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Frühjahr 1979 – Hamburg – Berlin – Gutengermendorf

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Montag, morgens um halb acht auf dem Land in Brandenburg. Brigitte B. wartet mit ihrer Tochter Angelika an der Haltestelle. Die Siebenjährige ist müde, ist immer müde, ein Abend- und Nachtkind, ein Späteinschlafkind. Der Schulbus wird das Mädchen abholen und mittags wieder zurückbringen. Die Familie, er Film-Dramaturg in Potsdam, sie Restauratorin, lebt auf dem Dorf, in den Kleveschen Häusern bei Gutengermendorf, nördlich von Oranienburg, Richtung Gransee, sieben Gehöfte, in Ellipsenform angeordnet, fernab der Hauptstadt und fern der Parolen.

Klein-Venedig, Rahnsdorf, am Stadtrand von Berlin: Bernhard Wilhelm macht sich in seinem Wartburg auf den Weg ins Außenministerium, früh unterwegs nach einem angenehmen Wochenende, Bootstour mit der Familie über den Dämeritzsee nach Erkner, Grillabend am Wasser, Tatort, Westfernsehen.

Keine besonderen Vorkommnisse, alles nimmt seinen sozialistischen Gang. In den Sonntagszeitungen aus der BRD Frankfurt und Hamburg, FAZ und Springers Welt und Bild am Sonntag keine Hetze gegen die DDR, besser, die DDR findet nicht statt. Auch im Spiegel nichts über die Deutsche Demokratische Republik. Seit Wochen nichts. Aussicht auf einen ruhigen Wochenanfang. Routine – Auswertung der Berichte der Genossen zur Überwachung der Korrespondenten, keine Erkenntnisse. Sie waren mit Ausnahme von Marlies Menge von der Zeit alle zu Hause in Westberlin oder der BRD. Überblick über Veröffentlichungen vom Wochenende, Vormittagskonferenz. In der Kantine wird es Soljanka und Schweinebraten geben.

In der geräumigen Wohnküche im dritten Stock der Hansastraße in Hamburg-Eppendorf, fünf Minuten vom Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks entfernt, blättert der Radiojournalist Dieter Müller in den wichtigsten Tageszeitungen – der Süddeutschen, der FAZ, der Rundschau, der Welt, dem Abendblatt und in Bild, registriert Aufmacher, Überschriften, überfliegt Artikel, liest Kommentare, hört die Nachrichten seines Senders und die letzten Berichte des Frühmagazins, das um neun Uhr endet. Müller ist so gut vorbereitet für seine Sendung, in fünf Stunden, den Kurier am Mittag.

Bernhard Wilhelm schätzt die ruhigen Wochenenden in der Politik mit ihrer Ereignislosigkeit. Sie versprechen gemächliche Arbeitstage, wenngleich die Beschaulichkeit vergangener Jahre mit den neuen internationalen Verbindungen des Landes, der Anerkennung der DDR, dem Einzug der Botschafter aus aller Welt mit ihrem Gefolge und über einhundert akkreditierten Journalisten zu Ende ist. Der Preis der Kontakte sind Aufmüpfigkeiten von Kritikern, Pfarrern, Schriftstellern, Malern, selbst Schauspielern, Jugendlichen, die Gesetze missachten, aufbegehren, sich unzulässig äußern, dabei gerade die Nähe von Diplomaten und Korrespondenten suchen. Der Staat reagiert, überwacht, lädt vor, schüchtert ein, sperrt ein, verweist Feinde des Sozialismus des Landes.

Die Restauratorin Brigitte B. sitzt im Garten ihres Bauernhauses, das die Familie kostenfrei von der LPG, dem volkseigenen Großbauernbetrieb, zur Verfügung gestellt bekommen hat. Ihr Mann ist mit dem knatternden Zweitakter nach Babelsberg unterwegs. Sie trinkt Kaffee – aufgebrüht – genießt die Ruhe, den Garten mit den blühenden Obstbäumen, den weiten Blick über die Wiesen, bevor sie sich einem barocken Taufengel zuwendet, der, auf dem Boden einer Dorfkirche entdeckt, von ihr sorgfältig gesäubert und gesichert wird. Sie wird erst später das Leben Müllers verändern und das Leben der anderen in Müllers Familie, das Leben seiner Frau, seiner Kinder, seiner Schwiegereltern, die noch meinen ihre Tochter sei in guten Händen.

Dieter Müller stellt die sieben Themen für seine Sendung zusammen, sieben Themen in einer halben Stunde, die Welt auf sieben Berichte zusammengeschrumpft, ausgewählt nach politischer Dringlichkeit, Berichte aus Washington und Moskau, eine Katastrophe, ein Kulturereignis – Paris, Wien, London, Salzburg, New York – ein Studiogespräch. Er entscheidet sich, den Chefredakteur des stern, Peter Koch, einzuladen, der in dieser Woche eine große Dokumentation über die Annäherung zwischen Ost und West im Heft publizieren wird.

Zehn Uhr: Müller passiert die Gänge und Treppen aus seinem Büro im ersten in den zweiten Stock, erläutert sein Programm in der Vormittagskonferenz, Zustimmung, ohne Widerspruch, danach die Vorbereitungen, Absprachen mit dem Producer – Geruch von Morgen-Cognac, der Sekretärinnen-Duft von Chanel. Das Band zu einem Beitrag aus dem Iran wird abgehört und freigegeben. Flirt mit der Cutterin. Nichts Besonderes. Routine mit Kaffee, Zigaretten, Telefongesprächen.

Bernhard Wilhelm wusste seine Möglichkeiten zu nutzen. Eigentlich nur passabel begabt, war er fleißig, schlau, pfiffig, heiter, anpassungsfähig, beredt. Mit diesen Eigenschaften, geschickt eingesetzt, ließ sich viel erreichen, bei Lehrern, in den Jugendorganisationen, an der Universität, in der Partei.

Wilhelm schätzte seine Chancen ab, entwickelte eine Strategie, verfolgte sein Ziel. Eine Karriere in der SED schied aus, weil sie ihm mit ihrem Schulungs- und Versammlungs-Ritualen zuwider gewesen wäre. Sie entsprach nicht seinem Naturell, seiner Neigung zu eher lockerer Konversation und seiner Fähigkeit zur Formulierung. Er entschied sich für den Journalismus, der selbst unter dem klaren Parteiauftrag vielerlei Möglichkeiten bot. Bereits mit vierzehn gestaltete er Wandzeitungen, wurde Chefredakteur der Schülerzeitung, schrieb erste kleine Beiträge für die Junge Welt. Seine Aufnahme ins „Rote Kloster“, den Studiengang für Schriftsteller und Journalisten in Leipzig, war der erste Schritt.


Brigitte B. mit ihrer Tochter auf dem Land

Dieter Müller und Bernhard Wilhelm hätten sich begegnen können – wenn Müller geblieben wäre, geblieben im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn er nicht, aus bourgeoisen Haus, vom als erstrebenswert propagierten Sozialismus abgewichen wäre, wenn sich jemand seiner angenommen hätte. Einige Parallelen hatte es in beiden Biografien gegeben. Müller verfasste als Vierzehnjähriger Gedichte und zwei Artikel über den Besuch einer sowjetischen Jugendgruppe in einem Heim in der Nähe des Schrebergartens am Krokusweg, die er an die Redaktion der Freiheit in Halle schickte. Sie wurden veröffentlicht, der Autor erhielt neben einem Honorar die Aufforderung, als „werter Volkskorrespondent“ Neues einzusenden. Daraus wurde nichts, der 17. Juni veränderte die Ansichten des jungen Autors, der ohne diesen Volksaufstand vielleicht nach dem Abitur ebenfalls im „Roten Kloster“ eingezogen wäre.

Brigitte B. und ihr Mann entschieden sich für das Land als Ort der Möglichkeiten in der Enge; fort aus der Bevormundung, die ihnen ihre Freiheit ließ, die Halbemigration, das Arrangement, wie es viele gewählt haben.

Draußen, vor den Toren der Stadt, nördlich von Löwenberg, links und rechts der F7 bilden sie die Gemeinschaft der Aussteiger oder Halbaussteiger – der Grafiker, der Kinderbuchautor, der Jazzposaunist, der Dokumentarfilmer, der Theaterregisseur, der Maler, der Dramaturg, ein Schauspieler und sie, die Restauratorin. Sie sind unauffällig, genügsam und fügsam, keine Aufbegehrer, sondern nur die üblichen Systemmeckerer, die auf Genehmigungen für Auftritte, auf Papier, auf Filmmaterial, die immer auf etwas warten.

Das Honecker-Attentat und andere Storys

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