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12. VOM REDEN ÜBER GESELLSCHAFTLICHE VERHÄLTNISSE ZUM REDEN ÜBER UND MIT MENSCHEN

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PFARRER LUKAS LANGER

Albrecht Schöll/Interview: Bernhard Dressler

Und, ja eigentlich bin ich ins Studium gegangen mit der Idee, mit der Methode Jesus können wir die Probleme dieser Welt lösen und heilen.

Dann ist das jetzt doch eigentlich ganz anders. Also, ähm. Egal, mit welchem Text ich es zu tun habe, ich stelle mir schon immer die Frage, […] was kann der Text und was kann ich verantworten denen mitzugeben an STÄRKUNG für ihr Leben, […] und zwar nicht nur gestärkt in Form eines neuen Gedankens oder so, sondern auch mit wirklich dem Gefühl, ich bin mit dem, was ich hier erlebe, nicht allein. So. Das hat sich schon geändert, sehr deutlich.

Es ist eigentlich immer schön. Und hier in diesem Dorf, ähm, ja, da muss ich auch immer ein bisschen aufpassen, dass ich auf dem Boden bleibe. Hier bin ich der Papst.

12.1 Persönliche Situation

Herr Langer ist zum Zeitpunkt des Interviews 57 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. Er ist seit 26 Jahren in derselben dörflichen Gemeinde tätig und hat eine Gemeindearbeit mit zahlreichen ehrenamtlich aktiven Gemeindemitgliedern aufgebaut.

12.2 Emanzipation aus der Enge des Elternhauses

Lukas Langer wächst in einer Familie auf, die von einer pietistischen und engkonservativen Religiosität geprägt ist. Sein Vater war Kirchenvorsteher, den er als in vielem knochig und konservativ charakterisiert. Die Enge des Elternhauses und die dort praktizierte Religiosität konnte er nicht mit seiner Weltsicht zusammenbringen. Das passte nicht in meine Jugendwelt. Bereits als Jugendlicher hat er versucht, sich von dieser Religiosität abzusetzen und aus dem elterlichen Milieu zu emanzipieren. Eine neue Orientierung fand er in seinem Heimatpfarrer, einem damals jungen Pfarrer, sehr liberal und progressiv. Dieser eröffnete Lukas Türen zu einer für ihn neuartigen und überzeugenden Weltsicht. Der Pfarrer wird für ihn zum Vorbild. Das willst du auch […] aber du willst es natürlich besser machen. Damit ist der Weg bereitet für seinen späteren Beruf.

Die Emanzipation aus dem Elternhaus hätte sehr wohl – so wie damals bei vielen seiner Altersgenossen – mit einer Verabschiedung von Kirche und Religion insgesamt verbunden sein können. Spätere Hinweise in der Erzählung in Bezug auf seine Eltern, die politisch konservativ eingestellt waren und sich beide im Dritten Reich sehr wohlgefühlt (haben), hätte diese Option nahegelegt.

Der junge Lukas Langer verlässt aber das kirchlich-religiöse Feld nicht, sondern hat, um es in einem Bild auszudrücken, von der ›Mannschaft des Elternhauses‹ zur – aus seiner Perspektive – gegnerischen ›Mannschaft des Pfarrers‹ gewechselt. In einem kleinen, aber bedeutsamen Punkt setzt er sich zugleich von seinem Heimatpfarrer ab. Lukas Langer beansprucht für sich die Durchsetzung eines für die Adoleszenz und für die damalige Zeit typischen radikalen Gerechtigkeitsimpulses, mit dem er sich absetzt von der alles verstehenden Liberalität des Pfarrers.

Der junge Lukas Langer verlangte von seinem Pfarrer Entschiedenheit und Klarheit. Der Pfarrer hat jedoch aus seiner damaligen Sichtweise nicht Klartext geredet. Er war offen sowohl für konservative und enggläubige Christen, vertreten durch seinen Vater im Kirchenvorstand als auch für neoliberal agierende Kirchenvorstände, leitende Angestellte der XY-AG. Das behagte mir nicht so, dass der denen alles durchgehen ließ. Alle waren in der Gemeinde willkommen und wurden in ihrem ›Sosein‹ akzeptiert. Im Gegensatz zum Pfarrer vertrat Lukas Langer damals eine Gesinnungsethik, die klar zwischen Gut und Böse, richtig und falsch zu unterscheiden sich befähigt fühlt. Für einen Jugendlichen in der damaligen Situation war es zudem kaum möglich, aus einer liberalen Position heraus alles verstehend zu akzeptieren, insbesondere nicht die religiösen Weltsichten und politischen Einstellungen seines Elternhauses, von denen er sich dezidiert zu emanzipieren versuchte. Das besser machen implizierte also möglicherweise ein im Vergleich zu seinem Heimatpfarrer weniger flexibeltolerantes Weltbild.

Die Dynamik des Gegensatzpaares »konservativ und eng« vs. »offen und liberal«, das für ihn keine zufriedenstellende Alternative darstellt, treibt ihn in Richtung eines linken und kämpferischen Weltbildes […] bisschen (.) die Welt verbessern wollen. Dieses Weltbild, gespeist von seinem ausgeprägten Gerechtigkeitsimpuls, wird von ihm sowohl religiös als auch politisch gedeutet. Damit kann er sich inhaltlich akzentuiert von seinem Elternhaus absetzen. Strukturell und habituell basiert sein neues linkes Weltbild allerdings auf Voraussetzungen, die ihm von Seiten seines Elternhauses sehr wohl vertraut sind und in denen er sozialisiert wurde: So wie die Dominanz des rigide verstandenen Religiösen das Leben im Elternhaus bestimmte, so ist es jetzt die Dominanz der (linken) Theorie der ›besseren Welt‹, die die Praxis und die Weltsicht des jungen Lukas Langer bestimmen. Die im Elternhaus erworbenen habituellen Dispositionen haben sich erst einmal nicht verändert, sie entsprechen vielmehr dem Modus seiner pietistischen Herkunft. Sehr wohl aber haben sich die Inhalte in Bezug auf Glaubensvorstellung, Werte und Normen radikal geändert, die sich in einem Entweder/Oder-Modus gegenüberstehen und bekämpfen. Eben zu diesem Zweck greift er – praxeologisch durchaus folgerichtig – auf die in der Herkunftsfamilie erworbenen habituellen Dispositionen vorbewusst zurück. Der erworbene Habitus bleibt sinnvoll, weil er richtungsweisend in eine kompatible linke Ideologie führt, verbunden mit einem weltverbessernden Gerechtigkeitsimpuls.

12.3 Theologiestudium

Im Studium wird der Gerechtigkeitsimpuls radikalisiert durch eine politische Praxis und zugleich theoretisch untermauert durch entsprechende Theologien und der Suche nach den theologischen und kirchengeschichtlichen Wurzeln. Zunächst findet eine weitere Verengung seiner Weltsicht statt. Jegliche, insbesondere die politische Praxis kann und muss aus der ›richtigen Theorie‹ abgeleitet werden. Für den Theologiestudenten Lukas Langer ist es die SCHRIFT, die einen direkten Weg zu wahrhaft gerechten Bedingungen in dieser Welt weist. Es bedarf in diesem Fall keiner Reflexion zwischen Theorie und Praxis, da letztere direkt aus der Theorie/Schrift ableitbar ist. In der Methode Jesus findet er den dazu passgenauen Weg, die Probleme dieser Welt (zu) lösen und (zu) heilen.

Wir haben schon im ersten Semester das erste Haus besetzt ähm, also ich bin da ganz schnell auf so eine Spur gekommen, wo es eigentlich darum ging, jetzt mal die Ärmel hochkrempeln und diese Welt verbessern und für mehr Gerechtigkeit sorgen und so STEHT ES DOCH in der Schrift, LOS GEHT ES. SO.

Diese Form des politischen Agierens ist nicht diskursfähig. Zu diesem radikalen Weltbild passt, dass Professoren und Professorinnen, die kongruente Theorien vertraten, von den Studenten wie Götter verehrt wurden und liberal eingestellte Professoren als Verräter aus der avantgardistischen Weltverbesserungstruppe ausgeschlossen wurden.

Eine erste Öffnung des geschlossenen und radikalisierten Weltbildes beginnt, als Lukas Langer zusammen mit Kommilitonen in eine Wohngemeinschaft zieht, um in Gütergemeinschaft den linken Lebensstil unter dem Focus von Gerechtigkeit umzusetzen. Über das Zusammenleben in der WG im Umfeld einer Universitätsstadt und die Arbeit an der kirchengemeindlichen Basis (Kirchenchor, Jugendarbeit) wird der weltverbessernde Gerechtigkeitsimpuls auf eine konkrete und überschaubare Praxis begrenzt. Im Praxistest sind konkrete Lösungen und kleine Schritte gefragt.

Wir haben das, was wir hatten, zusammen in einen Pott geworfen und ähm haben STUNDENLANG diskutiert […] ob es denn nun irgendwie/IRGENDWIE zu verantworten ist, da ein altes Auto zu kaufen oder nicht. Also solche Sachen. Hochinteressant.

Das Passungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis geht nicht in einem 1:1-Verhältnis auf. Die praktische Frage, ob man ein Auto kaufen soll, kann man aus keiner Theorie und auch nicht aus der Heiligen Schrift ableiten. Die Praxis erweist sich als widerspenstig zu einer geschlossenen Theorie. Zur Entscheidungsfindung muss stundenlang diskutiert werden. Man kann sich nicht ausschließlich und einseitig radikal positionieren; der zwanglose Zwang der praktischen Anforderungen erfordert vielmehr, dass man sich gegenüber dieser widerborstigen Wirklichkeit sukzessive öffnet, auf Kosten einer geschlossenen und alles erklärenden Theorie. Dieser praktische Transformationsprozess hat Auswirkungen auf sein theologisches Verständnis. Er öffnet sich gegenüber zwar weiterhin linken, aber liberaleren Theologien. Die Suche nach den theologischen und kirchengeschichtlichen Wurzeln einer die Welt verbessernden Gerechtigkeitsidee erweitert sich auf die Erforschung weiterer Perspektiven, die mit der eigenen Sicht in einen Zusammenhang gebracht und kritisch reflektiert werden müssen. In diesem Wechselbezug werden zuvor feststehende Grenzen veränderbar und verhandelbar. Dazu hat beigetragen, dass liberale Theologen unter seinen Lehrern zwar seine Radikalität nicht übernehmen, aber dafür Verständnis aufbringen.

Im weiteren Verlauf des Studiums hat Lukas Langer dann gelernt, sein politisches Handeln theologisch und traditionsgeschichtlich zu begründen. In den Feldern der kirchlichen Praxis lernt er, es kleinschrittig umzusetzen und erfährt dabei die Widerständigkeit von Lebenspraxis. Er stellt sich dar als jemand mit einer radikal aufgeladenen Gerechtigkeitsidee, der im Studium einen Selbstdisziplinierungsprozess durchlaufen hat. Er verfolgt einen Gestaltungstypus, der die Radikalität des Gerechtigkeitsimpulses im Verlauf des Studiums so transformiert, dass auch andere Perspektiven entwickelt werden können, ohne aber die ursprüngliche Perspektive völlig aufzugeben. Er kann nun verschiedene Perspektiven, die ihm begegnen, in seine Weltsicht und sein Handeln integrieren.

12.4 Vikariat

Ein Erlebnis während seiner Vikariatszeit hat zu einem entscheidenden Transformationsschritt beigetragen, das als Kanzel-GAU eine nachhaltige Zäsur in seiner berufsbiografischen Geschichte einläutet. In dieser Krise findet er einen neuartigen Umgang mit der sein Leben durchziehenden Gerechtigkeitsidee. Ein Kirchenvorstand, der in seiner pietistisch engen Frömmigkeit und Dominanz seinem Vater gleichkommt, unterbricht mitten im Konfirmationsgottesdienst die Predigt von Lukas Langer, weil er sie als politisch aufgeladen empfindet.

Predigttext war die Pfingstgeschichte und ich erzählte da von den Jüngern, die da saßen irgendwie (.) niedergeschlagen, obwohl sie von der Auferstehung gehört hatten und äh später sollte dann die Pfingstgeschichte und der Heilige Geist kommen, aber ich walzte erst mal da so diese trübe Stimmung aus und erzählte vor den Jugendlichen, was ich bei DENEN an trüber Stimmung und No-Future damals mitbekommen hatte und so.

L. hat die damalige trübe Stimmung und das No-Future-Desaster der Jugendlichen in Anlehnung an den Predigttext aufgegriffen, wahrscheinlich im Kontext seiner damaligen politischen linken Weltsicht. Das wurde für den Kirchenvorstandsvorsitzenden unerträglich. Er stand mitten in der Predigt auf und unterbrach sie mit den Worten: »Das langt mir jetzt. Jetzt haben Sie genug erzählt. Das hier ist ein Konfirmationsgottesdienst und keine politische Lehrstunde« und so. Die Fronten hatten sich unversehens verkehrt: Waren es im Studium die Studenten, die die Vorlesungen der konservativen Professoren unterbrachen, so ist es in der Gemeinde der pietistische Kirchenvorsteher, der den jungen linken Vikar mitten in der Predigt unterbricht. […] das war natürlich eine entsetzliche Situation. Meine Vikarskollegen nannten das nachher den Kanzel-GAU, ähm. (.)

Nur aufgrund der Intervention seines Lehrpfarrers kann er die Predigt zu Ende bringen. In der Folgezeit besuchen die Dozenten des Ausbildungsseminars seine Gottesdienste, in seiner bisherigen Sichtweise also das ›Establishment‹, um über die Freiheit der Predigt zu wachen und damit die Unabhängigkeit des Vikars zu garantieren. Es ist für ihn ein Sieg des linken Weltverbesserers über das Diktat einer engen pietistischen Religiosität und damit auch ein Sieg über seine Herkunft. Zwei inhaltlich dichotome Weltsichten standen sich gegenüber, beide mit umfassendem Wahrheitsanspruch und vertreten mit gleich starker Dominanz. In dieser Hinsicht basierten beide freilich auf einer homologen Struktur.

Dieser Sieg im Kampf für eine gerechte Welt initiiert bei dem Vikar Langer einen Reflexionsprozess: Er stellt sich die Frage, ob eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen allein ausreicht, um Menschen in ihrem Glauben zu stärken und für ein Engagement für mehr Gerechtigkeit nachhaltig zu motivieren. und ich habe, glaube ich, sehr oft, ähm – (.) tut mir heute auch durchaus leid –, aber ich habe sehr oft Menschen ähm nach Hause geschickt mit wenig Rückenwind, wenig Stärkung und viel kritischen Fragen. […]

12.5 Aspekte des Berufsverständnisses – Religionskompetenz

Damit vollzieht er einen entscheidenden Schritt im langfristig angelegten Transformationsprozess. Er verabschiedet sich zunehmend von den geschlossenen linken Weltverbesserungstheorien und wendet sich hin zu den konkreten Belangen und Problemen der Menschen, die seinen Predigten zuhören. Damit findet in seinen Predigten auch eine Art Textverschiebung statt: Er redet nicht mehr über gesellschaftliche Verhältnisse, sondern über und mit Menschen.

Früher ähm habe ich die Leute ähm/ habe ich auch schon kritisch gesagt, viel zu oft hinterlassen mit ähm der Botschaft, »eigentlich leben wir alle, lebt ihr alle falsch, nun mal irgendwie Umkehr und macht es anders«. Ähm. (.) Dann ist das jetzt doch eigentlich ganz anders. […] jetzt stelle ich mir schon auch die Frage ähm, (.) was kann der Text und was kann ich verantworten, denen mitzugeben an STÄRKUNG für ihr Leben, […] auch mit wirklich dem Gefühl, ich bin mit dem, was ich hier erlebe, nicht allein. So. Das hat sich schon geändert, sehr deutlich.

Lukas Langer wird sich seiner Verantwortung diesen konkreten Menschen gegenüber bewusst. Sein Gerechtigkeitsimpuls findet Erfüllung in der Hinwendung zu den leibhaftigen Menschen, denen er gerecht werden will. Dabei kommt ihm zugute, dass er gut mit Menschen umgehen kann. Es ist die Begegnung mit Menschen, der aufmerksame und auf mögliche Unterstützung bedachte Blick auf ihre Bedürfnisse, Interessen, Vorlieben und Benachteiligungen sowie ihre Stärkung angesichts der Herausforderung im Leben, die er jetzt als eine seiner Hauptaufgaben im Pfarrberuf betrachtet. Der Focus auf die Menschen erlaubt die Relativierung seines eigenen und auch der Weltbilder jener Menschen, die ihm begegnen. Hier schließt sich der Kreis seiner langfristig angelegten persönlichen Entwicklung.

12.6 Professionsprofil

Herr Langer ist seit 26 Jahren in derselben dörflichen Gemeinde tätig. Durch seine liberale Haltung, seine Wertschätzung gegenüber allen Menschen hat er eine erfolgreiche Gemeindearbeit mit zahlreichen ehrenamtlich aktiven Gemeindemitgliedern aufgebaut. Die verschiedenen Tätigkeiten sind an Gemeindemitglieder delegiert, die dem Pfarrer auch zum Teil unliebsame (Verwaltungs-)Arbeiten abnehmen. Dabei ist Pfarrer Langer darauf bedacht, dass jedes Gemeindeglied zu seinem Recht kommt. Die Entscheidungsgewalt, die Gestaltungs- und Deutungshoheit allerdings werden nicht delegiert, diese bleiben in seiner Hand. Das kommt in seiner Erzählung an mehreren Stellen zum Ausdruck und wird nach seinem Eindruck von allen Gemeindemitgliedern auch akzeptiert. Insofern kann Pfarrer Langer von sich sagen: Es ist eigentlich immer schön. Und hier in diesem Dorf, ähm, ja, da muss ich auch immer ein bisschen aufpassen, dass ich auf dem Boden bleibe. Hier bin ich der Papst. Das ist so. Eine solche Aussage macht, trotz der sicherlich mitzuhörenden selbstironischen Distanz, deutlich: Hierdurch kommt die habituelle Disposition einer dominanten Vormachtstellung, die er in seinem Elternhaus erworben und nie endgültig überwunden hat, wieder zum Vorschein, zumindest ein kleines Stück. In biblischen Metaphern ausgedrückt schlüpft er in die Figur des ›guten Hirten‹, der seine Gemeinde in den Bedrängnissen und Finsternissen der Welt begleitet.

Andersdenkende, insbesondere evangelikal eingestellte Christen, gibt es in seiner Gemeinde nicht. Diese sind in die benachbarten freien Gemeinden abgewandert. Wieder mit leiser Selbstironie kommentiert er diesen Sachverhalt: Nee, solche gibt es hier nicht. Die habe ich wahrscheinlich über die Jahre auch alle verschreckt, wenn es die noch gab. Ähm. Die sind dann (schmunzelnd) irgendwo in freien Gemeinden in der Umgebung, //kann gut sein.//

Im Fall von Lukas Langer zeigt sich, dass die aufgrund der Herkunft erworbenen habituellen Dispositionen sich, wenn überhaupt, nur schwer verändern lassen. Das gelingt am ehesten in ihrer Ausdrucksgestalt: Allein inhaltlich aufgeladene Weltbilder (etwa seine in der Methode Jesus zum Ausdruck gebrachte radikale linkstheologische Sichtweise), die auf der Grundlage dieser Dispositionen variabel und teilweise austauschbar erscheinen, können einem – wenn auch langfristig angelegten – Transformationsprozess unterzogen werden.

Lukas Langer verschließt sich in seiner Arbeit keineswegs den Entwicklungen der Moderne. Er hat im Verlauf seiner langjährigen Tätigkeit als Pfarrer in einer Gemeinde sehr wohl den sozialen Wandel wahrgenommen: von einem ganzheitlichen und stabilen Milieu mit umfassender Identität seiner Akteure hin zu offenen und fragilen Milieus, deren Grenzen die Menschen selbst festlegen und in denen ihnen Optionen eröffnet werden. Heute ist bei den Menschen – so die Sichtweise Langers – ein Freiheitsimpuls vorherrschend. Den in der Gesellschaft zu beobachtenden Individualisierungsprozess begründet er theologisch mit der reformatorisch formulierten Freiheit des (Christen-)Menschen und kann den Freiheitsimpuls aus diesem Grund positiv bewerten.

Allerdings entsteht dadurch für ihn ein Dilemma. Die Optionsmöglichkeiten bringen den Menschen auch die Möglichkeit, sich für die kirchlichen Angebote und für den Glauben zu entscheiden – oder aber eben auch dagegen. Zugleich ist es aber für ihn fraglos, dass die Menschen die Religion und Gott brauchen. Die ihm möglich erscheinende Antwort auf diese aporetische Lage –, die freilich nur dann auch zu einem Dilemma würde, wenn man sich nicht zur Gänze von den geschlossenen Milieus und dem Modell einer Kerngemeinde verabschiedet hat – ist für ihn zuallererst die Nähe zu und das direkte Gespräch mit den Menschen.

Wie auch immer: Die Frage und Suche nach der Wahrheit dürfe nicht aufgegeben werden, auch wenn der Protestantismus sie nicht letztgültig für andere beantworten könne. Folgerichtig geht es ihm um einen offenen Dialog, besonders angesichts zunehmend fanatisierter Menschen. Und er kann als Vertreter einer protestantisch-aufgeklärt-intellektuellen Religiosität keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen geben, so wie er es in den Freikirchen in seiner unmittelbaren Umgebung beobachtet.

Daraus ergibt sich, gleichsam als Ausdruck listiger biographischer Dialektik, für ihn ein durchaus traditionelles Professionsverständnis, das er selbst als konservativ bezeichnet und das in seiner Wahrnehmung nicht in Einklang zu stehen scheint mit Reformbestrebungen seiner Kirche sowie dem beruflichen Selbstverständnis von vielen seine Kollegen und Kolleginnen. Dazu gehört:

– Keine Trennung von Beruf(ung) und Privatheit. Sein Arbeits- und Lebensmittelpunkt ist die Gemeinde. Eine Work-Life-Balance ist ihm fremd. Dieser Arbeits- und Lebensstil wird ihm ermöglicht, weil ihn seine Frau dabei unterstützt, zumindest diesen Arbeitsstil akzeptiert.

– Damit einher geht, dass eine Diskussion über Pfarrerarbeitszeiten für ihn obsolet ist. Die Freiheit der Gestaltung seiner Arbeit und die freie Verfügung über seine (Arbeits-)Zeit ist unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche und sinnvolle Tätigkeit eines Pfarrers in der Gemeinde.

– Das Pfarrhaus und die Kirche müssen im Dorf bleiben. Für den Pfarrer besteht eine Residenzpflicht. Nur so kann die Nähe zu und die Begegnung mit den Menschen auf Dauer erhalten bleiben.

Der Arbeits- und Lebensstil des Pfarrers Lukas Langer ist auf die Begegnung mit den Menschen vor Ort, auf das direkte Gespräch und den Dialog mit ihnen ausgerichtet. Er wird im Dorf von den Menschen angesprochen. Diese Ansprache und die Nähe zu den Menschen kann er genießen.

Und so findet sein schon sehr früh angelegter Gerechtigkeitsimpuls (auch) auf diese Weise eine Erfüllung: Ich GENIESSE das, in diesen Ort zu gehen und auf dem Marktplatz, im Supermarkt, in der Apotheke, beim Arzt von allen möglichen Leuten angesprochen zu werden auf alles Mögliche. Ähm. Dort Verabredungen zu treffen, ruhig auch einen Gesprächstermin auszumachen, warum nicht. Das finde ich absolut wunderbar, ähm, auch in dieser Direktheit.

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