Читать книгу Innenansichten - Dietrich Korsch - Страница 13
1. DIE DESINTEGRIERTHEIT VON PRIVATER RELIGION UND PROFESSIONELLEM UMGANG MIT RELIGION
ОглавлениеPFARRER ALBERT ANDERS
Bernhard Dressler/Interview: Albrecht Schöll
Ich empfehle eine Öffnung (.) hin, vom dogmatischen System weg/ ich rede jetzt aber Sachen, von denen ich weiß, dass sie nicht stattfinden werden.
In kontemplativen Übungen sitze ich, wie es in der Bibel heißt, wach und nüchtern. ›Lasst uns wach und nüchtern sein und bereit für deine Zukunft‹, so sitze ich in der Regel. Es ist ein klarer Kopf, (.) aber manchmal gibt es eine vertiefte Ruhe und ein vertieftes Empfinden und es gibt zwischendurch Erfahrungen, die mir eine Art von Glaubensgewissheit geschafft haben, äh die mit dem Gottesbild der Dogmatik nur am Rande noch was zu tun hat.
Diese Kirchengemeinde ist, das kann man wirklich so sagen, ähm im kommunalen Bereich wirklich sehr gut verankert. Das war eher meine Aufgabe hier. Wir haben uns nie hier zurückgezogen und haben unser Ding gemacht, sondern wir wa/ haben uns immer bemüht in den kommunalen Zusammenhängen äh mit drin zu sein und Stimme zu haben und wir waren/ ähm, sind bis heute einfach auch äh nicht nur wahrgenommene Stimme und zwar nicht im moralischen Sinne, sondern im Sinne von praktischer diakonischer Arbeit.
1.1 Persönliche und berufliche Situation zur Zeit des Interviews
Albert Anders ist zum Zeitpunkt des Interviews 58 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Er arbeitet auf je einer halben Stelle in einer Vorstadtgemeinde und – aufgrund zurückliegender Unterrichtserfahrungen an einer allgemeinbildenden Schule und einer berufsbegleitend erworbenen Zusatzqualifikation – an einer Hochschule mit besonderen Aufgaben im Lehramtsstudium für Ev. Religion. Die Arbeit in der Gemeinde teilt er sich mit einer Kollegin. Er fühlt sich arbeitsmäßig nicht überlastet, bilanziert aber kirchliche Maßnahmen der Qualitätssicherung kritisch als wachsende Arbeitsbelastung.
1.2 Wege des Berufszugangs
Herr Anders ist in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, die zugleich gut volkskirchlich orientiert war. Von einer intensiven religiösen Sozialisation und Erziehung berichtet er nicht. Er repräsentiert eine soziale Aufsteigerbiographie, wie sie für die Generation, die in den 1970er Jahren studierte, nicht untypisch ist. Für das Theologiestudium scheint er nicht nur durch ein inhaltliches religiöses Interesse, sondern ebenso sehr durch ein eher abstrakt-allgemeines Aufstiegsinteresse motiviert zu sein. Für Theologie interessiert er sich aufgrund seiner Mitarbeit als Kindergottesdiensthelfer. Er ist froh, im sozialen und bildungspolitischen Aufbruchsklima der 1970er Jahre ein Studium überhaupt beginnen zu können. Andere Berufsperspektiven, die keinen akademischen Zugang erfordert hätten und für die sein Vater wirbt, verwirft er. Angetrieben wird er von einem nicht näher spezifizierten Wunsch nach Wissen. Die Alternative eines Sozialpädagogik-Studiums hat A. kurz erwogen. Die BAföG-Förderung und eine frühe Beziehung zu einer berufstätigen Freundin ermöglichen ein von finanzieller Knappheit unbeeinträchtigtes Studium. Allerdings ist er hinsichtlich seiner mit dem Theologiestudium verbundenen Erkenntnis-, Einstellungs- und Haltungserwartungen recht früh enttäuscht worden. Den Gedanken, zu einem Sozialpädagogik-Studium zu wechseln, realisiert er aber nicht.
1.3 Prägungen und zentrale Themen im Studium
Das Wissen, das A. als stärksten Antrieb für die Aufnahme eines Studiums bezeichnet, erwies sich für ihn recht bald im Blick auf das Theologiestudium – so sein starker, aber auch mehrdeutiger Begriff – als totes Wissen. Er beklagt die durch keinerlei curriculare Strukturen regulierte Zufälligkeit der Studienthemen. Die persönliche Ausstrahlung eines religionskritischen Barthianers unter seinen Professoren habe ihn von einer rechtzeitigeren fruchtbaren Beschäftigung mit der Theologie Paul Tillichs und dem Konzept der Korrelation abgehalten. Orientierung und Gewissheit kann ihm das tote Wissen der Theologie nicht bieten.
Stärkeres Interesse entwickelt A. zunächst an der Theologie Eugen Drewermanns, wird dann aber durch dessen depressive Stimmlage abgeschreckt. Sein psychologisches Interesse verbindet sich hier mit einem psychologischen Urteil. Im Blick auf sein Studium und darauf, warum er es überhaupt abschließt, wird nicht recht erkennbar, wie er die Spannung zwischen seinem Wissensanspruch und dem dazu nicht ins Verhältnis zu setzenden Anspruch auf Glaubensgewissheit bearbeitet.
1.4 Berufliche Entwicklungen
Anfang der 1980er Jahre wird A. auf einer ländlichen Pfarrstelle, bei der er drei Gemeinden zu betreuen hat, gleichsam ins kalte Wasser gestoßen. Trotz der bereits im Studium erfolgten Ernüchterung lassen ihn erst die Schwierigkeiten des Berufsfeldes an seiner Berufswahl zweifeln. Auf seinem langen Weg stellt A. sich immer wieder die Frage: ›Kann ich weiterhin Pfarrer sein, will ich das?‹ Nun erst bedrängt ihn neben den äußeren Schwierigkeiten das innerliche Problem, dass nichts war mit dem Wissen. Es bleibt dabei offen, was er unter Wissen versteht: Glaubensgewissheit, theologisches Fachwissen oder berufliches Praxiswissen.
A. verdrängt seine Probleme nicht. Er erwägt berufliche Alternativen und entscheidet sich dann für eine berufsbegleitende Ausbildung als Psychagoge, die er gegen viele Schwierigkeiten fast zu Ende bringt. Zugleich arbeitet er auf der Hälfte seiner Pfarrstelle als Religionslehrer. Ein Berufswechsel in eine therapeutische Praxis wird aber durch ein neues Therapiegesetz verhindert, durch das die Chancen auf eine Approbation unkalkulierbar werden. A. bemüht sich nun, die mit der Zusatzausbildung erworbenen Kenntnisse und Qualifikationen mit dem Pfarrberuf zu verbinden. Er absolviert eine pastoral-psychologische Ausbildung als Gestaltseelsorger, bei der ihm ganz viele religiöse Fragestellungen auf einmal in ganz anderer Art und Weise präsent werden. Beruflich bleibt diese glückliche Verbindung von Sonderqualifizierung und starkem inhaltlichem Interesse zunächst folgenlos. Er kann sich aber mit der sich bald bietenden Gelegenheit einer eingeschränkten Gemeindepfarrstelle und der Beauftragung an der nahegelegenen Hochschule – der beruflichen Konstellation, die bis zum Zeitpunkt des Interviews andauert – arrangieren.
A.s Berufsweg bleibt mit der Suche nach inhaltlicher Orientierung verbunden. Er gibt sich mit der Situation eines Landpfarrers unter prekären Bedingungen nicht zufrieden. Mit einer Berufstätigkeit als Psychagoge wären A.s Zweifel an seiner Berufswahl zum Zuge gekommen. Er hätte dabei auch persönliche Interessen und Neigungen einbringen können. Immerhin herrschen für ihn in seiner Arbeit an der Hochschule weniger religiöse als psychologieaffine Themen vor. Vor allem plädiert er für eine Öffnung hin zu den Naturwissenschaften und weg vom dogmatischen System. Andeutungsweise, wissenschaftstheoretisch kaum expliziert, wird ein naturalistischer Begriff von Wissen erkennbar, der mit dem spezifischen Modus theologischer Begriffsbildung schwer vereinbar erscheint.
1.5 Kirchenkritik
Dogmenkritik verbindet sich bei A. mit einer Kirchenkritik: […] ich glaube persönlich nicht, dass die Volkskirche das Ende des 21. Jahrhunderts in der Form erleben wird in Deutschland. […] Wir erreichen niemanden mehr, glaube ich. Der Kirche weht der Wind ins Gesicht. (.) Berechtigt und nicht berechtigt teilweise. Wo sie noch als Institution ernst genommen wird, wird sie als Verein unter Vereinen wahrgenommen. Bei kirchenleitenden Personen, die das nicht wahrnehmen, diagnostiziert er narzisstische Störungen. Sie bauen Potemkinsche Dörfer wie in der DDR. Sein Anspruch steht dazu im Kontrast: Ich kann Menschen so nehmen wie sie sind. Ähm, wo ich glaube, gerade bei Kirche ist das oft nicht so einfach. A. nimmt kirchliche Programmformeln wie »Wachsen gegen den Trend« überaus kritisch in den Blick.
Es hat den Anschein, als setzten sich die Motive, die A. aufgrund seiner persönlichen intellektuellen Entwicklung in Distanz zum Pfarrberuf bringen, in seiner Diagnose der Lage der Kirche und des Pfarrberufs generell fort, sodass bei ihm subjektive Motive und objektive Diagnosen bruchlos ineinander laufen. Von Religion, deren Bedeutung er schwinden sieht, spricht er dabei ohne nähere Differenzierung.
1.6 Das Bild vom Pfarrberuf
Auf die Frage nach der Zukunft des Pfarrberufs äußert sich A. im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Vermittlung zwischen Naturwissenschaften und Hermeneutik: Ich glaube der Pfarrer heute muss im guten Sinne des Wortes ein guter Zeitgenosse sein. Und zwar verankert im Weltwissen und zwar das auf dem höchsten Niveau des Weltwissens, ob er das selber intellektuell abbilden kann, ist zweitrangig dabei. Aber er muss sich bemühen auf dem Niveau, wo/ auf dem heute gedacht wird, auf dem/ äh die Wissenschaften, auf die es für ihn mit ankommt, mitzudenken. Zu der dafür erforderlichen Bildung bleibe zu wenig Zeit.
Veränderungen des Berufsbildes spiegeln sich für A. in dem Verlust der Vertrauenswürdigkeit im Vergleich zu anderen Berufen. Die jungen Theologen, die er kennt, können an dieser Entwicklung nichts ändern: die kommen von der Uni, wo ich das Gefühl habe, die haben etwas Pfarrherrliches im Hintergrund und glauben, sie könnten eine Art Pfarrer sein, wie es nicht mal mehr in den fünfziger Jahren möglich war. Er beobachtet bei ihnen eine dogmatische Enge und zugleich eine liturgische Orthodoxie, wo ich richtig Angst habe manchmal davor. Und die auf die Schnauze fallen werden.
A. konzediert, dass seine strengen Ansprüche an die Gestaltung des Pfarramts im Regelfall kaum zu erfüllen sind. Er sieht durchaus die religiöse Dimension des Pfarrberufs (ohne sie so zu bezeichnen), muss aber auch diese Dimension letztlich psychologisieren: Ihnen werden manchmal quasi priesterliche Funktionen zugeschrieben und manche müssen wir glaube ich auch annehmen. Ich glaube, es macht für die Menschen einen Unterschied, ob der Pfarrer segnet und ob er sich/ wie er sich zum Segnen verhält. […] Da wird einem was zugeschrieben und mit Übertragung und Gegenübertragung läuft das auch.
Entscheidender als die Wahrnehmung priesterlicher Funktionen scheint für ihn indessen zu sein, über die engführenden Kompetenzen auf Gottesdienst und die Kasualien und so weiter hinaus sich im politischen, sozialen und kulturellen Umfeld der Gemeinde zu bewegen. Auch in diesem Sinne müsse der Pfarrer Zeitgenosse im guten Sinn sein und sich verankern können an dem Ort, an dem er ist.
1.7 Religionskompetenz
Schon die in den Eingangssequenzen des Interviews erkennbare Zurückhaltung gegenüber explizit religiösen Aspekten seiner Biographie und seines Studieninteresses als auch die Charakterisierung der mit dem Studium verbundenen Ernüchterung lässt bei A. eine geringe Ausprägung dessen erkennen, was man »Sinn und Geschmack« für Religion nennen kann, noch weniger eine Berufsmotivation aus einem starken persönlichen Glauben. Es zeigt sich in dem von A. beschriebenen Berufsprofil, dass er seine Arbeit auf eine Weise gestaltet, bei der der für den Pfarrberuf im Zentrum stehende Umgang mit Religion – der eigenen wie der in der Gemeinde begegnenden Religion der Leute – eine eher geringe, im Extremfall so gut wie keine Rolle spielt. Das scheint nicht zuletzt am ungeklärten Verhältnis zu liegen, mit dem er seine Ansprüche auf Wissen und Gewissheit verbindet.
Die von ihm als eine starke Strömung der 70er Jahre diagnostizierten Möglichkeiten, innerhalb des Pfarramts den von ihm für ungeklärt gehaltenen Status theologischen Wissens zu kaschieren durch ethische Predigten, versagt er sich als eine Ausflucht, die ich eine Zeitlang nutzen konnte, aber die nicht gereicht hat für mich innerlich. A. begibt sich auf eine Wanderschaft nicht im Sinne von äußerem Wechsel, sondern von innerem Wechsel und Suchen. Glaubensgewissheiten, wie er sie im Studium vergeblich anstrebte, gewinnt er auf diesem Wege nicht. Aber er findet in einer bestimmten Art von Kontemplationspraxis eine Art von Gewissheit in einer Form, die ich nicht gedacht hätte und zwar nicht im fundamentalistischen Lager, und nicht die einfachen Antworten suchend, sondern über den Weg der Kontemplation. A. beschreibt ausführlich die vom ihm besuchten Kontemplationskurse als Lernweg mit kognitiven und therapeutischen Dimensionen. Er entscheidet sich bewusst gegen einen östlichen Weg und gegen Esoterisches und verbindet Mystik mit Naturwissenschaft. So fügen sich bei ihm doch noch (aus theologischer Perspektive wird man sagen müssen: auf recht erstaunliche Weise) Wissen und Gewissheit zusammen, nämlich auf dem Weg der Naturalisierung von Bewusstseinsphänomenen. Physik, vor allem Quantenphysik, ist für ihn neben den Neurowissenschaften die moderne Leitwissenschaft, die ihm auch psychische und religiöse Phänomene erklärt. Er nimmt für sich in Anspruch, auf diese Weise eben genau nicht das zu tun, was er im kirchlichen Bereich beobachtet, nämlich Sachen zu behaupten, wo jeder weiß, das ist Schwachsinn, was du sagst, jedenfalls auf wissenschaftlicher Ebene. Und dann sagen, naja Glaubensebene ist was ganz anderes. Über den Weg einer Dogmenkritik versucht A. den Bogen von naturwissenschaftlichen und durch Kontemplationsübungen gewonnenen Einsichten zu einer Theologie zu schlagen, die sich nicht mehr in dogmatischen Topoi ausdrücken lässt, aber dennoch eine Ebene erreicht, zu der Menschen mit ihren Erfahrungen, die sie machen, Zugang haben, und nicht etwas bloß zu behaupten. Dogmen sind demgegenüber für ihn obsolete Sachverhaltsbehauptungen und nicht Deutungen religiöser Erfahrungen. A. nimmt für sich in Anspruch, dass seine Dogmenkritik und seine Erfahrungen mit Kontemplationspraktiken auch Auswirkungen auf seine Gottesdienstgestaltung haben. Firlefänzchen (die typischen Familiengottesdienste der siebziger, achtziger Jahre. Wir fassen uns alle an und sind alle fröhlich) lehnt er ab. Zu der Art von Reformern, die durch die Integration bestimmter Geselligkeitsformen die Gottesdienste auflockern wollen, rechnet A. sich nicht. Andererseits lässt er Vorbehalte gegen strenge liturgische Formen erkennen. Zum ersten (und einzigen) Mal im Interview äußert sich A. zur Frage einer explizit religiösen Praxis in seinem Berufsfeld beim Thema der durch seine Kontemplationserfahrungen angeregten Integration von Stillemomenten in seinen Gottesdiensten. Unabhängig davon, ob seine Selbstcharakterisierung zutrifft, dafür eine besondere Begabung zu haben (das ist keine Unbescheidenheit, sondern das ist eine Gabe von mir, da stehe ich auch zu), ist bemerkenswert, dass er dort von Gott spricht, wo er den Menschen im Gottesdienst durch Phasen der Stille Räume für ihre eigenen Gedanken und Gefühle geben zu können hofft und sie nicht mit Worten traktiert: Egal, ob ich nun in der Stille einen klareren Gedanken fassen konnte und ihn vor dich stellen, oder ob alles wild in mir hin und her ging. Und du, mein Gott, weißt wie es um mich bestellt ist. Du siehst in mein Herz. Religion im emphatischen Sinne kommt in seiner pfarramtlichen Praxis dort vor, wo sie nicht ausdrücklich thematisch wird. Nachvollziehbar ist, dass er die Fruchtbarkeit der Stillemomente als Auswirkungen der Kontemplation auffasst. Unklar bleibt, warum er darin zugleich auch ein Resultat seiner Beschäftigung mit Wissenschaft sieht. A. rechnet es auch seinen Erfahrungen mit naturwissenschaftlichen Themen zu, dass er davon abrückt, seinen Konfirmanden das Glaubensbekenntnis nahezubringen. Diese Erfahrungen lassen ihn letztlich auch den Begriff Glauben vermeiden, weil das eine zu ungenaue Chiffre sei. Mit dem Vorbehalt gegen Theologie als leerem Dogmatismus korrespondiert ein abwesendes Gottesbild.
Sein Blick in die Zukunft der Religion ist skeptisch: Ich halte auch diese Renaissance von Religion für einen Irrtum, der ist, ist nicht wirklich da. Es geht ihm vielmehr darum, dass wir uns bemühen, Christen zu werden. Wenn ich das Wort schon benutze, ich benutze es eigentlich nicht. Sondern ein wahrer Mensch zu werden. Das ist Nachfolge für mich. Menschwerdung ist Nachfolge und die ist nie abgeschlossen. A. fasst Begriffe wie ›Glauben‹ oder ›Christen‹ mit spitzen Fingern an, weil er sie für missverständlich oder gar unverständlich zu halten scheint. Es ist eine offene Frage, wie weit er damit nun doch das tut, was er zu Beginn seiner Berufspraxis als Ausweichen auf Ethik hat vermeiden wollen. Wichtig ist ihm, frei und ohne Konzept zu predigen. Das scheint für A. auch zu bedeuten, sich von jenen Formen und Begriffen frei zu halten, die für ihn leer geworden sind, die ihn auf religiöse Vollzugsformen und Vorstellungsgehalte festlegen und die er mit seinen Vorstellungen von Wissen für unvereinbar hält.
1.8 Der professionelle Kern der Berufspraxis von Albert Anders
In eben diesem Sinne sieht A. als das Hauptmerkmal seiner gemeindlichen Praxis, dass die Kirchengemeinde im kommunalen Bereich wirklich sehr gut verankert ist. Das war eher meine Aufgabe hier. Wir haben uns nie hier zurückgezogen und haben unser Ding gemacht, sondern wir haben uns immer bemüht in den kommunalen Zusammenhängen mit drin zu sein und Stimme zu haben und wir sind bis heute einfach auch nicht nur wahrgenommene Stimme und zwar nicht im moralischen Sinne, sondern im Sinne von praktischer diakonischer Arbeit.
Mit einer gewissen Emphase (Ich und der Bürgermeister: Wie kann sich das Dorf entwickeln?) und einem Sinn für die exemplarische Bedeutung von Details schildert A. seine – vor allem diakonischen und bildungsfördernden – Projekte im kommunalpolitischen Feld. Er sieht sich als Organisator und als Mediator. Man hat den Eindruck, dass er ohne diese Aktivitäten die tiefe, nicht nur intellektuelle, sondern auch psychische Krise, die ihn in den ersten Berufsjahren an seiner Berufswahl zweifeln lässt, nicht hätte überwinden können.
Bestärkt durch seine Erfahrungen im Zusammenhang mit seiner therapeutischen Ausbildung entwickelt er eine eigene Theorie, in der sich ein in gewissem Maße szientistischer Glaube an naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit einer naturalistischen Deutung psychischer Phänomene zusammenfügt. Insofern er seine psychologischen Interessen mit der mit beachtlichem Aufwand fundierten Kontemplationspraxis verbindet, gelingt es ihm, den Kontakt zu religionshaltigen Vorstellungen und Themen nicht völlig abreißen zu lassen, ohne dabei aber theologische Reflexions- und Deutungskonzepte explizit in Anspruch zu nehmen. Theologische Reflexionsformen scheinen ihm schon während des Studiums geradezu zerfallen zu sein. Sie bieten ihm allenfalls leere Chiffren, die er fast völlig vermeidet, weil er sie für anfällig hält, als Schwachsinn missverstanden zu werden. An christliche Vollzugsformen und Vorstellungsgehalte kann er nur im Modus ihrer weitgehenden Vermeidung anknüpfen. Sie werden letztlich auf etwas allgemein Menschliches reduziert.
In der Pflege kontemplativer Praktiken hat A. eine Möglichkeit gefunden, sich individuell mit seiner religiösen Profession zu arrangieren. Damit sind aber kaum Möglichkeiten geöffnet, die Religiosität seiner Klientele zu erkennen, zu fördern und wertzuschätzen. Die von ihm als Anknüpfungspunkt an seine Kontemplationserfahrungen gepflegte Stille im Gottesdienst ist ja gerade durch den Verzicht auf die kommunikative Explikation des Evangeliums gekennzeichnet. Seine individuelle Orientierung an religiös gedeuteten psychischen Phänomenen in Verbindung mit einer – auch wenn er diesen Begriff für sich ablehnt – esoterischen Lesart naturwissenschaftlicher Theorien eignet sich kaum zur öffentlichen Gestaltung evangelischer Religion.
Den wesentlichen Schwerpunkt seiner pfarramtlichen Praxis findet A. folgerichtig, indem er die Kirche als Verein unter Vereinen kommunalpolitisch, diakonisch und sozialpädagogisch in Szene setzt. Dabei scheint A. auch seine persönliche Rolle gefunden zu haben und mit einem starken Geltungsbewusstsein verbinden zu können. Er scheint gewissermaßen in zwei Parallelwelten zu leben: Neben der Welt seiner intellektuell gepflegten Privattheorie agiert er im Pfarrberuf als eine Art Kirchenfunktionär für gesellschaftsdiakonische Aufgaben. Religion (seine eigene wie die der Gemeinde) spielt dabei keine recht erkennbare eine Rolle. Dominant ist »Religion« als das Unsagbare, auf das irgendwie Psychologie und Meditation verweisen. Das derart Unsagbare wirkt sich sozial aus als organisierte Mitwirkung im Gemeinwesen, jedoch wird die Vermittlung zwischen dem »unsagbaren« Kern und den christlich-religiösen Gehalten von A. nicht nachvollzogen.
A. lässt wenig Unsicherheit oder gar Selbstzweifel erkennen. Er lebt von dem Selbstbild, weiten Teilen seiner Kirche ein wahres und zeitgemäßes Wissen voraus zu haben, empfindet sich aber als ein ungehörter Prophet. Die Kirche hat, jedenfalls in ihrer jetzigen Gestalt, für ihn keine Zukunft. Dass Religion im Schwinden begriffen ist, erscheint ihm als eine Art von unbeeinflussbarem Naturereignis. Wie die Religion seiner Gemeindeglieder zu fördern ist, stellt sich ihm folgerichtig kaum als Frage.