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Stadtflucht und Idylle

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Brigitte B. hatte eine gute Chance, in der Hierarchie der Privilegierten aufzusteigen. Zum Abschluss ihres Studiums der Malerei und der Restaurierung war sie Meisterschülerin des Staatskünstlers Walter Womacka geworden. Sie hatte die Gelegenheit nicht genutzt. Stattdessen mit einem Stipendium Rückzug ins Private. Kein Widerspruch, keine Opposition, nur eine angenehme Lebensmöglichkeit. Landflucht. Landluft. Sommerfrische. Das Bauernhaus, die Datsche.

Nach den Erfahrungen mit ihrer vierjährigen Tochter in den staatlichen Kinderkrippen, mit genauer Regulierung, gemeinsamem Topfzwang und Mittagsschlaf, und der drohenden Schule mit den Indoktrinierungen der Staatsführung, die sozialistische Persönlichkeiten forderte, nur heraus aus der Stadt aufs Land. Hunderte waren vor ihnen nach draußen gegangen. Die Suche. Die besten Adressen auf den Dörfern waren die Landwirtschaftlichen Genossenschaften, industrielle volkseigene Großbetriebe für Pflanzen- oder Tierproduktion. Diese LPGs waren, unabhängig vom Wetter, zur Planerfüllung und Übererfüllung verpflichtet, nutzten Herrenhäuser als Lager, errichteten für Melker und Traktoristen Plattenbauten und ließen alte Bauernhäuser verkommen.

Brigitte B. und ihr Mann zogen zu Erkundungen in Richtung Norden, trafen Künstler, die dort bereits ihr Domizil gefunden hatten, erhielten den Hinweis auf die Kleveschen Häuser und fanden ein leeres Bauernhaus aus den zwanziger Jahren. Dem LPG-Vorsitzenden waren die Städter willkommen, würden sie doch das Gebäude nutzen und vor dem Verfall bewahren. Sie erhielten kostenfreies Wohnrecht unter der Bedingung, das Haus zu erhalten und Reparaturen vorzunehmen.


Brigitte B. als Titel auf der „Neuen Berliner Illustrierten“

Die Entscheidung für die Kleveschen Häuser hatte sie getroffen – es war nicht das Neubauernhaus, das erst wieder benutzbar gemacht werden musste, es war der Garten. Während ihr Mann überlegte, was zu reparieren und zu renovieren war, noch abwägte, überschlägig Kosten errechnete, war es der Blick, ihr Blick über wucherndes Unkraut, Obstbäume, Wiese, Feld bis zum Wald, ein paar hundert Meter entfernt. Sie wusste, hier wollte sie leben, nein, hier würden sie leben, aber zuallererst würde sie hier leben, mit ihrer Tochter. Alles andere würde sich finden, war nebensächlich, Improvisation.

Wilhelms Doppelleben – der Genosse im Rang eines Offiziers des Staatssicherheitsdienstes im Außenministerium der DDR – und der Kleinbürger, der zweite Wilhelm, der einfache Wilhelm, die Verwandlung nach Feierabend wenn er nach Klein-Venedig kommt. Er zieht sich um, tauscht den grauen Dienstanzug gegen Trainingshose und Trainingsjacke, rot-braun, Erinnerung an die NVA. Selbstverständlich hat er seinen Dienst an der Waffe absolviert, an der Waffe ein paar Wochen nur, die übrige Zeit in der Presse- und Propaganda-Abteilung der Armee. Der nun aus der Datsche in den Garten tritt, ist ein anderer; nicht, dass er sich entpuppt hätte, von der Raupe zum Schmetterling geworden wäre, aber verwandelt, ein netter Privatmann, so wie alle hier zu liebenswerten Privatpersonen werden. Lässige Biertrinker und Würstchengriller. Ihre überwiegend molligen Frauen, die für die Woche hochtoupierten Haare nun aufgelöst, mit bunten Blusen über ihren fülligen Brüsten, die strammen Beine bis zu den Knien in eng anliegenden Hosen. Verkleidete Rubens-Figuren. Sie sind locker, die Genossen von Klein-Venedig, ohne ihre Abzeichen, nicht zu erkennen, stünden da nicht Wernesgrüner Pils und Becherovka auf den Tischen, lägen da nicht köstliche Steaks auf dem Grill, die sonst zum größten Teil ins kapitalistische Westberlin und in die BRD geliefert werden, unter dem Ladentisch, Bückware, Beziehungen, Tauchhandel, gegenseitige Vorteilsnahme: Kinderschuhe, erzgebirgisches Spielzeug, Rinderfilet, Auspuffrohre, immer gibt es irgendwo irgendetwas.

Das Honecker-Attentat und andere Storys

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