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9. KIRCHE FÜR DAS GANZE DORF – SYMBOLORT FÜR DAS, WAS DIE HEIMISCHE KULTUR ÄSTHETISCH UND INHALTLICH ALS EINE CHRISTLICHE IDENTIFIZIEREN LÄSST
ОглавлениеPFARRERIN IRENE IMHOF
Andreas Feige/Interview: Bernhard Dressler
Ich bin mit Kindergottesdienst, Kindergruppe, Jugendgruppe aufgewachsen, hatte auch einen guten Kontakt zu der Pfarrerin damals in A., und die hat mich dann letztlich auch für das Theologiestudium interessiert. Für den Pfarrerberuf zuerst, dann auch fürs Studium.
Maßgeblich mitgeprägt hat mich in der Oberstufe mein Religionslehrer, wir haben Texte gelesen, Jean Paul, die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. Das hat mich unglaublich beeindruckt, damals so als 16-, 17-Jährige, dass man das denken darf. Ja, dass man so radikal fragen kann, es waren ja als Jugendliche auch meine Fragen.
9.1 Persönliche Situation
Irene Imhof ist 51 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann verantwortet die Öffentlichkeitsarbeit eines außerhalb des Wohnortes liegenden Unternehmens. Frau Imhof, aufgewachsen in einem vorstädtischen Ambiente einer mittelgroßen Stadt, strebte für ihr Vikariat bewusst in den ländlich-dörflichen Raum, um auch dort die sozialen Lebensstrukturen kennenzulernen. Sie bekam dann von der Kirchengemeinde, in der sie einige Jahre die Pfarrvikars-Stelle bekleidete, die Einladung, sich auf die frei gewordene Pfarrstelle zu bewerben. Das tat sie erfolgreich und hat sie bis in die Gegenwart inne.
9.2 Grundlegende Pfade im Berufszugang
Frau Imhof ist in einem familialen Setting aufgewachsen, in dem nicht die Familie zur Kirche gehörte, sondern die Kirche gleichsam in der Familie zu Hause war: Eltern und ein Großvater waren in verschiedenen Kirchenvorständen, Großmutter und Mutter in der Frauenhilfe bzw. im Chor; und zur Pfarrerin vor Ort bestand ebenfalls enger Kontakt. Die Möglichkeit zur Praxisbeobachtung an einer konkreten Person haben Irene Imhof schon recht früh den Fokus allererst auf den Pfarrberuf und dann erst auf das Theologiestudium legen lassen. Freilich hat sie sich erst während der Oberstufenzeit für das Ziel Theologiestudium und nicht für das zunächst erstplatzierte Berufsziel Medizin entschieden. Maßgeblich hat zu diesem Rangplatztausch ihr Oberstufen-RU bzw. der ihn gestaltende Pfarrer beigetragen. Durch den wurde sie mit der intellektuellen Erfahrung des freien Denkens, etwa am Beispiel eines Textes von Jean Paul (»Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«) bekannt gemacht. Und dieser Pfarrer hat wirklich auch unsere Fragen ernst genommen. So hat sie schon früh wesentliche Seins-Formen geistig-intellektueller Aktivität vorgestellt bekommen: das Denken und das Dürfen, das Kreative und die Ordnung; Negation und Affirmation.
Bereits also in ihrer familialen Sozialisation und dann in der Oberstufe des Gymnasiums lernt sie dasjenige kennen und für sich bzw. für ihre Berufswahlüberlegungen fruchtbar zu machen, was anderen üblicherweise frühestens im Studium, oft auch erst im Vikariat begegnet: die Frage und die Aufgabe, dass und wie Theologie Ziele und Praxis des Pfarramtes intellektuell-akademisch aufeinander zu beziehen und mithin professionell zu betreiben seien. Schon in dieser Zeit vermag sie sich – etwa über die Thematisierung der Spannung zwischen der metaphysisch und offenbarungstheologisch zu wendenden Gottesfrage an den Beispielen von Jean Paul und Karl Barth – neu-zusätzliche Beurteilungs-, Verstehens- und Formulierungsmaße für die eigene Weltwahrnehmung anzueignen, die sich in der Oberstufe intellektuell entfaltet.
9.3 Prägende Personen und Fragen im Studium
Frau Imhof beginnt ihr Studium an einer kleinen Fakultät und lernt dort eine linke und barthianische Theologie kennen. Sie wird von einem ihrer Lehrer ermuntert, den Studienort zu wechseln und auch liberal-konservative Richtungen der Theologie kennenzulernen. In der Schlussphase des Studiums wendet sie sich an ihrem dritten Studienort der neutestamentlichen Wissenschaft zu. In Kirchengeschichte schließlich schreibt sie ihre Examensarbeit zum Thema des Übergangs zwischen dem landesherrlichen Kirchenregiment und der Kirche in der Weimarer Republik, weil das sind ja die Grundlagen gewesen, die dann auch unsere Kirchen jetzt noch prägen.
9.4 Zentral prägende Erfahrungen im Vikariat
Gleich am Anfang ihres Vikariats sei ihr deutlich geworden, worauf es beim Arbeiten im Pfarramt auf dem Dorf ankomme: Dass man diese Strukturen kennt – und respektiert. Und dass man sehr aufmerksam zuhört auf das, was die Leute einem erzählen. Sie hat dabei gelernt, auch das ernst zu nehmen, was die Leute voneinander halten und das auch sagen; bzw. dass die Leute es akzeptieren, von der dörflich überschaubaren Öffentlichkeit beobachtet und darin normativ kontrolliert zu werden. Mit diesem Respekt vor etwas, was ihr als gelernter Städterin eher fremd war, zeigt sie etwas vom Ethos ihres Professionsverständnisses, das ihr der betreuende Propst immer wieder ans Herz gelegt habe: die Leute in dem, was sie bzw. wie sie sind, allererst ernst nehmen und dann überlegen, was ich ihnen da geben kann.
Dabei lehnt sie es strikt ab, zur Kennzeichnung dieser Menschen in ihrer Umgebung – wie der Interviewer laut überlegt – von Konventionschristentum zu sprechen. So sei es eben keine bloße Konvention, dass es z. B. nach ihrer Beobachtung in diesem Ort für die Jugendlichen einfach dazu gehört, Konfi zu sein und gemeinsam in diesem Jahr eine Menge zu erleben. So begreift Frau Imhof diese Phase im Leben der Jugendlichen als die des Erwachsenwerdens, des Kennenlernens von sich selber und anderen, des Sichausprobierens und des Sich-mal-ganz-andere-Gedanken-über-das-Leben-machens. Und eben für dieses Sich-Gedankenmachen in der Pubertät – aber vermutlich nicht nur dafür – stellt die Dorf-Pfarrerin und Theologin Imhof ihre professionelle Expertise auf dem Gebiet des Reflektierens, Fragens, Bezweifelns, Ausprobierens und Orientierens zu Fragen des Lebens überhaupt zur Verfügung – etwa mit der gleichen Selbstverständlichkeit, in der Sporttrainer Ratschläge geben.
9.5 Irritationen im Blick auf die Berufswahl?
Diese Frage des Interviewers kann sie klar mit nein beantworten: Weil mir deutlich geworden ist, dass Zweifel zum Glauben dazugehören. Also wenn man die Psalmen aufschlägt, die Menschen hadern bereits, ja, mit ihrem Gott. Das Hadern gehört also zum Leben, gehört zur Wirklichkeit, die ich hier in der Gemeinde erlebe. Das gilt also nicht nur in der semantischen Konkretion auf einen näherhin christlich formatierten Gott hin, sondern generell im Blick auf das Leben überhaupt. Es ist ein Leben, das gerade in den Psalmen eben erst einmal als solches in den Blick genommen wird, womit ja auch das Leben jener beschrieben werde, die es nicht als explizit religiös formatiert wahrnehmen. Und deshalb kann sie von dieser (Selbst-) Wahrnehmungsposition aus die Menschen da wirklich in ihren Bedürfnissen und Sorgen ernst nehmen und überlegen, was ich ihnen da geben kann.
9.6 Einschätzung eigener Stärken und Schwächen in ihrer Professionspraxis
Als eine Stärke sieht sie ihre Fähigkeit, Mitarbeiter zu finden, also mit Menschen in Kontakt zu sein und zu spüren, was die so drauf haben und sie dann auch zu fragen, ob sie das nicht einbringen möchten. Es ist personzentrierte Zusammenarbeit mit den Menschen hier, in den ganz verschiedenen Bereichen, z. B.: Gottesdienstmitgestaltung durch Gemeindemitglieder, Kirchenmusik, Kindergottesdienst, Besuchsdienstkreis und Pflegeheimbetreuung. Dabei macht sie sich natürlich auch Gedanken über die Struktur der Kirche und über die Struktur der kirchlichen Arbeit. Aber das sei eindeutig praxisbezogen, also nicht so wie bei Kollegen, die wirklich auch so perspektivisch gucken, wo die Landeskirche hingeht und so. Das ist nicht meins.
9.7 Religionskompetenz – Charakteristika ihrer allererst beziehungsorientierten Konzeption für die »Kirche im Dorf«
Neben gemeinsamen Veranstaltungen mit der katholischen Gemeinde wie Weltgebetstag, Betreuung im Altenpflegeheim, die Gottesdienste im Altenpflegeheim, Martinszug, Sternsängeraktion, gemeinsame Vortragsabende zu theologischen Themen oder dergleichen mehr baut sie auch zielstrebig Kontakte auf zu anderen Religionen. Das tut sie z. B. in einer Klasse, in der ein Drittel der Kinder Muslime sind. Und wir, in Absprache mit dem kirchlichen Schulamt, bieten einen interreligiösen Religionsunterricht an, in dem im Curriculum eben muslimische und christliche Themen, gleichermaßen vorkommen, z. B. das Thema Gottesbilder.
Zum heute immer stärker sozial wirksam werdenden Thema des Nebeneinanders von Religionskulturen versucht sie auch den Blick ihrer KonfirmandInnen zu weiten und diese darin zu unterstützen, auch das Eigene genauer wahrnehmen zu können. Sie besucht mit ihnen eine buddhistische Nonne, die auch aus XZ stammt, dann Buddhistin geworden ist, und sich entschieden hat, Nonne zu werden. Diese Frau habe als Deutsche selber Konfirmandenunterricht gehabt und wisse, was die Jugendlichen denken und könne das aufnehmen, um ihnen klarzumachen, in welcher Religion sie jetzt lebt und glaubt. Nach Auffassung von Frau Imhof klärt das auch nochmal bei den Jugendlichen vieles so für ihre eigene, äh, Religiosität oder das macht sie da auch sehr, sehr viel toleranter und wertschätzender.
Zu dieser Konzeption einer positionsgestützten Offenheit, in der sich jenes Denken und Dürfen abbildet, das sie früher im eigenen RU wahrzunehmen und zu schätzen gelernt hat, gehört auch ihr Urteil über den Modus, den sie bei ihren – sehr seltenen – Kontakten zu der ebenfalls in der Region angesiedelten evangelischen Gemeinschaft beobachtet. Wenn da in den Predigten den Menschen, die ihre alten, pflegebedürftigen Angehörigen nicht zu Hause versorgen, oder die Schwierigkeiten mit ihrer Ehe haben, diese Umstände sofort als Glaubensmangel ausgelegt werden und man sie deshalb auffordere, bei Jesus zur Tankstelle zu kommen und aufzutanken, dann könne sie da einfach nicht mit. Demgegenüber habe sie den Anspruch als Pfarrerin, Menschen das Evangelium zu verkündigen, also sie zu trösten, sie zu begleiten, ihnen schon auch mal den Spiegel vorzuhalten. Denn es gehe darum, Menschen zum Leben zu helfen. Deshalb gelte in der von ihr betreuten Kirchengemeinde: Die Menschen kommen und können mitsingen und beten und glauben und können auch ihre Fragen stellen. Und wenn sie das nicht tun, ist es auch in Ordnung. Hier kann jeder seine Distanz zum Geschehen, zum Gottesdienst, äh, zum Glaubensbekenntnis selbst bestimmen, ohne dass ich das beurteile, ohne dass der Kirchenvorstand das beurteilt.
9.8 Der Kern des Professionsprofils der Pfarrerin Irene Imhof
Insgesamt – so lässt sich besonders aus ihren detailliert und begeistert formulierten Aussagen zu ihrer Taufpraxis schließen – ruht der Kern ihrer Pfarramtsgestaltung allererst auf etwas, was als Kasualien-Theologie bezeichnet werden könnte: bei allen als Kirchenmitgliedern verzeichneten Menschen in der Gemeinde und bei den Gottesdienstbesuchern kommunikativ-lebensbegleitend die Einsicht zu bewirken, dass die in der und von der Kirche geprägten Passage-Rituale, die man eben so lebt, auf der Überzeugung aufruhen, dass so für die Menschen Glaube spürbar werden kann. Sie lässt dabei offen, wie Glaube und spürbar werden zueinander im Verhältnis stehen: eher dialektisch und synchron oder eher kognitiv und konsekutiv? Aber die Pfarrerin Imhof würde vermutlich – wenn man sie auf die Frage nach dem Bedingungsverhältnis zwischen Glaube und spürbar werden anspräche – versuchen, ihre Antwort in der Schwebe zu halten, damit dem Glauben im Sinne eines theologisch definierten Kognitionsprodukts genau nicht die Vorgängigkeitsposition eingeräumt werden muss, sondern dass auch die Vorstellung von einem möglicherweise eintretenden Gefühls-Ereignis, das an signifikanten Lebenslaufpunkten entstehen mag, bereits als mindestens gleichrangig angesehen wird.
Damit reagiert sie – auf dieser Ebene kirchenleitend, weil praxisorientiert – auf die veränderte Lage der Kirche in der Gesellschaft. Diese Lage ist davon geprägt, dass die Wissensgestalten und die alltagskulturellen Kontextgestalten, in denen solche Spürbarkeiten sich ereignen könnten, sich in den vergangenen 50 Jahren geändert haben, sei es auf der Ebene der Partizipationsgelegenheiten, oder sei es auf der Ebene der Motivation dafür, warum man sich überhaupt religiös und kirchlich ansprechen lassen sollte bzw. gar eigentlich müsste. Im Blick auf die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD hat Joachim Matthes für die große Mehrheit der Protestanten der 70er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die auch gegenwärtig gültige Diagnose der »Orientierung am Unbestimmten« formuliert, die typisch ist für die Mehrheit der freiwillig auch Kirchensteuer zahlenden Kirchenmitgliedschaft. Nach dem, was sich aus Frau Imhofs Selbstbeschreibungen ihrer professionellen Motive, Wahrnehmungen und Tätigkeitsziele ablesen lassen kann, gründet sich ihre Berufsausübung auf die – von ihr wohl eben genau nicht als defizitär begriffene –Akzeptanz dieser Unbestimmtheit. Im Gegenteil: Diese Unbestimmtheit, so praktiziert es professionell die Pfarrerin Imhof in ihrem Verständnis von Religionskompetenz, gehört – wie das Hadern in den biblischen Psalmen – zu den Gegebenheiten des Menschseins. Für diese Gegebenheit gilt beides zugleich: sie sowohl zu respektieren als auch mit Angeboten des biblisch gespeisten und allererst lebensbegleitenden Deutens und Verstehens lebenspraktisch anzureichern.