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8. DAS VERHÄLTNIS VON THEOLOGIE UND GEMEINDLICHER PRAXIS ALS SPANNUNGSVOLLE VERSCHRÄNKUNG VON THEORIE UND PRAXIS

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PFARRER HANS HOLTMANN

Albrecht Schöll/Interview: Dietlind Fischer

Ich habe hier Arbeit vorgefunden oder es hat sich sozusagen dann im Vollzug hier Arbeit eingestellt, die ich mir nicht gesucht habe, aber die ich jetzt sozusagen mit Realitätsbewusstsein, aber auch mit inneren Perspektiven und äußeren Perspektiven gerne angehe.

[…] so selber als theologisches Subjekt weiterhin unterwegs zu sein.

8.1 Persönliche Situation

Hans Holtmann ist zum Zeitpunkt des Interviews 50 Jahre alt und verheiratet mit einer berufstätigen Frau. Sie haben als klassische späte Akademikereltern drei Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren. Es ist seine zweite Pfarrstelle, nachdem er zuvor acht Jahre lang in einem Sonderpfarramt tätig war.

8.2 Religiöse Sozialisation und Zugang zum Studium

Die Eltern hatten seinerzeit einen landwirtschaftlichen Betrieb in einem Dorf. Die älteren Geschwister besuchten die Hauptschule. Er war der erste in seiner Familie, der das Gymnasium besucht hat und Akademiker wurde. Seine kirchliche Sozialisation charakterisiert er als sehr konventionell. So war Hans Holtmann nach der Konfirmation in einem Jugendkreis, hat dort zeitweise auch als Helfer mitgearbeitet und in der dörflichen Kirchengemeinde im Posaunenchor mitgespielt. Das kirchengemeindliche Leben allein hätte ihn freilich nicht veranlasst, den Pfarrberuf zu ergreifen.

Seinen Zugang zum Theologiestudium beschreibt er als Gemengelage zwischen einem sehr vorzüglichen Religionsunterricht in der Oberstufe und einer sehr konventionellen kirchlichen Biografie. Das macht er an zwei Personen fest: seinem Gemeindepfarrer als Konfirmator und seinem Religionslehrer in der Oberstufe, der zugleich Pfarrer war. Der Focus seines religiösen Interesses war auf intellektuelle Anforderungen gerichtet, d. h. auf religiös und theologisch anspruchsvolle Reflexion. Dieses Interesse wurde im Religionsunterricht bearbeitbar. Motivation und zugleich Auslöser für das Theologiestudium war der vorzügliche Religionsunterricht und untrennbar verbunden mit der Person der Religionslehrkraft bzw. dem wissenschaftlich gebildeten Theologen. Mit dem konnte er sich identifizieren. Durch den Religionsunterricht findet er auch einen neuen, nun anders gelagerten Zugang zu seiner damaligen kirchengemeindlichen Praxis. Jetzt wird seine religiöse Biografie nicht mehr nur ›gelebt‹, sondern auch auf intellektuelle Weise bearbeitbar. Diesen Zugang hatte er bei seinem Konfirmator nicht vorgefunden, denn der war ausschließlich der gemeindlichen Praxis verhaftet. Der im Religionsunterricht gefundene intellektuelle Zugang zu christlichen und theologischen Fragen wird zum Baustein, der ihm zu einer Beheimatung in der dörflichen Kirchengemeinde bisher fehlte. Dass er die beiden Bereiche als Gemengelage bezeichnet, deutet auf einen damals noch eher offenen Modus, wie der Bezug zwischen konkreter religiöser Praxis und intellektuellem Anspruch hergestellt werden kann. Zumindest aber ist die Bearbeitung religiöser Fragestellungen auf einem anspruchsvollen intellektuellen Verstehensniveau die Voraussetzung, dass er sich in der Gemeinde nun auch beheimaten kann. Und beides zusammen – mit Fokussierung auf den Religionsunterricht – hat in der Oberstufe zu seiner Entscheidung geführt, Theologie zu studieren. Die intellektuell begründeten Interessen kann er ohne Zweifel im Theologiestudium und in der auf das Vikariat folgenden Promotion entfalten. Das Studium war einesteils Selbstzweck in Bezug auf wissenschaftlich-theologische Erkenntnisinteressen, andererseits hat er den Bezug zur ganz normalen kirchlichen Gemeindepraxis nie verloren.

8.3 Theologiestudium und Vikariat

Hans Holtmann beginnt das Studium in der seinem Heimatort nächstgelegenen Universität. Diese Entscheidung spiegelte zudem seine damalige Lebenssituation, denn während des Grundstudiums half er jedes Wochenende und in den Semesterferien im landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern. Es gab die Verabredung mit den Eltern, ja, äh Geld gegen Mithilfe //(lacht). //

Nach dem dreisemestrigen Grundstudium wechselt er noch zweimal die Universität. Offenbar bedurfte es auch der räumlichen Entfernung vom Elternhaus, die so leichter eine Distanz vom Herkunftsmilieu ermöglichte, um einen neuen Raum zu öffnen, der mit dem Theologiestudium begonnen hat und sich dann im Pfarrberuf entfalten konnte. Nicht mehr die praktische Arbeit in der Landwirtschaft war angesagt, sondern die Bearbeitung von theologischen Fragestellungen auf möglichst intellektuell hohem Niveau. Gegen Ende des Studiums wurde ihm angeboten zu promovieren. Das hat ihn wohl sehr gereizt, zunächst jedoch hat er das Vikariat absolviert, wo er nach dem Vikariat sofort in den Pfarrdienst übernommen worden wäre. Er wurde jedoch Hilfspfarrer mit eingeschränktem Gehalt und hat während dieser Zeit an seiner letzten Universität promoviert.

8.4 Entscheidung für das Pfarramt

Beim Übergang vom Promotionsstudium ins Pfarramt war für ihn die Frage entscheidend, wie die zwei parallel verlaufenden Bereiche in einen für die pastorale Praxis sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können: die Reize der mit der Promotion verbundenen intellektuellen Erfahrungen und Erkenntnisse zum einen und die praktischen Anforderungen einer Pfarrstelle in einer konkreten Gemeinde zum anderen. Klar für ihn war, dass ein einfacher Wechsel von dem einen zum anderen ›Spielfeld‹ für ihn ebenso wenig in Frage kam wie eine Trennung der beiden Bereiche. Vor der Entscheidung für das Pfarramt ist allerdings noch offen, ob dieses Aufeinanderbeziehen gelingen werde. Insofern war die Entscheidung seinerzeit eine Risikoentscheidung. Die beschreibt er über die Argumentationsfigur einer analytischen Negation:

[…] wenn Sie (druckst) ein Angebot haben (stottert) und Rahmenbedingungen, wo Sie denken, Sie können es riskieren, und wenn Sie niemand jetzt dann sozusagen ins Gemeindepfarramt TREIBT, und auch nicht die eigene Motivation jetzt sagt, also (das lass?) auf jeden Fall sein, es gibt NUR noch Gemeinde und NUR noch das, äh dann äh äh klar, dann fangen Sie sowas nicht an.

8.5 Aspekte des Berufsverständnisses – Religionskompetenz

Das zentrale Moment seines Theorie-Praxis-Verständnisses, mithin der Kern seines Professionsbegriffs besteht darin, dass für ihn das Eine nicht ohne das Andere zu haben ist und zugleich das Eine nie als Ganzes im Anderen aufgehen kann. Insofern kann man im Fall von Hans Holtmann das Verhältnis von Theorie und Praxis beschreiben als eine ›widersprüchliche Einheit‹, die es ständig zu reflektieren gilt und wo sichere und im Voraus ableitbare Handlungs-/Verhaltenslösungen nicht zu haben sind. Diese Spannung spiegelt sich in seiner Argumentation.

Und das intensive Bedenken der Spannung führt ihn dazu, dass er sich auch mit dem ›Ballast‹ einer Dissertation entschließt, sich auf eine ganz normale Gemeindepraxis einzulassen. Unter der Bedingung, niemand dürfe ihn ins Gemeindepfarramt treiben darf umgekehrt auch die eigene Motivation ihn davon nicht abhalten. Denn es wäre für ihn eine zwanghafte und nicht durchzuhaltende Perspektive, dass er in der Gemeinde nur noch ›gemeine‹ Praxis vorfindet und ihn diese zur Gänze in Anspruch nehmen würde. Es geht ihm um beides gleichzeitig: um theoretische Reflexion pastoraler Praxis und um die theologische Fundierung eben dieser Praxis.

Hans Holtmann zeigt sich in seiner Erzählung als jemand, der versucht, die zuvor akademisch bearbeiteten Fragen nun in praktikable Fragestellungen und Interessenbearbeitungen umzusetzen, die in der Gemeinde vorliegen bzw. dort möglich erscheinen. In anderen Worten: Seine Konzentration auf Reflexion und theologieangemessene Kommunikabilität helfen ihm, sein akademisches Wissen ›auf den Fall‹ zu beziehen und jene Prozesse zu fördern, die ›unbestimmt‹ fühlenden oder inkongruent argumentierenden Menschen auf die ihrem Sein/ Tun möglicherweise innenwohnende Religion und Religiosität anzusprechen; oder anders formuliert: religiös zu bilden. Gerade darum dürfte er die unmittelbar praktischen Aufgaben in seiner pastoralen Tätigkeit immer auch theologisch reflektieren, um auf diese Weise sinnvolle Lösungen anzustreben. Ein Handlungsmodus, der sich allererst bzw. überwiegend auf die Seite entweder von Praxisvollzügen oder die der wissenschaftlichen Reflexion schlägt, ist für ihn obsolet.

Allgemein formuliert: Professionelles Handeln ist für ihn keine unmittelbar, gleichsam mechanische Ableitung aus theoretischen Erkenntnissen. Zwar sind Faktenwissen und theoretisch generierte Problemhorizonte Voraussetzung insbesondere für pastorales Handeln. Aber eben deswegen ist beides – ›Fakten‹ und ›Theorie‹ – nicht gleichsam ›identitätsfrei‹ abrufbar, sondern sie sind als sein Habitus Teil der beruflichen Biografie. Das erscheint als ein für Herrn Holtmann wesentliches Charakteristikum. Die jeweilige praktische Tätigkeit als Pfarrer muss theologisch begründet werden und sich gegenüber anderen Alternativen bewähren.

8.6 Der Kern der Professionsvorstellung des Pfarrers Hans Holtmann

Sein professionslogischer Modus hat für ihn unmittelbare Auswirkungen auf die Gemeindearbeit, die er als ein ›spannungsgeladenes Dienstleistungsverhältnis‹ charakterisiert: Gemeindemitglieder erwarten bestimmte Dienstleistungen vom Pfarrer. Diese Leistung hat er zu erbringen, aber eben nicht immer unbedingt auf die Art und Weise, wie sie von den Gemeindemitgliedern erwartet werden, sondern mit einer theologischen Begründung, die der Pfarrer Holtmann bei Bedarf auch selbstbewusst und mit Anspruch auf Akzeptanz zu formulieren weiß.

Ich muss sie ja nicht gleich schroff zurückweisen, aber ich äh/ die Art und Weise wie ich mich da selber verstehe, also […] in dem Spannungsverhältnis von diesen beiden Kompo/ Komponenten, die in dem Wort Dienstleistung drin stecken, ne, die/ äh die würde ich schon (druckst) gerne äh akzentuiert wissen wollen. Also DIENST ja, nicht, also es werden bestimmte Fragen an mich herangetreten und (eine bildende?) Leistung wird auch von mir erwartet ähm a/ aber äh, äh i/ in den Räumen sozusagen auch von Gestaltungshoheit, die ich ja habe.

In seiner Selbstwahrnehmung verliert sich Herr Holtmann weder in den vielen unterschiedlichen Anforderungen und Aufgaben der Gemeindearbeit, noch delegiert er sie als unliebsame Aufgaben, etwa an Kollegen oder Gemeindemitarbeiter. Er sieht sich als einer, der in der Lage ist, umsichtig und zielorientiert (zu) arbeiten. Er erklärt es zu einer Selbstverständlichkeit, alle Aufgaben in einer Gemeinde, die zum Tätigkeitsfeld eines Gemeindepfarrers gehören, anzugehen und zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Auch anstehende Umstrukturierungsprozesse verbunden mit der Reduktion von Gemeinde- und Pfarrhäusern gehören dazu. Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen aber, die, wie er vermutet, das Universitäts-Studium der Theologie eher als Pflichtaufgabe betrachtet haben und die in der gemeindlichen Praxis und deren zahlreichen Aufgaben und Aktivitäten ›aufgehen‹, erfolgt seine Herangehensweise in einem doppelten Modus. Er beschreibt seine Herangehensweise als eine mit Realitätsbewusstsein, aber auch mit inneren Perspektiven und äußeren Perspektiven. Die innere Perspektive scheint die in seiner Person habituell verankerte theologische Perspektive zu sein, die sich mit der äußeren Perspektive verschränkt, also jener, die auf die erfolgreiche praktische Bewältigung der Aufgaben gerichtet ist. Die Aufgaben müssen in einen Sinnzusammenhang mit der theologisch fundierten Handlungsbegründung gebracht werden und müssen sich wiederum in der Praxis bewähren. Es ist ein ständiger Reflexionsprozess, der seine pfarramtliche Arbeit begleitet, die er, wie er sagt, gerne angeht.

Theologische Reflexionen in Bezug auf das ›Tagesgeschäft‹ eines Pfarrers sind für ihn konstitutiv für das Leben und Überleben im Pfarramt. Es geht ihm darum, als theologisches Subjekt weiterhin unterwegs zu sein. Diese Disposition hat er sich im Studium erarbeitet, denn das Studium ist eben ein Bestandteil meiner Biografie. Gerade wegen der Gefahr der Dominanz der vielen administrativen und strategischen Aufgaben darf die theologische Reflexionsarbeit nicht aus den Augen verloren werden, und so achtet er darauf, dass bestimmte Themen präsent bleiben und verfolgt werden. Was er damit meint, umschreibt er so: Theologie darf nicht fremdwörterisch ausgedrückt und zu einer legitimierenden Zweitcodierung werden.

Dass für Herrn Holtmann der Sonntagsgottesdienst in seiner Vielfalt und die liturgische Gestaltung des Gottesdienstes zum Qualifikationsmerkmal der Gemeinde gehört, mag im Kontext der bisherigen Analyse nicht überraschen. Für Pfarrer Holtmann spielt darüber hinaus der Gottesdienst auch persönlich eine zentrale Rolle sozusagen […] für meine Identität als Pfarrer. Und neben den Gottesdiensten sind es die Kasualien und damit bedeutsame biografische Übergänge im Leben von Menschen, die es zu gestalten gilt. Es geht um Abschied nehmen vom Alten und um Offenheit für Neues. In dieser Hinsicht versteht er sich selbst als Wanderer, der sich einen weiteren Wechsel im Pfarramt sehr wohl vorzustellen vermag. Und wenn es der liebe Gott äh so äh geben möge, dann gibt es das nochmal irgendwann.

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