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Der 30. Geburtstag

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Harald Schmitt fragt Müller, ob er am Wochenende mitkommen wolle aufs Land, im Norden, anderthalb Stunden außerhalb der Stadt, ein Dorf nördlich von Oranienburg und Löwenberg, Namen, die ihm unbekannt sind. Brigitte B. feiert ihren 30. Geburtstag. Sie hätte sicher nichts einzuwenden, wenn er sie begleiten würde.

Er sitzt in dem kleinen roten japanischen Wagen, einem sportlichen Toyota, dem einzigen in der DDR, schnittig. Vorn Harald, neben ihm die Restauratorin Annette, eine Kollegin von Brigitte B. Müller, auf der schmalen Rückbank, gut und warm verpackt in neuer Garderobe, die er erst gestern gekauft hat, eine weinrote gefütterte Hose, braune Lederstiefel und einen hellblauen Anorak, darunter ein dunkelblauer Pullover. Er hasst es, zu frieren. Der Winter hat unerwartet früh eingesetzt. Es schneit bereits seit Stunden. So kommen nur langsam voran. Die Flocken blenden, der Wagen findet mit Sommerreifen nur schwer Halt auf dem rutschigen Untergrund im Brandenburger Winterweiß. Räumfahrzeuge sind nicht in Sicht, vermutlich gibt es nur wenige, die eingesetzt werden können. Vielleicht bleiben sie auch in den Garagen, und die Einsatzleiter warten erst einmal bis morgen früh ab. Auch dann wäre noch genügend Zeit. Nur wenige Autos unterwegs. Fremde Welt, ferne Welt, verlassene Gegend. Auf sechzig Kilometern zählt Müller fünfzehn Autos. Sie fahren auf der Fernstraße, der F 97, über Oranienburg und Löwenberg, biegen nach fünf Kilometern rechts auf eine schmale Straße ab, deren Fahrbahn unter einer dicken Schneedecke kaum zu erkennen ist. Märchenland? Oder: Der Hund verfroren? Eine Brücke über die Eisenbahnstrecke an die Küste, frischer Schnee spurenlos. Es schneit weiter.

Auf der Suche. Ein Dorf wird passiert. Dann ein Weiler, eine Ansiedlung von zehn, zwölf Häusern. Vor einem unscheinbaren Gebäude am Ende drei Autos mit dicker Schneehaube. Durch frischen Schnee, mit Schneeschuhen und Flockengesichtern in das kleine Haus.

Die erste Begegnung. Brigitte B, vergnügt, geschäftig, die den Unbekannten, Unerwarteten freundlich begrüßt, seine Geschenke, Blumen und Cognac, dankend entgegennimmt, ihn, wie sie ihm später erzählen wird, beobachtet wie einen merkwürdig exotischen Fremdling und sich insgeheim über die Farbkombination seiner Winterausrüstung amüsiert; ihren Mann vorstellt, einen großen bärtigen Naturburschen, der sie ins angrenzende Wohnzimmer führt. Im kleinen Bauernhaus neben der Küche die Runde der Gäste um einen großen Tisch platziert: der Jazzposaunist Gregor mit seiner Frau, ein Maler und ein evangelisches Pfarrerehepaar. Sie trinken in wohliger Wärme Bier und Schnaps. Die Neuen setzen sich dazu, unschlüssig, worüber sie sprechen sollen, zwei Fremde aus der anderen Welt, Exoten. Sie werden betrachtet, neugierig, willkommene Eindringlinge, die in ihr Gelage Abwechslung bringen. Sie rücken zusammen, holen Stühle an den Tisch.

„Was wollt ihr trinken? Ist alles da.“ Annäherung, Neugier. Reden über das Wetter, über Straßenverhältnisse, Streudienst, später über die Arbeit der Korrespondenten in diesem Deutschland und die Reisen in den Osten Europas.

„Wir sind ein Winterwunderland“, sagt der Pfarrer.

„Du weißt nie, ob du ankommst oder ob du wieder wegkommst.“

„Bei uns fühlen sich alle so wohl, dass sie bleiben wollen“, sagt der Hausherr lachend.

„Wir sind hier zu Hause, glücklich für immer. Forever GDR.“ „Wir leben in einer Planwirtschaft, auch der Winterdienst funktioniert nach Plan. Und heute ist kein Winterdienst. Aber das versteht ihr da drüben sowieso nicht“, sagt Gregor. Bier steht auf dem Tisch, und Wein und Schnaps.

Es geschieht. Müller sieht sie, betrachtet sie, verwirrt sich. Sekunden. Später wird er erzählen, es seien Sekunden gewesen, die alles entschieden hätten. Sein Leben gerät aus den Fugen. Was ereignet sich? Was passiert ihm? Verwirrung. Verirrung. Müller beobachtet die Frau in der kleinen Küche, unmittelbar neben dem Wohnraum, ohne Tür, einsehbar. Keine Hausfrau, keine von der Art, wie er sie von drüben kennt, verheiratete Hannover-, Hildesheim-, Stuttgart-, Regensburg-Hausfrauen. Er benutzt einen Vorwand.

„Wo kann man hier mal?“, fragt Müller.

„Haben wir den größten Komfort zu bieten“, sagt ihr Mann fröhlich, weist auf die Tür in den Garten.

„Draußen über den Hof, Plumpsklo oder für kleinere Geschäfte die Natur, ein paar Schritte Richtung Wiese.“

„Nur nicht direkt vor die Tür“, fügt sie hinzu, lacht ihn an, unbefangen.

Frisches Weiß über Bäumen und Garten. Es hat aufgehört zu schneien. Die Luft sanft. Der Fremde im Winterland Brandenburg, russisches Märchen mit der Tochter der Babuschka am Kamin. Er entscheidet sich gegen das unbekannte Plumpsklo, schräg über den Hof in einem Schuppenanbau. Ein paar Schritte zur Seite, der Schnee jungfräulich, unbefleckt?

Er erinnert sich an das Gemeinschaftspinkeln im alten Land, nordwestlich von Hamburg im komfortablen Bauernhaus des Manfred Bissinger, zusammen mit dem Dirigenten Christoph von Dohnányi, dem Bruder des adligen sozialdemokratischen Politikers der Freien und Hansestadt. Nach einem halben Dutzend Flaschen Bordeaux beschlossen sie im Wettbewerb möglichst viele Buchstaben ihrer Namen in den Schnee zu urinieren. Dohnányi hatte gewonnen. Eine lange Nacht in einem der Landhäuser der Hamburger, die sich entweder in Elbnähe oder bei Lüchow-Dannenberg ihre Wochenenddomizile ausgewählt und sie mit Geld und mehr oder weniger Geschmack ausstaffiert hatten: Sommer-, Wintergäste.

Nun zeichnet Müller in einem Garten der Kleveschen Häuser bei Gutengermendorf gemächlich mit Spaß gelbe Schwünge in den Schnee, schließt den Reißverschluss seiner Hose, atmet die angenehme Frische. Nach der Rückkehr ins Haus sucht er ihre Nähe, bleibt bei ihr stehen, sieht sie mit einer altmodischen Kaffeemühle hantieren, zwischen den Knien, die Kurbel energisch gedreht, das vertraute Geräusch, das er von zu Hause von seiner Großmutter kennt, die für Bohnenkaffee, süchtig, Schmuck und Uhren versetzt hat, nach dem Krieg, als die Amis für ein paar Tage in Halle waren, bevor sie weiterzogen, Richtung Westen, gefolgt von den Russen.

„Ein komisches Ding, das“, sagt Müller umständlich. „Kenne ich noch von zu Hause“, stolpert sein Satz dann unbeholfen weiter: „Ich habe gerne Kaffee gemahlen, wenn irgendwo welcher aufzutreiben war, später mit den ersten runden elektrischen Mühlen.“

„Die alte geht noch immer, sie ist gut in Ordnung, reicht völlig für hier draußen“, sagt sie und lacht. Sie beobachtet ihn und weiß, was er will: sie. In ihm der Wunsch nach ihrer Nähe. Sie ist unerreichbar. Er fühlt sich tapsig, kompliziert. Ein schwieriges Unternehmen. Verheiratete Frau mit Kind, eine Autostunde von der Stadt entfernt, ohne eigenen Wagen, geliebt von ihrem Mann, verehrt, begehrt von anderen. Es gibt Leichteres.

Der Kaffee für die Gäste aus der Stadt, nach langer Fahrt. Essen wird aufgetischt. Neben ihr auf der Ofenbank. Die grünen Kacheln kräftig aufgeheizt, der Rücken wohlig warm. „Gemütlich hier“, sagt er. „Wir haben noch eine geschnitzte Ofenbank zu Hause, von meinem Großvater in Halle.“

„Du kommst aus Halle? Ich denke, du kommst von drüben.“

Das „Du“ hat Schmitt mit der Vorstellung organisiert. „Das ist der Dieter, und das ist auch der Wolf, und das ist die Brigitte!“ Hier sagen alle Du zueinander.

Er erklärt sein Ost-West-Leben, Kindheit und Jugend in der Stadt an der Saale, Flucht in den Westen, berufliche Karriere, Arbeit in Westberlin, Rückkehr als Korrespondent in der DDR. Sie sagt: „Wir haben auch in Halle gelebt, in Dölau.“ Ihr Vater war Oberarzt in einer Lungenheilstätte. Danach sind sie nach Wittenberg gezogen. Als sie nach Halle zurückkam, ins Internat der Franckeschen Stiftungen, hatte er die Stadt schon verlassen, über Berlin, in den Westen.

„Abgehauen?“, fragt sie.

„Abgehauen, wie so viele aus der Klasse.“

„Und jetzt bist du wieder hier? Ist das nicht merkwürdig?“

„Eigenartig, ja.“

„Warum bist du zurückgekommen?“

„Um dich zu treffen“, sagt er und ahnt noch nicht, dass es stimmt. Sie lacht.

„Wo hast du gewohnt?“, fragt er.

„In Dölau“, sagt sie, „beim Krankenhaus.“

„Ich kenne dich. Du bist das kleine Mädchen auf dem Weg zum Waldsee. Immer wenn ich mit dem Fahrrad zum Waldsee unterwegs war, ist mir ein kleines lachendes Mädchen mit braunen Haaren begegnet“, sagt er.

„Du hast ja Phantasie.“

„Doch, doch“, sagt er. „Und nun sitze ich neben dir. Das soll so sein.“

Das Honecker-Attentat und andere Storys

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