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10. DER PFARRER IN DER VOLKSKIRCHE ALS VERMITTLER ZWISCHEN KIRCHENDISTANZIERTER ÖFFENTLICHKEIT UND KERNGEMEINDLICHER FRÖMMIGKEIT
ОглавлениеPFARRER JONAS JÄGER
Bernhard Dressler/Interview: Albrecht Schöll
Wenn (.) ähm ich für mich sage, dass äh für/ für meinen Glauben Texte wie die Bergpredigt oder auch äh die/ die alttestamentlichen Propheten mit ihren äh sozialen Forderungen, das spielt für mich eine wesentliche Rolle. Ich finde/ äh ich/ ich meine, der Glaube muss äh sichtbar werden. (.) Und er hat äh politische Relevanz. Und das äh (.) bejahe ich für mich. Das versuche ich in/ zu/ zu leben in meiner persönlichen Lebensführung. Und das äh hat natürlich auch Konsequenzen auf die Art, wie ich äh Texte lese und verstehe. Ganz/ Ganz unbedingt. Und das andere ist, dass für mich die Vorbereitung von Predigt und Gottesdienst ähm (.) auch der Hauptpunkt ist, wo ich SELBER mich mit diesen biblischen Texten (.) auseinandersetze, und äh deshalb auch gerne ähm Predigtliteratur hinzuziehe, um mich auch anregen zu lassen, von der Art und Weise, wie andere diese/ diese Texte verstehen und was sie darin lesen. Und äh (.) dann eben vielleicht selber die/ die eine oder andere Erkenntnis da habe, wie man (.) einen Text auch anders verstehen und lesen kann.
Ich habe als eine Bereicherung erlebt, die Bibel zu lesen als ein Buch, in dem Menschen von ihren Glaubenserfahrungen berichten, und dann diese Vielfalt zu entdecken, die in diesen Glaubenserfahrungen steckt.
10.1 Persönliche Situation
Herr Jäger ist zum Zeitpunkt des Interviews 36 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Er versieht seinen Pfarrdienst seit einigen Jahren in zwei benachbarten Dörfern, die sehr unterschiedliche kirchliche und soziale Strukturen aufweisen: Die kleinere Gemeinde ist stark von der landeskirchlichen Gemeinschaft und einer hohen Kirchenverbundenheit geprägt. J. spricht von einer innigen Frömmigkeit. Die etwa doppelt so große Nachbargemeinde ist ein industriell geprägter Ort mit eher kirchenferner Bevölkerung, in Fragen, die Kirche und Glauben stellt, manchmal auch sehr unbedarft, aber mit einer überraschend großen Bereitschaft für das Mitfeiern kirchlicher Events.
Mit der Situation im Kirchenkreis ist J. zufrieden (ich glaube, wir machen hier im Kirchenkreis schon eine gute Arbeit). J. ist im Pfarramt von Anfang an mit Strukturreformmaßnahmen betraut. Den damit oft verbundenen Stress und das Unbehagen an administrativen Abwicklungsmaßnahmen lässt er kaum erkennen.
10.2 Religiöse Sozialisation und Theologiestudium
Herr Jäger ist in einem stark kirchlich geprägten Milieu in Ostdeutschland aufgewachsen. Das Abitur hat er einige Jahre nach der Wende gemacht. Neben regionalen Traditionen eines sehr verbindlichen evangelischen Christentums spielt für sein Gefühl der Beheimatung und des Eingebettet-Seins in die Kirche die Konfrontation mit dem religionskritischen Umfeld der DDR und dessen Nachwirkungen eine wesentliche Rolle. Die entscheidenden Impulse für sein Theologiestudium erhält er jedoch nicht nur durch sein Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche. Er ist dafür auch in starkem Maße kognitiv motiviert. Das Motiv, Glaubensfragen theologisch zu reflektieren und zu klären, verbindet sich von Anfang an mit dem Ziel, Pfarrer zu werden. Herr Jäger sucht in seinem persönlichen Umfeld schon als Schüler und Student Gesprächskontakte mit Personen, die sich distanziert zu Kirche und Religion verhalten. Sein intellektuelles und wissenschaftliches Interesse an der Theologie ist eng verbunden mit der Pflege einer besonderen praxis pietatis und dem gleichzeitigen Bedürfnis nach Verankerung in Halt gewährenden sozialen Lebensformen. Das führt bei ihm zur Ausbildung von kommunikativen Umgangsformen, die seine intellektuellen Reflexionen an lebensweltliche Themen zurückbinden.
In dem als Freiraum empfundenen kirchlichen Milieu und aufgrund seines Engagements in einer sehr aktiven jungen Gemeindearbeit hat Herr Jäger auch verschiedene Pfarrer kennengelernt. So entwickelte sich seine Vorstellung, dass der Pfarrberuf seinen Begabungen entspreche. Nach dem nach 1990 angetretenen Grundwehrdienst beginnt er das Theologiestudium in einer ostdeutschen Großstadt. Eine Zeitlang ist er währenddessen – bis zu seiner relativ frühen Heirat – Mitglied in einer Kommunität für Studierende.
Eine wichtige Erfahrung während des Studiums machte J. als Tutor bei der Begleitung von Studierenden, die durch die historisch-kritische Bibelexegese verunsichert waren. Dabei ging es ihm darum, diese verschiedenen Zugänge, diesen pietistisch-evangelikalen, stark die Autorität der Heiligen Schrift betonenden Zugang, und die historische Kritik in ein wertschätzendes Gespräch zu bringen. Für J. selber scheint seine individuelle Frömmigkeit mit der Wissenschaftlichkeit der Theologie nicht in Konflikt geraten zu sein. Er betont die Bedeutung des Studiums für die Persönlichkeitsentwicklung und sieht in den nicht unmittelbar zweckorientierten Inhalten des Studiums eine Art unverzichtbaren Mehrwert.
Im Rückblick auf das Studium hat J. auf dem Gebiet der Systematischen Theologie nicht nur am meisten gelernt, sondern sich dort auch am meisten eingebracht. Das Durchdenken von Glaubensthemen wird als der von Anfang an vorherrschende Grundzug seines theologischen Interesses deutlich. Trotz des von Anfang an angestrebten Pfarrberufs gehört die Praktische Theologie nicht zu seinen wissenschaftlichen Interessenschwerpunkten. Seinen intellektuellen Fähigkeiten verdankt er das Angebot, im Fach Kirchengeschichte zu promovieren. Die Absicht, Pfarrer zu werden, scheint aber nie in Frage gestellt zu sein: Ich habe als eine Bereicherung erlebt, die Bibel zu lesen als ein Buch, in dem Menschen von ihren Glaubenserfahrungen berichten, und dann diese Vielfalt zu entdecken, die in diesen Glaubenserfahrungen steckt.
10.3 Das Professionsprofil des Pfarrers Jonas Jäger
Herr Jäger entscheidet sich nach dem Studium, das Vikariat wegen der sehr rigiden Einstellungspolitik seiner ostdeutschen Landeskirche in einer westdeutschen Landeskirche anzutreten. Mehrfach betont er, gut auf den Pfarrberuf vorbereitet worden zu sein. Nur bei gewissen technisch-administrativen Aufgaben fühlt er sich überfordert. Hier sieht er Förderungsbedarf, vor allem aber die Aufgabe, durch ehrenamtliche Netzwerke den Pfarrer zu entlasten, dessen verlässliche Anwesenheit und Kontaktpflege indes unerlässlich bleibe.
Die Vorliebe für die systematische Theologie bleibt ihm auch im Beruf erhalten und kommt insbesondere bei seinen Predigtvorbereitungen zum Zuge. So wichtig historisch-kritische Exegese für ihn weiterhin ist, versteht er sich als Pfarrer doch als jemand, der Gottes Wort zu verkünden hat […] Und diesen pfarramtlichen Auftrag, für den ist es zu wenig, finde ich, die Bibel nur zu lesen als ein historisches Dokument.
Neben seiner theologischen Kompetenz sieht er den Pfarrer als eine Art Kommunikator im Dienste einer Kirche, die als Volkskirche öffentlich präsent ist und die eine Arbeit vollzieht, die von Interesse ist über ihre Mitgliedergrenzen hinaus. Für die öffentliche Präsenz spielt zunächst mal vor allen Dingen ganz klassisch der Gottesdienst eine Hauptrolle. Die volkskirchliche öffentliche Präsenz ist für J. vor allem durch solche Themen gekennzeichnet, die nicht nur in einem sehr allgemeinen Sinn von öffentlichem Interesse sind, und bei denen sich die Frage nach der besonderen Kompetenz der Kirche stellen lassen könnte, sondern bei denen sich politische und kulturelle Themen auf bestimmte Weise mit – im weitesten Sinne – religiösen Themen verbinden. So erhält dann auch in seinem Amtsverständnis der Gottesdienst in einer kirchlichen Minderheitssituation die ihm im kirchlichen Selbstverständnis zwar zustehende, oft aber zu wenig wahrnehmbare öffentliche Bedeutung. So wird der Gottesdienst flankiert von Bildungsveranstaltungen und kulturellen Angeboten in der Kooperation mit der Kommune und örtlichen Vereinen. Selbstbewusst reklamiert J. im Blick auf die Aktivitäten, die über die gemeindlichen Kernaufgaben (Kasualien, Konfirmandenarbeit usw.) hinausgehen, eine für die Ortsidentität wesentliche Rolle. In der kleineren, stärker evangelikal geprägten Gemeinde ist ihm die Erwachsenenarbeit besonders wichtig, mit dem Schwerpunkt auf Bibelarbeiten, für Vorträge zu bestimmten Themen, die sich im Bereich Kirche und Glauben stellen.
Eine gewisse Polarisierung zwischen der kleiner werdenden Kerngemeinde und einem Umfeld, in dem die Teilnahmebeteiligung zwar größer wird, aber an Verbindlichkeit verliert, konstatiert J. nüchtern. Er klagt nicht darüber und vermeidet jede Abqualifizierung der weniger verbindlichen Gemeindeglieder. Die öffentliche Resonanz seiner Arbeit ist ihm wichtiger als die Pflege eines zwar intensiv empfundenen, aber sich sozial verkapselnden Christentums. Immerhin kann er sich in dieser Haltung bestärkt sehen, insofern er die öffentliche Resonanz nicht am Maßstab bloßer Geschäftigkeit messen kann, sondern an einem insgesamt steigenden Gottesdienstbesuch, also am religiösen Kerngeschäft des Pfarrberufs. Die Äußerungen von J. zu den Resonanzen im öffentlichen Umfeld der kirchlichen Arbeit zeigen eine gewisse Nüchternheit, eine realistische Einschätzung begrenzter Möglichkeiten, aber auch unverhohlene Zufriedenheit mit manchen Erfolgen und mit der Tatsache, dass die Stimme der evangelischen Kirche hörbar und gehört bleibt.
Am Beispiel der Gottesdienstgestaltung charakterisiert sich Herr Jäger selbst, indem er ein auf öffentliche Wirksamkeit einschließlich politischer Themen bedachtes Christentum skizziert und dafür die biblisch einschlägigen theologischen Bezüge benennt: Bergpredigt und alttestamentliche Propheten mit ihren sozialen Forderungen. Beim Thema Predigt knüpft Herr Jäger am deutlichsten an seine wissenschaftlich-theologischen Interessen an, die für seine Studien- und Berufsentscheidung den Ausschlag gegeben haben.
Insgesamt betont J., wie sehr er sich im Pfarrberuf wohlfühlt. Er sieht sich dafür gut ausgebildet, gerade auch durch jene Elemente des Theologiestudiums, die nicht unmittelbar praktisch zweckgerichtet sind, sondern die neben theologischer Urteilsfähigkeit auch Persönlichkeitsbildung vermitteln. Allfällige und oft zur Klage Anlass gebende kirchliche Strukturprobleme mit ihren administrativen Belastungen leugnet er nicht, relativiert sie aber gegenüber den Aufgaben, die er im Zentrum des Pfarramts sieht. Auch solche Phänomene, die oft unter den Aspekten »Säkularisierung« Anlass zum zeitkritischen Lamento geben, analysiert er klar und nüchtern (und nimmt dafür auch wissenschaftliche Expertise zur Kenntnis), betrachtet sie aber ebenso sachlich als jene unvermeidlichen Aufgaben, die sich im Pfarramt eben stellen. In der Art und Weise, wie er darüber aus seiner Gemeindearbeit berichtet, ist ein gewisser Stolz auf Erfolgsbilanzen erkennbar.
Herr Jäger sieht sich bei allen kommunikativen Fähigkeiten, die sich auch in so etwas wie Netzwerkpflege über das enge kirchengemeindliche Umfeld hinaus zeigen, weniger als Administrator, sondern im klassischen Sinn pastoraler Professionstheorie als Prediger und Seelsorger für seine heterogene Gemeinde, die ihm auf den Kernfeldern pfarramtlichen Handelns ganz unterschiedliche Gestaltungsfähigkeiten und -bereitschaften abverlangt. Die religiösen Kernfelder, vor allem der Gottesdienst, aber auch die Konfirmandenarbeit und die Kasualien, sieht er keineswegs nur als kerngemeindlich verengte Frömmigkeitspflege, sondern zugleich und konstitutiv als öffentliche Aufgaben. Gottesdienst und darüber hinaus gehende Öffentlichkeitsaktivitäten schließen sich für ihn nicht nur nicht aus, sondern bestärken sich wechselseitig. In dieser Vermittlung unterschiedlicher Handlungsfelder besteht der Kern seiner Religionskompetenz.
In der Darstellung und Bilanzierung seiner Arbeit wird ein volkskirchlicher Protestantismus von großer Selbstverständlichkeit deutlich. Herr Jäger ist von Jugend an kirchlich beheimatet geblieben und hat durch das Studium zusätzlich zu seiner innerkirchlichen Vertrautheit und Orientierungssicherheit das für ihn notwendige Professionswissen hinzugewonnen, und zwar gerade dadurch, dass das Studium nicht enger verschult war. Diese Verbundenheit und Vertrautheit mit seiner Kirche hindert ihn nun gerade nicht daran, auch mit kirchendistanzierteren Haltungen umgehen, ins Gespräch kommen und sie ins Gravitationsfeld seiner gemeindlichen Arbeit einbeziehen zu können. Seine Frömmigkeit ist kein Kommunikationshindernis gegenüber einem religiös eher unbedarften Umfeld. Dem entspricht auf der anderen Seite ein starker vermittlungstheologischer Impuls, der schon im Studium wirksam wurde, und mit dem er evangelikale und offenere Formen des Protestantismus in wechselseitig wertschätzende Gespräche verwickeln will, ohne darüber die historisch-kritische Reflexion der christlichen Tradition in Frage zu stellen. Er bezieht seine theologische Reflexion allerdings strikt auf einen Verkündigungsauftrag, für den die Bibel als Gottes Wort im Menschenwort der Maßstab bleibt. Sein theologisches Interesse pflegt er auch im Beruf weiter und setzt es nun ins Verhältnis zu den unterschiedlichen (unterschiedlich intensiven und unterschiedlich kirchendistanzierten) Formen gelebter Religion. Herr Jäger zeigt eine nicht nur systematisch, sondern auch pastoraltheologisch reflektierte Form religiöser Professionalität, die ihm den erfolgreichen Umgang mit religiös wie sozial und kulturell äußerst heterogenen Herausforderungen ermöglicht.