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1. AUSGANGSLAGE UND FORSCHUNGSHYPOTHESE

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1.1 »Religionskompetenz« als Erwartung an den Pfarrberuf

Die niedersächsische Studie zur »Religion bei ReligionslehrerInnen« (FEIGE u. a. 2000)1 konnte bei der Auswertung der berufsbiographischen Interviews als einen wesentlichen Befund das für die beruflichen Selbstkonzepte der Religionslehrkräfte bedeutsame Spannungsverhältnis zwischen »gelebter« und »gelehrter« Religion konstatieren: Von den Lehrenden wird unterschieden zwischen den je eigenen religiösen Vorstellungen und Vollzugsformen einerseits und der Thematisierung und Darstellung von Religion im Unterricht andererseits. Dabei bleiben beide Aspekte stets aufeinander bezogen, denn die individuelle Religion der Lehrkräfte ist für die Unterrichtsgestaltung eine unverzichtbare Ressource. Aber die Religion der Schülerinnen und Schüler wird davon unabhängig wahrgenommen und respektiert. So sollen ihnen autonome Aneignungsmöglichkeiten eröffnet werden, die nicht durch die Religion der Lehrkräfte normiert werden. Das heißt: Es gibt als eine dritte Größe die »professionelle Lehrgestalt« von Religion. Sie schiebt sich vermittelnd zwischen die »gelebte Religion« der Lernenden und die »gelebte Religion« der Lehrenden. So werden in den Kommunikationsverhältnissen zwischen den Lehrenden und Lernenden Kurzschlüsse ebenso vermieden wie hermeneutische Überdehnungen. Gründet also eine Didaktik auf diesem Spannungsverhältnis, so kann sie differenzierte Denkräume öffnen und Entscheidungsoptionen anbieten, also Bildungsprozesse initiieren, die zu religiöser Urteilsbildung befähigen.

Vergleichbare Einblicke in das Verhältnis von individueller Religiosität und professioneller Gestaltung religiöser Kommunikation im Pfarrberuf sind bisher noch ein Desiderat. Wir vermuten nun, dass die Professionsaufgabe des Pfarrberufs von der Bewältigung eines ähnlichen Spannungsverhältnisses geprägt ist, wie es für religiöse Bildungsprozesse in der Schule festgestellt werden konnte: Es geht dann um die Unterscheidung und den Wechselbezug zwischen der von den Menschen »gelebten« und der vom Pfarrer »verkündigten« Religion.2 Das Erkennen und die Gestaltung dieses moderngesellschaftlich geprägten Spannungsverhältnisses verstehen wir als »Religionskompetenz«. Sie erscheint uns als die Schlüsselkategorie für eine gegenwartsaktuelle Professionstheorie des Pfarrberufs.

Die Überlegungen beziehen sich zugleich darauf, dass für die neuzeitliche Herausbildung der Praktischen Theologie als Fachdisziplin und Professionstheorie die Diagnose und Bearbeitung des Spannungsverhältnisses zwischen Religion und Theologie konstitutiv ist (AHLERS 1980, DREHSEN 1988, MEYER-BLANCK 2007). Die professionelle Kompetenz von Theologen kann seither verstanden werden als die Fähigkeit, dieses Spannungsverhältnis lebendig zu halten, es also weder zur einen noch zur anderen Seite aufzulösen. Besonders im Blick auf den Pfarrberuf stellt sich damit die Frage nach der »Religionsfähigkeit« der Volkskirche (DREHSEN 1994).

Was ist näherhin zur Lage der Religion in der Gesellschaft zu sagen, die die Betonung der »Religionskompetenz« erforderlich macht?

Entgegen den bis in die 1990er Jahre vorherrschenden Säkularisierungsprognosen kann ein Bedarf an Religion und die Hervorbringung neuer Formen von Religiosität auch für die (spät-)modernen Lebensverhältnisse der Gegenwart diagnostiziert werden. Allerdings wird die »gelebte Religion« in ihren individualisierten wie zugleich pluralisierten Formen immer weniger durch die kirchliche Tradition des Christentums bestimmt. Kirchlich normierte Religion wird, wenn überhaupt, nur noch vermittelt durch eine Vielzahl von Ritual-Formaten, Erzählfiguren und Wertvorstellungen wirksam, in denen sich mehr oder weniger deutlich christentumsgeschichtlich tradierte Motive niederschlagen und spiegeln. Zugleich gilt auch dies: Mussten früher die Menschen erst davon überzeugt werden, dass individuelle Deutungen und Ausgestaltungen religiöser Vorstellungen und ritueller Praxen nicht nur erlaubt, sondern angemessen sind, so scheinen gegenwärtig die religiösen Ausdrucks- und Handlungsgestalten, die überindividuelle Geltung beanspruchen, unter den Verdacht mangelnder Authentizität zu geraten. Die »Postbürgerlichkeit des modernen Lebens« entzieht sich »den Konsistenzzumutungen konfessioneller Praxis unmerklich, aber deutlich.« (NASSEHI 2009, 188)

Gleichwohl: Der Religions-Bedarf ist davon nicht grundsätzlich berührt. Er zeigt sich in den sog. »kleinen Transzendenzen« (LUCKMANN) des Alltags ebenso wie in den großen gesellschaftlichen Inszenierungen von Freude und Trauer. In dieser Situation werden religiöse Institutionen und Zugehörigkeitsformen keineswegs überflüssig. Aber ihre Funktion und ihre Aufgabenbestimmung verändern sich: Einerseits kann die individualisierte implizite Religion der meisten Menschen immer weniger kirchlich normativ geformt werden. Andererseits aber mangelt es ihr an einer reproduzierbaren und kollektiv stabilen Formqualität. Vor allem fehlt es an Reflexionsgestalten, die den Konflikt zwischen den wissenschaftlich und technisch geprägten Teilsystemen und den persönlichen Lebensformen kognitiv wie emotional bearbeitbar – und damit auch: aushaltbar – machen. Hierauf reagiert die Kirche, reagieren die Pfarrerinnen und Pfarrer mit dem Angebot von Kommunikationsformen expliziter Religion, d. h. mit theologisch reflektierten Mustern symbolischer Kommunikation und mit konsistenten Angeboten religiöser Praxis, z. B. in Form von Kasualien. Im gelingenden Fall sind damit für die Menschen innere Bildungsgewinne verbunden, die ihnen dazu verhelfen, ihre Selbst- und Weltdeutungen deutlicher und differenzierter zu artikulieren. Die so durch eine kommunikativ geprägte »Verkündigung«, durch Seelsorge und diakonisches Handeln angesprochenen Menschen sind dann auch eher in der Lage, untereinander und mit anderen auf eine veränderte Weise umzugehen.

Zusammengefasst: Es geht um die Thematisierung und Gestaltung des Verhältnisses zwischen impliziter und expliziter Religion im Modus des Angebots, statt, wie früher zumeist, in dem der bloßen Dominanz. Die Gestaltung des Verhältnisses zwischen impliziter und expliziter Religion, zwischen individueller und kulturell-kollektiv geformter Religion wird zum professionellen Kern des Pfarrberufs. Pfarrerinnen und Pfarrer stehen nicht nur im Schnittpunkt dieser beiden Religionsformate, sondern sie haben, in je gewisser Weise, an beiden teil. In diesem Verständnis beschreibt der Begriff der »Religionskompetenz« die zentrale Anforderung an das Pfarramt: Es geht (a) um empirisch fundierte, systematische Kenntnisse des Feldes der »unbestimmten« Religion, wie sie jedem Zeitgenossen je individuell gegenwärtig sein kann. Und es geht (b) um die Möglichkeit, das evangelische Christentum prägnant vertreten zu können, d. h. den gegenüber den gegebenen Lebensverhältnissen und Lebensdeutungen kritischen Sinn des Evangeliums zu verdeutlichen. Unerlässlich für die produktive Gestaltung der damit verbundenen Spannungsverhältnisse wird die Klärung der eigenen, individuellen »gelebten« Religion auch auf Seiten der Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrem Verhältnis zur »gelebten Religion« der mehr oder weniger kirchlich verbundenen Klientele, zumal sich auch Pfarrerinnen und Pfarrer kirchlich tradierten Normierungen meist auch nicht mehr bruchlos fügen.

1.2 Die von den Pfarrerinnen und Pfarrern wahrgenommene Gestalt des Berufes

Die Berufswahl »Pfarramt« hat sich heute hochgradig individualisiert. Das Feld der sozialen Herkünfte von Pfarrern ist breiter geworden, und das Bildungsbürgertum als bisher dominantes Rekrutierungsfeld wird kleiner. Es gibt nur noch wenige Pfarrer-Dynastien über Generationen hinweg. Vor allem sind durch den stark gewachsenen Frauenanteil im Berufsfeld vermutlich andere Dynamiken in der Kontaktkultur und andere Gestaltungsoptionen der Berufsrolle entstanden. Dazu tritt das Wissen, dass die Berufsposition und -reputation immer weniger von einer »Amts«-Aura und »Amts«-Autorität getragen wird. Insofern trifft gerade auf den Pfarrberuf die Last der Individualisierungsanstrengungen in der Berufspraxis ganz besonders zu. Denn zugleich ist ja der öffentliche Charakter der Berufsposition keineswegs verschwunden und gesellschaftsweit sind die Ansprüche der Menschen gerade an die je individuelle Verstehens-Passung religiöser Rede und Anrede gewachsen. Deren Nichterfüllung wird oft mit Kontaktabbruch bis hin zum Kirchenaustritt beantwortet. Damit korrespondiert die herausragende Bedeutung der persönlichen Beziehungsqualität zu den Pfarrerinnen und Pfarrern für die Motivation der Kirchenmitglieder, auch bei wachsender Distanz zu den »kerngemeindlichen« Aktivitäten und Mentalitäten den Kontakt zur Kirche nicht völlig abbrechen zu lassen. (So ein wichtiges Ergebnis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD: EKD 2014).

Angesichts all dessen sind die an direkt erzählten Berufsbiographien gewonnenen Kenntnisse über den bei den Pfarrerinnen und Pfarrern je individuell ausfallenden Zusammenhang zwischen Berufszugang, Studienprägung, Arbeitsschwerpunkten und ihren Problemwahrnehmungen im Kontext der gesellschaftlichen Strukturdynamiken besonders nützlich für die Gestaltung der Zugangswege, der Ausbildung und der Bedingungen der Berufsausübung.

Kenntnisse über die komplexen Selbstwahrnehmungen bei Pfarrerinnen und Pfarrern zu erlangen ist freilich eine methodisch anspruchsvolle Aufgabe. Sie kann in ihrem ersten Schritt keinesfalls repräsentativ für die Pfarrerschaft erfolgen, weil für populationsrepräsentative Erhebungen die Kenntnis inhaltlich verlässlicher Indikatoren noch nicht gegeben ist. Als empirische Indikatoren dürfen sie nicht aus praktisch-theologisch orientierten Konzepten theoretisch abgeleitet werden, denn ein Konzept ist von der empirischen Sachlage sorgfältig zu unterscheiden. Stattdessen muss es zu allererst um ein theoretisch und methodologisch fundiertes – vor allem: behutsames – Ermöglichen von Selbstauslegungen gehen, die mit Hilfe einer berufsbezogenen und persönlich-biographisch strukturierten Erzählung seitens einzelner Pfarrerinnen und Pfarrer gewonnen werden.

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