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Landidyll

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Das Dorf bestand ursprünglich aus sieben Häusern, gegründet von sieben Familien aus Kleve, die Kleveschen Häuser zwischen Löwenberg und Gransee. Es heißt, sie seien im 18. Jahrhundert gekommen, als der alte Fritz die Streusandbüchse Brandenburg fruchtbar machen wollte und die Holländer nach Preußen rief, in den wilden Osten. So ein Nest hätte Müller nicht gesucht und nie gefunden.

Wären rundherum nicht die großen Schläge der Großgenossenschaft, führen nicht jeden Morgen in der Dämmerung die Großtraktoren zum Pflügen, Säen, Ernten auf die Felder, der Mensch lebte vor fünfzig Jahren, es gäbe keinen Arbeiter- und Bauernstaat, keine LPG, dafür die alten Großgrundbesitzer und die Nachfahren der Holländer mit kleinen Höfen.


In den Kleveschen Häusern: Brigitte B. mit ihrer Tochter, Freunden und dem „Mann aus dem Westen“

Hier, eine Autostunde von der Hauptstadt entfernt, zwischen Löwenberg und Gransee, so wie auch im Oderbruch oder an der Müritz, siedeln nun die Kulturflüchtlinge, die kleine Freiheit von Regisseuren, Malern, Musikern, Schriftstellern. Keine Dissidenten, nur Unzufriedene, Nörgler, weil sie ihre Filme nicht drehen, ihre Bücher nicht drucken, ihre Lieder nicht aufnehmen können. Gescheitert an Kapazitäten, an Papierknappheit, an Zensoren, an sozialistischen Bürokraten, saufen sie sich ihren Frust aus dem Herzen, schimpfen sich durch die Nächte. Sind unglücklich, glücklich, unfrei und frei, haben sich eingerichtet, abgefunden, miteinander, ohne finanzielle Sorgen (achthundert Mark im Monat genügen ihnen selbst mit Kraftfahrzeug), heiraten, bekommen Kinder, trennen sich, verreisen in ihren Grenzen und mit Glück bis nach Ungarn, sogar Georgien.

Wann immer es ihm möglich ist, fährt er nun zu ihr, abends, nach Einbruch der Dunkelheit, als könnte er sich so den Kontrollen entziehen, unbemerkt bleiben. Die Strecke wird ihm vertraut und behagt ihm, die Alleen, der notdürftig geflickte Asphalt, das Kopfsteinpflaster in Löwenberg, die Bahnschranke, vor der er, wenige Kilometer vor dem Ziel, aufgehalten wird. Die Dunkelheit in den Dörfern. Er parkt den Wagen hinter einer Scheune, als bliebe er dort vor den Augen der Bauern unbemerkt. Macht er sich morgens, oft früh um sieben oder acht, auf den Rückweg in die Stadt, sind die Männer mit ihren Traktoren, Landmaschinen, Mähdreschern längst unterwegs, blicken sie zu ihm, winkt er ihnen zu, ein paar erwidern seinen Gruß, heben kurz die Hand. Jutta wird zu seiner Verbündeten. Sie ermuntert Müller: „Wenn es so ist, dann ist es so! Wenn du sie liebst, dann liebst du sie!“

„Wir sind uns unsicher, wir wissen nicht, was werden soll.“

„Liebt euch! Alles andere spielt erst einmal keine Rolle.“ Juttas Lebensbejahung. Kein Zögern.

Sie sind auf den Sandwegen unterwegs, morgens, nach den langen Nächten in der Küche, nach Wein, Bier und Schnaps, bei denen die Männer kein Ende finden und Brigitte B. selbst in der Morgendämmerung auf Bitten der Kerle noch eine Flasche Whisky, in den Tiefen der Schränke versteckt, auf den Tisch stellt, die Suffköppe, die nicht müde werden, sich ihre Geschichten zu erzählen, von sturen Kulturfunktionären, die nach Belieben genehmigen oder verbieten, von den Schlichen, sie zu übertölpeln, von immer neuen Möglichkeiten, Verbotenes zu sagen, zu spielen, zu schreiben.

Die größten Sorgen haben die Filmemacher, mehr als die anderen auf Zustimmung und Material angewiesen. Brigittes Mann, Dramaturg bei der DEFA, benötigt mehrere Jahre zur Herstellung eines Dokumentarfilms über C. D. Friedrich, den Maler der Romantik, der nicht in die Kulturpolitik der DDR passt. Trotzdem: Bei aller Kontrolle entstehen Filme, Kabarettsketche, Inszenierungen, Bilder, mit denen Kritik geäußert, Veränderung gefordert wird, oft nur angedeutet, von allen verstanden. Filme wie Die Legende von Paul und Paula, Solo Sunny, Dokumentationen von Jürgen Böttcher und Volker Köpp, Programme der Distel, der Pfeffermühle und der Herkuleskeule.

Nach durchzechten Nächten, kurzem Schlaf laufen sie sich dämmerig-frisch, fühlen sich gut – unter ihnen, als wäre nichts, ereignete sich nichts, sei nichts geschehen, Brigitte und ihr Mann, Müller und Jutta, Juttas Mann. Sie haben Zeit, weil hier die Zeit keine Rolle spielt, weil sie kein vorbildliches sozialistisches Kollektiv sind, weil sie keine Pläne erfüllen.

Es ist das Dorf, es sind die Wege entlang der Wälder, zum See, märkischer Sand, nicht asphaltiert und begradigt wie im Westen mit dem Grünen Plan. Die Mangelwirtschaft als glücklicher Umstand. Hier scheint alles in Ordnung. Eine trügerische Enklave, wie die Fachwerkdörfer in Thüringen, deren Umgebung sich für Großflächen nicht eignet, während weiter im Norden und im Osten im unteren Odertal alles nutzbar gemacht wurde, ohne Rücksicht auf Natur, ohne Rücksicht auf die verheerenden ökologischen Folgen.

Berichteten die alten Mitglieder der LPG, in Krackow am See oder hier in den Kleveschen Häusern, wie sie in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gezwungen, wie aus Landwirten Landarbeiter wurden, welche Folgen die Massentierhaltung von zehntausenden Schweinen hatte, erzählten sie von Seuchen und Massensterben, wie sich Seen in Güllekloaken verwandelten, berichtete der spätere alternative Nobelpreisträger Professor Succow, wie die Idylle des Oderbruchs entwässert und nur noch nutzbare Riesen-Produktionsfläche war – keiner wäre ohne Strafe davongekommen. Die Zeitzeugen bleiben stumm. Müller bleiben nur die Romane Strittmatters, Gotsches, der anderen Staatsschreiber, die das freie Leben der Genossenschaftsbauern rühmen.

Katja hätte erzählen können, Katja, Robert Havemanns junge Frau, deren Vater an der zweiten Bodenreform zerbrochen ist, das eigene Land enteignet – nach dem Vorbild sowjetischer Kolchosen, zusammengelegt mit dem Besitz anderer Bauern, zur Massenfläche, mit dem Ziel den größtmöglichen Nutzen ohne Rücksicht auf die Natur, das Auspressen des Bodens. Der freie Bauer auf seiner Scholle – antiquiertes Denken. Die neue Zeitrechnung.

Und doch scheint dieser Ort nicht zeitgemäß. Die Kleveschen Häuser. Seit Jahrzehnten unverändert, unangetastet. Ein Telefon im Dorf – ein einziges Telefon. Das Telefon befindet sich im Büro des LPG-Vorsitzenden. Wer telefonieren möchte, muss zu ihm, einem freundlichen Mann, vierzig und ein paar Jahre dazu. Auslandsgespräche werden über eine Vermittlung angemeldet. Die BRD ist Ausland. Selbstverständlich wird alles registriert und abgehört. Später wird Müller Abschriften finden – Abschriften seiner Gespräche mit der „Beziehung“, aus denen Rückschlüsse über ihr „Verhältnis“ zu ziehen waren.

„Hallo, mein Schatz. Ich bin zurück.“ Zum Beispiel aus Gdansk oder Hamburg, wenn er nicht direkt von der Autobahn abfährt, der Weg über Neuruppin. In den Abhörprotokollen ihre Frage: „Hast du den passenden Kühlschrank gefunden?“ Er wird sich zu erinnern versuchen, ob er nach einem Kühlschrank gesucht und ihn gekauft hatte oder ob zwischen ihnen ein Codewort vereinbart worden war.

Müller weiß um seine Selbsttäuschung, begreift, wie sehr die Idylle täuscht, hinwegtäuscht über den so genannten „real existierenden Sozialismus“, der mit seiner propagandistischen Krake in die letzten Winkel vorgedrungen ist, der das Land ausbeutet, die Natur zerstört. Die Kleveschen Häuser sind kein unangetastetes Refugium. Ringsherum gibt es die großen Schläge der LPG, Seen, mit Gülle vergiftet, zerrüttete Straßen, verfallene Herrenhäuser und Schlösser. Der erste „Ständige Vertreter“ aus Bonn, Günter Gaus, hatte das fatale Wort von der „Nischengesellschaft“ erfunden und damit gemeint, die Bevölkerung der DDR schaffe sich ihre Freiräume durch den Rückzug ins Private. Das betulich kleinbürgerliche Leben in den Datschen oder in den kleinen Gemeinschaften von Kirchenleuten, die es nett miteinander fanden, unter ihnen der Gast aus dem Westen. Die Wortschöpfung suggerierte für die Westdeutschen, irgendwie ließe es sich doch angenehm leben, drüben, in der DDR, ärmlich, aber doch nicht ganz so schlimm.

„Du könntest hier leben!“

„Es wäre unmöglich.“

„Du bleibst.“

„Wie könnte ich bleiben?“

„Du kehrst zurück und beantragst die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik.“

„Eine absurde Idee.“

„Eine Möglichkeit immerhin.“

Das Honecker-Attentat und andere Storys

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