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4. KIRCHE ALS ORT ESCHATOLOGISCHER OFFENHEIT FÜR MENSCHEN UNTERSCHIEDLICHER SOZIALER UND RELIGIÖSER ORIENTIERUNG

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PFARRERIN DORIS DEGEN

Dietlind Fischer/Interview: Bernhard Dressler

Ich bin weggegeben worden als ähm (.) Neugeborene und ähm ich denke, dass diese Suche danach, wer ist mein Vater, äh auch Gott eingeschlossen hat.

Und dass ich Pfarrerin bin und wie ich Pfarrerin bin, das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass ich Willkommenskultur produziere als Pfarrerin. […] Ich will, dass Menschen willkommen sind. Und weil ich davon überzeugt bin, dass Gott uns willkommen heißt. Und das mache ich, das ist mein pfarramtliches Handeln und also da ist für mich gelebte und gepredigte oder verkündete oder äh oder produzierte Theologie absolut eins.

4.1 Persönliche Situation

Doris Degen, 55 Jahre alt, ist Pfarrerin in einem großstädtischen Teampfarramt. Ihre Schwerpunkte liegen auf sozialdiakonischen Aufgaben und Projekten, auf Konfirmandenarbeit und Religionsunterricht. Darüber hinaus wirkt sie mit in einem landeskirchlichen Gremium. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.

4.2 Religiöse Sozialisation

Aufgewachsen als adoptiertes Kind bei Eltern, die sich einer landeskirchlichen Sondergemeinde angeschlossen hatten, erlebt Doris Degen gemeinsam mit den Eltern intellektuell anspruchsvolle und sie begeisternde Sonntagsgottesdienste. Sie erinnert sich an frühkindliche tendenziell religiöse Szenen, in denen ihre Mutter das Lied »Guten Abend, gute Nacht« mit ihr gesungen und ihrer Frage nachgegangen ist, ob Gott wirklich wolle, dass es am nächsten Tag aufgeweckt würde. Später tragen besonders gute Schulleistungen ihr ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes ein. Sie erwägt, Jura oder Psychologie zu studieren, um die Menschen besser zu verstehen und vor allem mich selbst. Aber dann studiert sie Theologie, weil sie von einem tollen Pfarrer in der Konfi-Zeit einen besonders starken Impuls zum geistigen, (.) ähm politisch verantwortlichen, intellektuellen Leben bekommen hat, den sie als unglaublichen Gewinn und mehr/Mehrwert erlebte.

4.3 Studium und Vikariat

Das Theologiestudium ermöglicht Doris Degen, in der Tradition von Karl Barth die Theologie als dogmatische Wissenschaft und als Gesellschaftspolitik zusammensehen zu können. Sie ist aufmerksam und empfänglich für Ansätze einer »öffentlichen Theologie«, wie sie sie im Studium erlebt. Das ermöglicht ihr, ein zunächst besonders psychoanalytisch motiviertes Interesse an der Theologie nicht auf einen nur an individuelle Hörende gerichteten Anspruch religiöser Kommunikation zu reduzieren, sondern kontinuierlich auch Aufmerksamkeit für den Öffentlichkeitsanspruch der Theologie zu entwickeln. Sie betont in Unterscheidung zur Psychologie den Weltanspruch bzw. den Gesellschaftsanspruch von Theologie. Doris Degen studiert mit einem breit gefächerten Interesse und intellektueller Beweglichkeit Philosophie, Germanistik und Theologie. Ihren Studienort wählt sie aus, weil ich links werden wollte, d. h. sie sucht eine politische Haltung, die über die bürgerlich-liberale ihres Elternhauses hinausführt. Zu Beginn des Theologiestudiums setzt sie sich in marxistischen und sozialistischen Gruppen mit Gesellschaftspolitik auseinander. Das mündet verbindend in der Mitentwicklung einer grün-alternativen politischen Gruppierung.

Ihre Auseinandersetzung mit dem Trauma als weggegebenes Kind führt sie gut 10 Jahre lang weiter mit selbstgeschriebenen Artikeln zum Thema Adoption, bis sie schließlich – bei einem Buchtitel zu »ungewollten« Kindern – erkennt, dass das für sie nicht zutrifft. Sie kann sich nun, in der Dimension eines befreienden theologischen Denkens und Redens, als von den Adoptiveltern und auch von Gott »gewollt« empfinden. Diese Erkenntnis stellt einen für sie signifikanten Mehrwert dar, ist eine Überzeugung und Gewissheit, die für sie, als ein Ausdruck von Frömmigkeit, zur Voraussetzung für den Beruf der Pfarrerin wird. Den Eindruck einer großen Kontinuität in ihrer beruflichen Motivation weist sie freilich als äußerlich zurück: Nach außen habe ich immer alles prima geschafft. […] die Kämpfe habe ich einfach nach innen ähm/nach innen äh geführt. So habe sie wegen einer Essstörung eine lange Therapie gemacht um mit meinem Leben klar zu kommen, bevor sie Pfarrerin wurde. Die Brüche in ihrem Leben, insbesondere auch mit gescheiterten Beziehungen, habe sie theologisch reflektiert und daraus seien auch Folgerungen für ihr Pfarramt erwachsen. Ich gewinne Kraft für mein Leben aus meinem Beruf, nicht aus meiner Beziehung.

Als besonders prägend für ihr Berufsverständnis benennt Doris Degen mehrere Personen: neben ihrem spätbarthianischen Lehrer in der Systematischen Theologie, die Pfarrerin in einem kleinen Dorf, eine Religionspädagogin, die literarisch und politisch wirkende Theologin Dorothee Sölle sowie eine theologische Ausbilderin für Psychodrama, bei der sie viel gelernt habe. So sei sie eine praktisch arbeitende Theologin durch das Psychodrama geworden.

4.4 Berufs- bzw. Professionsverständnis

Die Pfarrerin Doris Degen verweist in ihrer berufsbiographischen Konstruktion mit Nachdruck und in stimmigen Wiederholungen auf zwei bedeutsame Stränge ihrer theologischen und persönlichen Entwicklung, die ihr Verständnis vom Pfarrerin-Sein prägen. Das ist zum einen eine gesellschaftlich-politische Orientierung und konkrete Handlungsgestalt. Und zum anderen hat sie ein subjektivpsychoanalytisches Motiv als das adoptierte Kind, das von seinen Eltern weggegeben wurde. Beide Stränge haben für sie zum Beruf der Pfarrerin geführt.

Im Pfarrberuf kann sie diese beiden Motivstränge als wechselseitig übersetzungspflichtig und übersetzungsfähig zusammenführen. So will sie in der Kirche dafür sorgen, dass alle Menschen sich als gewollt und willkommen empfinden können. Konkret verfolgt sie dieses Anliegen, indem sie den Kirchenraum offenhält für individuelle Zugänge und dadurch, dass sie für Flüchtlinge ein Kirchenasyl derart organisiert, dass es auch Kirchenjuristen überzeugt, und zudem über viele Jahre ein einmal wöchentlich stattfindendes gemeinsames Mittagessen für alle ausrichtet, einschließlich der Obdachlosen. 50 Leute jeden Freitag unterm Abendmahlsfenster in der Stadtkirche. Also äh da bin ich richtig stolz drauf. Mit derartigen Projekten kann sie die Verknüpfung von individuell-existentieller Bedeutsamkeit mit einem öffentlichen Anspruch von Theologie stimmig fortführen und trifft auf Zustimmung und Anerkennung in der Kirchengemeinde.

Da Frau Degen in einem städtischen Teampfarramt tätig ist, kann sie die projektbezogenen Stärken ihrer Arbeit realisieren. Außerdem erzählt sie begeistert von ihrer Konfirmandenarbeit, von der Seelsorge und vom Religionsunterricht als Schulpfarrerin; dagegen bleibt die Gestaltung von Gottesdiensten, Predigten und Kasualien unerwähnt. Frau Degen schätzt die kooperative Arbeit in einem Team, bei dem sich die Beteiligten in ihren jeweiligen Schwerpunktbereichen frei bewegen und wechselseitig anerkennen. Sie sieht in der Teamarbeit die Zukunft des Pfarrberufs, auch in ländlichen Regionen.

Das Professionsverständnis ihres Pfarrerin-Seins zeigt sich besonders an folgendem Verhalten: Als sie zusammen mit einem Kollegen Kontakt zur örtlichen Moschee aufnimmt, verweist sie der Imam an die Frauengruppe, was sie und ihren Kollegen als Mangel an professioneller Anerkennung geradezu empört. Aber nach einem längeren Aufenthalt in Indien ändert sie diese Haltung und beginnt, sich für die muslimische Frauengruppe zu interessieren. Es ist der Beginn einer regelmäßigen interreligiösen Kooperation: Das ist durch Indien entstanden, dass ich von diesem hohen Ross runtergekommen bin und gedacht habe, ich müsste erst eine Anerkennung bekommen, bevor ich mich in die Niederungen begebe. Inzwischen hat sie so viel Souveränität gewonnen, dass sie Konflikte zwischen einem Muslim und einem Christen schlichten kann. Und sie wird von muslimischen Frauen seelsorgerlich in Anspruch genommen, die lieber zu mir kommen als zum Imam. Sie hilft ihnen dabei, ihre Anliegen mit Bezug auf den Koran zu begründen.

Als besondere Schwierigkeit benennt sie ihre Erfahrungen mit dem System Schule, innerhalb dessen sie für den Religionsunterricht einen Freiraum jenseits der schulischen Regeln und Erwartungen suchte. Ähnlich beurteilt sie das System Kirche mit der entsprechenden Kirchenleitung, von der sie sich bei innovativen Vorhaben nicht unterstützt, mitunter auch abgewiesen fühlt. Das mindert zwar ihre Freude an ihrem Beruf. Jedoch kann sie die persönliche Zurückweisung als ein systemisches Problem der Kirchenleitung interpretieren, wodurch es eher zum Schaden der Institution gereicht als dass es ihre berufliche Motivation beeinträchtigt. So sieht sie sich selbst als eine Anarchistin, die sich über Regeln, Erwartungen, Grenzen hinwegsetzt oder zumindest permanent prüft, was innerhalb der Grenzen möglich ist. Das tut sie auch auf die Gefahr hin, anzuecken oder zurückgewiesen zu werden.

Ihr Bild von Kirche zeigt eine eschatologische Offenheit für Menschen unterschiedlicher sozialer und religiöser Orientierung. Eins der schönen Bilder äh oder eins f/ein/ ein ganz tragfähiges Bild für mich ist diese eschatologische Vorstellung: Sie werden kommen von Süden und Norden, Osten und Westen und zu Tisch sitzen im Reich Gottes. In ihrer Funktion als Mitglied eines Kirchenparlaments sieht sie sich als Wächterin und Mahnerin, die sich immer dann zu Wort meldet, wenn Menschen ausgegrenzt werden oder wenn etwas Wichtiges in der öffentlichen Präsenz von Kirche verloren zu gehen droht.

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