleibt.«
»Warum nicht? Das würde mich sehr freuen, dann werde ich mich um die Getränkeauswahl kümmern. Sie trinken doch Wein und Vergleichbares?«, fragte die vertrauensvolle Stimme.
»Ja, das tue ich. Gut, dann machen wir das so. Wann in etwa kann ich mit ihnen rechnen?«
»Ich vermute … gegen vierzehn Uhr. Ich freue mich bereits sie kennenzulernen«, sagte die Stimme abschließend.
»Wunderbar, ebenfalls. Bis morgen.« Zoran legte auf.
Der Mann am Telefon war gut, ein Profi. Er hat nicht ein einziges Mal irgendeinen Namen oder etwas Konkretes gesagt, kannte das Spiel. Zoran mochte die Angeber und Möchtegerns nicht.
Er lief in die Küche um seine Vorräte zu inspizieren. Er kochte sehr gerne und freute sich, wenn jemand da war, was extrem selten vorkam.