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Die Demonstration

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Der Ausnahmezustand. Ostberlin als Aufmarschplatz. Aus allen Teilen der DDR kommen die Demonstranten. In Sonderzügen, in Bussen, mit Mannschaftswagen. Am Vortag verschwinden die Datschenbesitzer in ihren Sommerhäusern am Stadtrand. Die Korrespondenten gönnen sich freie Tage. Am Vortag beginnen die Absperrungen von Straßen und Plätzen, bleiben die Geschäfte leer, gehört Ostberlin den Akteuren. Müller bleibt. Er will das Spektakel erleben, ein jährlich wiederkehrendes Großschauspiel, eine Massenveranstaltung von Tausenden, angeordnet, befohlen, militärischer Mummenschanz, offizielle Bedrohung.

Gefeiert werden nicht der 1. Mai, der Tag der Arbeit und der Arbeiter, nicht der Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik. Es sind die Tage der Macht, die Tage der Selbstdarstellung. Die Stadt ist erfüllt vom Widerhall der Marschschritte entlang der S-Bahn-Bögen, erfüllt von Kommandos, erfüllt von Gehorsam, Disziplin, Drill, sorgsam eingeübt, alles wie am Schnürchen. Es gibt sorgsam entwickelte Pläne, Erfahrungen, immer weiter verfeinert, Strukturen. Jeder an seinem Platz. Die Tribünen werden errichtet, die Tribünen für die Staats- und Parteiführung und für die Ehrengäste. Das Fuß-Volk der Fahnenschwenker und Mitläufer ist zu festgelegten Plätzen zitiert. Spätabends rollen Panzer mit Geschützen, Lafetten mit Raketen über die Karl-Marx-Allee, die einstige Stalin-Allee. Das Gerassel der Kettenfahrzeuge. Die Straße von Menschen leer.

Müller spürt Beklemmung, hat das Gefühl, als läge über Ostberlin eine bedrohliche Spannung, als herrsche Ausnahmezustand. Es sei eine Frage der Gewöhnung, erklärt Schmitt. Alles nur großes Brimborium.

Müller schläft mit den Geräuschen des Vor-Krieges ein, erwacht früh. Wieder Befehle, Schritte von Einheiten, Kompanien? Müller, ungedient, kennt sich nicht aus, ein militärisches Greenhorn. Am Morgen das Ritual, das große Theater. Die hohen Herren nehmen mit den Repräsentanten der Brudervölker auf den Tribünen Platz, genießen das Schauspiel winken jovial von oben herab – unter ihnen das Volk, das Teilvolk, mit Fahnen, Spruchbändern, Hochrufen. Kapellen ziehen vorüber, gedrillte Kampfgruppen, Soldaten der Nationalen Volksarmee mit ihrem Kriegsgerät.

Er erinnert sich an seine Zeit, als auch er 1950 nach der Gründung der DDR mit seinen Klassenkameraden zur Demonstration beordert wurde. Lehrer Sachse hatte ihn zusammen mit ein paar anderen dazu ausgewählt, dem Präsidenten das „Immer bereit!“ der Jungen Pioniere zu entbieten. In kurzen Hosen, mit weißem Hemd und dem Halstuch, das ihm die Großmutter sorgfältig zum Knoten gebunden hatte. Anständig hatte er aussehen sollen. Auf die Tribüne waren er und die anderen von Wilhelm Pieck, dem gemütlichen alten Mann mit der Entgegnung „Seid bereit!“ und Handschlag begrüßt worden. Dazu die Ermahnung, immer fleißig zu sein.

Der junge Dieter Müller, bürgerlicher Herkunft, war wie alle in die Kinderorganisation eingetreten, auf Empfehlung des Kriegsheimkehrers, Lehrer Sachse, und seiner Großeltern. Großvater und Großmutter wussten aus Erfahrung um die Notwendigkeit der Anpassung im totalitären System. Der Mann, der ihn in seine Obhut und seine Erziehung übernommen hatte, war wohlüberlegt in die Partei eingetreten, am Revers des grauen Anzugs das Abzeichen der NSDAP, zum Gruß das „Heil Hitler!“, um ohne Schwierigkeiten in seinem Laden weiter Zigaretten und Zigarren verkaufen zu können.

Nichts hat sich geändert. Der Großvater weiß, Diktaturen erfordern Strategien. Nach seiner Zeit bei den Pionieren tritt der Enkel in die FDJ ein, ein falsches Blauhemd-Bekenntnis zum Staat, das dem Kind aus eher suspektem bürgerlichem Milieu den Zutritt zur Oberschule erleichtern soll. Der kleine Müller erzählt der Großmutter zu Hause, es sei sehr schön gewesen. Der Präsident habe ihm über den Kopf gestreichelt. Damals war er noch ein dummer Junge. Und ging es ihnen jetzt nicht schon viel besser – nach dem Krieg? Und der Frieden war damals noch nicht wieder bewaffnet …

Das Honecker-Attentat und andere Storys

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