Читать книгу Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie - Dirk Kellner - Страница 45
3.4.3.2 Divergenzen und Konvergenzen von soziologischem und theologischem Charismabegriff
ОглавлениеZur Beantwortung dieser Frage greift Kunz auf Max Webers Charismabegriff zurück (→ 1). Er vermittelt ihn kritisch mit dem theologischen Charismabegriff (→ 2) und zieht aus den Divergenzen und Konvergenzen zwischen beiden Konzepten Folgerungen für das Verhältnis von Charisma und Institution (→ 3), die sich wiederum für eine Vertiefung der soziologischen Reflexionsperspektive des Gemeindeaufbaus fruchtbar machen lassen (→ 4).
1. Um das ganze Theoriepotential des Weber’schen Charismabegriffs auszuschöpfen, schließt sich Kunz der Weberinterpretation Winfried Gebhardts und Wolfgang Schluchters an. Dadurch solle die einseitige Interpretation des Weber’schen Konzeptes in Theologie und Soziologie überwunden werden. Zu ihr zählt Kunz auch die Rezeption des Charismabegriffs, die vor allem in der protestantischen Ekklesiologie unter prinzipiell anti-institutionellem Vorzeichen erfolgt sei und ihn primär als «Chiffre des Aus- und Aufbruchs der Lebendigkeit» aus institutioneller Enge und Unbeweglichkeit verstanden habe.[532] Denn das Grundproblem im Verhältnis von Institution und Charisma sei nach Weber nicht nur die institutionelle Erstarrung, sondern liege zugleich in der Notwendigkeit, das spontane, aber auch labile Charisma zu bändigen und «als den ursprünglichen Geist der Institution» zu bewahren.[533] Zum anderen widerspreche Weber der Einschränkung des Charismas auf «die Kategorie der Persönlichkeitseigenschaft». Charisma sei «kein psychologischer, sondern ein soziologischer Begriff»[534], der das «Prinzip des Außeralltäglichen»[535] beschreibe. Ihm gegenüber stehe die Institution als «Prinzip des Alltäglichen». Beide seien sozial-anthropologische Grundphänomene und dialektisch miteinander zu verbinden, da sie beide «fundamental im Mensch-Sein verankert» sind:[536]
«Jeder menschlichen Vergemeinschaftung, die dauerhaft, das heißt alltagsbeständig sein soll, eignet ein institutionelles Moment und jeder menschlichen Vergemeinschaftung, die lebendig bleiben, das heißt, nicht in Routine erstarren soll, eignet ein charismatisches Moment.»[537]
Da das charismatische und das institutionelle Moment zwar «zu allen Zeiten und überall»[538] gültig, in ihrer konkreten Gestalt aber ständig dem Wandel unterworfen seien, müssen sie an jeder «Zeitstelle»[539] jeweils neu in Beziehung gesetzt werden. Das heißt, Charisma und Institution bilden nach Kunz in soziologischer Perspektive keine apriorischen Gegensätze, sondern sind als immer wieder neu zu vermittelnde Momente der sozialen Grundbestimmtheit des Menschen zu fassen.
2. Der theologische Charismabegriff wird von Kunz im Anschluss an Paulus entwickelt, dessen theologische Leistung er darin sieht, die Charismen durch die Liebe qualifiziert und an den Aufbau der Gemeinde gebunden zu haben. Charisma im paulinischen Sinn sei demnach mehr als ein rein pneumatisch-psychisches Phänomen, es sei ein «Beziehungsphänomen»[540] – im Unterschied zum soziologischen Charisma aber nicht wertneutral, sondern inhaltlich als Liebe bestimmt. Durch das Charisma entstehe eine «Situation existentieller Betroffenheit», in der «die Routine des Alltags zerbricht […] und das Existentielle zum Durchbruch kommt».[541] Da es Paulus aber im Gegensatz zu den korinthischen Enthusiasten nicht um eine momentan-ekstatische, sondern um eine dauerhafte Aufhebung der alltäglichen Herrschaftsverhältnisse gehe, zeige die paulinische Gemeinde als charismatische Gemeinde Konturen einer idealtypischen Institution. Durch die charismatische Gemeindeordnung werde die Ausrichtung auf die Erbauung der Gemeinde durch Integration institutioneller Werte wie Verständlichkeit, Verlässlichkeit, Kontinuität, Dauerhaftigkeit und Stabilität erreicht. Zugleich verhindere Paulus durch die Verbindung von Institution und Charisma, dass die Kirche zu einer starren unveränderlichen Anstalt wird. Die Erbauung wird zum «institutionalisierenden Prinzip der Charismen».[542] Zustimmend zitiert Kunz den zusammenfassenden Satz von Ulrich Luz: «Durch die Charismen bleibt die Kirche lebendige Institution; durch den Bezug auf die Kirche bleiben die Charismen Dienste und werden nicht zu Herrschaftsformen.»[543]
3. Der soziologische und der theologische Charismabegriff werden von Kunz als Ausdruck für ein soziales Beziehungsphänomen interpretiert. Der grundlegende Unterschied liege in der unterschiedlichen Qualifikation der Beziehung: Während Charisma nach dem Neuen Testament eine durch Liebe bestimmte Dienstgabe sei, bezeichne der Begriff bei Weber eine Herrschaftsform. Da aber mit Webers Typologie das korinthische Pneumatikertum soziologisch erfasst werden könne, zeigen sich Konvergenzen zwischen beiden Konzeptionen und eröffne sich eine «kritische Anschlussmöglichkeit»[544]. Da die Charismen als «Lebensäusserungen des geistbegabten Menschen»[545] in der sarkischen Existenz des Menschen Gestalt annehmen, stehen sie eo ipso in der Gefahr, durch die Sünde pervertiert zu werden und sich im Sinne eines individualistischen Nachfolgeethos gegen das Gnadenprinzip der Institution zu richten. Das soziologische Charismakonzept biete eine «realistische Sicht menschlicher Gemeinschaft»[546] und beleuchte ebendiese Konfliktmöglichkeit zwischen Charisma und Institution, die die theologische Sicht in der «charismatischen Institution»[547] Kirche durch die Liebe überwunden sieht. Das Theoriepotential des Weber’schen Charismabegriffs liege somit in der «verschärften Wahrnehmung für die Krisenanfälligkeit der Erneuerung menschlicher bzw. religiöser Vergemeinschaftung»[548].
4. Aus der Konvergenz soziologischer und theologischer Charisma-Rede ergibt sich für Kunz die Einsicht, dass im Gemeindeaufbau das «prekär labile[ ] Gleichgewicht»[549] von Charisma und Institution bewahrt werden muss. Die dialektische Harmonie beider Größen sei dem Gemeindeaufbau als Aufgabe gegeben. Das heißt, dass Wandel und Bewahrung, Erneuerung und Erhaltung, Veränderung und Kontinuität nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sondern in der Gemeindeaufbautheorie zusammengedacht werden müssen.