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7. »KIRCHE ALS HEIMAT« HAT KEIN MONOPOL MEHR. DAS BEMÜHEN, EINE SOZIALE RELEVANZ VON KIRCHE ERKENNBAR ZU HALTEN

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PFARRER GERHARD GRIESE

Dietlind Fischer/Interview: Andreas Feige

Ich stamme aus einem volkskirchlichen Elternhaus, bin in der Kirche in vielen Funktionen aufgewachsen: Von der Gestaltung von Schaukästen über die Kindergottesdienstarbeit, Jugendarbeit, Lesungen im Gottesdienst, Begleitung auf Freizeiten, sammeln für die Diakonie, singen in Chören, Krippenspiel, also ich bin so ein klassisches Kind der Volkskirche.

Die latente Kraft könnte darin bestehen, dass mit Kirche immer noch eine Institution ja sichtbar ist, in den Gebäuden, in ihren Personen, in ihren öffentlichen Auftritten, wo ein moralischer Kodex noch präsent ist, aber auch Menschen, die das zu leben versuchen. Also wo Gott in vielen Verkleidungen, auch manchmal in zwei, drei Kostümen übereinander, doch noch irgendwie unter den Menschen ist.

7.1 Persönliche Situation

Gerhard Griese ist 61 Jahre alt, verheiratet, Vater von vier erwachsenen Kindern. Er ist in einer ländlichen Gemeinde aufgewachsen und arbeitet als Pfarrer wieder in der Region seiner Jugendzeit.

7.2 Religiöse Sozialisation

Die Entscheidung für den Pfarrberuf hat sich vor dem Hintergrund eines vielfältigen verbindlichen Engagements als Jugendlicher in gemeindekirchlichen Belangen entwickelt. Für Griese gehörte das Austragen des Gemeindebriefs, das Gestalten von Schaukästen, Krippenspiel, Kindergottesdienstarbeit, Jugendarbeit, Lesungen im Gottesdienst, Sammeln für die Diakonie, Singen in Kirchenchören, Gestaltung von Jugendfreizeiten zu den Merkmalen seiner volkskirchlichen Zugehörigkeit. Sein Verständnis von Volkskirche umfasst eine besonders hohe, langfristige und verantwortliche Bindung an die Kirche. Er nennt sich selbst ein klassisches Kind der Volkskirche.

Auch wenn die praktischen, liturgischen, diakonischen, kulturellen, kommunikativen und partizipativen Tätigkeiten wie ein Propädeutikum für den Pfarrerberuf wirkten, waren auch andere Berufe in seinem Blick. So nennt er Orthopädiemechaniker, Sonderschullehrer oder Landwirt; an anderer Stelle noch Religionslehrer oder Diakon – mithin Berufe, die jeweils ein handwerkliches Geschick und ein sozialdiakonisches Engagement erfordern.

7.3 Studium und Vikariat

Griese verfügt als Jugendlicher aufgrund seiner vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Kirche über pädagogische Fähigkeiten, die er dann auch während des Studiums in seiner Examensgruppe hilfreich unterstützend zum Einsatz bringt. Er entwirft Lernmittel, Kartenspiele, Pläne, Lernhilfen, um Botschaften verständlich zu machen. Die Entscheidung für das Studium der Theologie war ihm erst nach dem knapp zweijährigen Wehrdienst in der Bundeswehr und nach einem sehr versöhnlichen Erlebnis mit seinem Vater möglich. Die Beziehung zu seinem Vater war immer schwierig gewesen. Griese spricht nicht über mögliche Gründe oder Anlässe, aber er markiert den Konflikt mit dem Vater in religiöser Terminologie als sehr versöhnlich gelöst: Versöhnung kennzeichnet er als Lebensthema. Vielleicht ist er davon ausgegangen, dass eine unversöhnte Vater-Sohn-Beziehung keine angemessene Voraussetzung für den Pfarrerberuf ist. Vom Studium der Theologie hat er sich auch selbsttherapeutische Effekte versprochen. Also Klärung: Wer bin ich? Was kann ich? Wie bin ich mit meinem Herrn unterwegs? Die Entscheidung für das Studium trifft er mit großer Ernsthaftigkeit, als ein Versöhnter, der in seinem ehrenamtlichen Engagement – er nennt es Anlaufstrecke – Freude an der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erlebt hat und auf gute Resonanz getroffen ist.

Nicht das Studium als Lebensphase hat ihn besonders beeindruckt, sondern einzelne Lehrer. Er erinnert sich z. B. an einen bekannten Systematiker in Deutschland, auch an Lehrer in der Schweiz: der eine war eher langweilig, ein anderer so ein Brausekopf, so ein Choleriker. Seine ihm eigene theologische Prägung habe er erst später erfahren durch Fulbert Steffensky, von dem habe ich viel gelesen. Ja, und dachte, das ist meine Sprache, das ist meine Denke. Aber während des Studiums kann ich das kaum sagen.

Während des Studiums in München nimmt er Kontakt auf zum CVJM, ein frommer Verein, der nun anders daher kam als meine Volkskirche, nämlich »Bekenne dich zu Jesus«. »Wer ist der Herr deines Herzens?«. Gebetsgemeinschaft. Das waren alles Dinge, die ich überhaupt nicht kannte, und wo ich auf eine Art bekannt wurde, die mir sehr nah gekommen ist, aber nicht bedrängend, aber kurz davor. […] In der Volkskirche war nie ein Bekenntnisakt gefordert.

Während des Studiums in an vier bedeutenden Fakultäten in Deutschland und der Schweiz hat er niemals einen Konflikt empfunden zwischen wissenschaftlicher Exegese und biblizistischer Einstellung zum Beispiel. Trotz der Warnungen seines Vaters oder anderer Personen vor theologischen Exegeten, die für gläubige Personen eine Verunsicherung bedeuten können, hat ihn selbst das Studium diesbezüglich nicht irritiert: Die hatte nie zu keiner Zeit eine unantastbare Aura für mich, die Heilige Schrift.

7.4 Berufsverständnis und Professionsprofil

Gerhard Griese verwendet von sich aus kaum theologisches Fachvokabular und argumentiert erst dann, wenn er dazu direkt aufgefordert wird. Seine Stärke liegt im Erzählen, in der Verwendung von Bildern und Gleichnissen, in der Paraphrasierung biblischer Zitate. Seine beiden »Lebensthemen« sind Versöhnung und Vermittlung. Der Durst bei einer Wanderung im Yosemite-Nationalpark in Sichtweite eines gefährlichen Wasserfalls wird für ihn zu einem Gleichnis für die Gottesbegegnung im kleinen Rinnsal nebendran, an dem er seinen Durst stillen konnte. Das ist ihm auch ein Gleichnis für die Flut von Worten, die Menschen doch nicht tränken, weil sie nicht verständlich genug sind. Deshalb sieht er sich als Pfarrer auch in seinen pädagogischen Kompetenzen gefragt.

Zentrale theologische topoi wie die Rechtfertigungslehre sind für ihn Abstrakta, die zwar bei der nachträglichen intellektuellen Überprüfung von handlungspraktischen Aktionen zum Zuge kommen können, aus denen aber keine Handlungsimpulse erwachsen. Als Pfarrer authentisch sein bedeutet für Griese mit Paulus formuliert: Wer bin ich denn als Wohnungsgeber Christi? In welches Haus lasse ich ihn denn rein? … Welche Fähigkeiten oder welche Charismen stelle ich dem Geist zur Verfügung?

Für ihn steht die Verständlichkeit dessen, was ein Pfarrer zu sagen hat, im Mittelpunkt. Die Gemeindemitglieder sollen den Pfarrer deutlich sprechen hören und seine Gedanken verstehen: Der Pfarrer ist in meinem Verständnis ein großer Vermittler zwischen einem alten Text und Zeitgenossen. Kommunikative Fähigkeiten seien eine der wichtigsten Dinge für Pfarrer. Relevanz gewinnt die Aufgabe der Vermittlung dadurch, dass ein Pfarrer mit den Gemeindemitgliedern lebt, mit ihnen spricht, isst, feiert und trauert als einer der Ihren, aus einer empathischen Haltung heraus, die versucht, den Juden ein Jude und dem Griechen ein Grieche zu sein in Gesprächen mit den Menschen. Er sieht den Pfarrer als Kulminationsfigur für Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, Fragen, Organisationen. Darin sieht er seinen Platz in der Kirche als Überzeugungsgemeinschaft und als Volkskirche, für die sein Herz schlägt. Ich musiziere gerne mit Menschen sagt er, und besonders gelingende Praxis erfährt er in kirchenmusikalischen Erlebnissen. Für den besten Gemeindebrief hat er mal einen Preis gewonnen.

Über die Zukunft der Kirche macht sich Gerhard Griese keine Sorgen. Ihm ist bewusst, dass die Kirche als Heimat kein Monopol mehr hat. Er nimmt auch wahr, dass die Kirchenmitgliedschaft schrumpft, dass es keinen Bereich gibt, auf dem die Kirche insgesamt wächst. Auch konkret vor Ort geht der Chor aus Altersgründen ein oder weil die Leiterin nicht mehr bezahlt werden kann. Dafür entstehe jedoch etwas Anderes, Neues, beispielsweise ein Kinderchor. Als Anbieter auf einem ausgedehnten Markt für Feiern, für Sinnstiftung, für Musik als Freizeitaktivität habe die Kirche als Alleinstellungsmerkmal so ein Stück Fremdcharakter. Unser Gebäude baut niemand mehr, unsere Musik spielt niemand mehr, aber sie hat dadurch schon noch so einen Reiz auch. So was, wie man sich gerne Antiquitäten ab und zu anschaut. Man wohnt in anderen Möbeln, aber man schaut sie sich (schmunzelnd) gerne an. Dann vermutlich noch das Zutrauen, dass wir nicht gewinnorientiert unsere Leistungen anbieten und von daher ehrlich sind. Dass wir natürlich Erfahrung haben in der Ausrichtung von Lebensübergängen, dass man uns das zutraut. So habe jedes Arbeitsfeld und jede Pflanze auf den verschiedenen Tätigkeitsfeldern ihre Zeit der Blüte und der Vergänglichkeit, wie Gerhard Griese mit Bezug auf den Prediger sagt. Es gilt für ihn, die Hoffnung auf Wahrheit und Ehrlichkeit weiter zu tragen, den Funken zu bewahren in der Hoffnung und mit der Überzeugung, dass die Wahrheit sich trotz Demütigung und Schmerz durchsetzt. Er erwartet von der Kirche, sich als Ort der Präsenz von reizvoller – wenn auch zunehmend minoritärer – Fremdheit zu bewähren.

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