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3.5.4.2 Charisma im funktionalen Paradigma

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Das funktionale Paradigma dient Schwarz nicht nur als kritische Norm institutioneller Elemente, sondern zugleich als hermeneutische Meta-Theorie, die den Anspruch erhebt, systematisch-theologische Streitfragen «aus makroskopischer Perspektive»[740] betrachten und entscheidende Kriterien zu ihrer Beantwortung geben zu können. Die Themen werden dabei einem der drei grundlegenden Lebensäußerungen der Gemeinde (Glaube, Gemeinschaft, Dienst) zugewiesen, die entsprechenden kontroversen Positionen als These und Antithese dem magischen bzw. dem mystischen Paradigma zugeordnet. Im funktionalen Paradigma wird dann eine synthetische Lösung gesucht. In dieser Systematik kommt Schwarz im Bereich der dritten Lebensäußerung, Dienst, auf die Charismen zu sprechen. Sie stehen als ereignishafte Elemente den institutionellen Ämtern gegenüber. Die Verabsolutierung jeweils eines Pols führt zu den Einseitigkeiten des magischen bzw. mystischen Paradigmas: Individualismus bzw. Klerikalismus.

Als «Klerikalismus» bezeichnet Schwarz die Position, die die charismatische Begabung des Amtsträgers sakramentalistisch zu sichern versucht. Zwar hätten die Kirchen der Reformation ein derartiges Amtsverständnis weitgehend abgelehnt, doch ließen sich noch innerhalb des Protestantismus «Spuren des Klerikalismus»[741] aufweisen. Das Verständnis des Pastors als eines Alleskönners, das ihn «zum Dilettantismus […] verurteilt» und zugleich die «pastorenzentrierte Versorgungsmentalität in der Gemeinde zementiert», weise ebenso auf die «magische» Identifikation von Charisma und Amt wie die Degradierung der Laien zu «Gehilfen», die dem Pastor bei der Erledigung seiner Aufgaben behilflich sind.[742] Dem gleichen Denkparadigma entspringe ein «geistlicher Taylorismus»[743], der von im Voraus fixierten Aufgaben ausgehe und ihnen Mitarbeiter ohne Beachtung ihrer geistlichen Gaben zuordne. Er könne zu einer «Opfermentalität»[744] führen, die das Leiden an Aufgaben geistlich verklärt, anstatt kritisch nach der Übereinstimmung von Gabe und Aufgabe zu fragen.

Die entgegengesetzte Position ist nach Schwarz ein «Individualismus», der durch ein «privatistische[s] Glaubens- und Dienstverständnis»[745] gekennzeichnet ist. Er verweigert sich einer konkreten Zuordnung von Gaben und Aufgaben, da sein Verständnis der Charismen ihrer «konkrete[n] ‹Einplanung› für den Gemeindeaufbau»[746] widerspricht. Die spiritualistische Abwehr gegen jede Planung und die theologische Berufung auf das Unverfügbare führt aber dazu, dass die Gaben nicht zu dem Zweck eingesetzt werden, zu dem sie der Geist gegeben hat. Dadurch wird die Gemeinde aber der Dienste beraubt, für die Gott den entsprechenden Menschen begabt hat. Schwarz zitiert zustimmend Bohren: «Ohne Planung […] bleiben die Charismen ungenützt […] Ein Haupthindernis für solche Planung besteht in der unbestimmten Vorstellung, der Glaube an den Heiligen Geist sei unvereinbar mit ‹Planung›.»[747]

Der funktionale Ansatz des Gemeindeaufbau-Paradigmas führt nach Schwarz zu einem «funktionalen Charismenverständnis»[748], das die konsequente Zuordnung von konkreten Aufgaben («Ämtern»[749]) und geistlichen Gaben fordert. Theologische Grundlage dieser Zuordnung sei das Verständnis von Gemeinde als Leib Christi, nachdem jedem Glied des Leibes durch die verliehene Gabe eine «Stellung und Funktion»[750] im Ganzen zugewiesen werde. Die empfangene Gabe weise auf die Berufung und die zu erfüllende Aufgabe hin. In der Begrifflichkeit des funktionalen Paradigmas ausgedrückt: Das Ereignis (das Geschenk der Charismen) «bringt» die Institution («Ämter») «hervor».[751] Umgekehrt dienen die Ämter den Charismen zu «Schutz, Bewahrung und Förderung»[752]. Wie schon in der «Theologie des Gemeindeaufbaus» betont Schwarz, dass nicht in der Gemeinde eingesetzte Gaben in der Gefahr stehen zu pervertieren. Der Missbrauch von Charismen sei nur dadurch zu verhindern, dass ihnen Raum gegeben wird.


Setzt der Gemeindeaufbau bei dem an, was Gott an Gaben geschenkt hat, so trägt er nach Schwarz nicht nur dem von Gott geschenkten Reichtum Rechnung, sondern wird auch davor bewahrt, nach einem eigenen Konzept betrieben zu werden und von den Bedürfnissen und Wünschen der Gemeindeglieder oder denominationellen Vorgaben bestimmt zu sein. Der Ansatz bei den Charismen sei vielmehr ein «theonomer Ansatz»[753]: «Indem wir bei den Gaben, die uns Gott geschenkt hat, ansetzen, lassen wir uns von ihm zeigen, wie er unsere Gemeinde haben möchte.»[754]

Eine Praxis des Gemeindeaufbaus, der sich dem funktionalen Paradigma verpflichtet weiß, orientiere sich daher an folgenden vier Leitlinien, die im Wesentlichen den schon in der «Theologie des Gemeindeaufbaus» und im «Gabentest» dargelegten Prinzipien entsprechen: (1.) Es sei die vordringliche Aufgabe der Gemeindeleitung, jedem Christen beim Entdecken seiner geistlichen Gaben zu helfen. (2.) Die entdeckten Gaben müssen konkreten Aufgaben zugeordnet werden. Dabei sei (3.) die Leitung der Gemeinde selbst als ein Charisma unter vielen zu begreifen. Schließlich (4.) solle jeder, dessen Aufgabe nicht mit seiner geistlichen Gabe übereinstimmt, aus dem entsprechenden Dienst ausscheiden und zwar «ganz gleich, ob es sich um einen Straßenevangelisten, einen Hauskreisleiter, einen Pastor oder einen Bischof handelt»[755]. Wer aus einem unpassenden Dienst ausscheide, werde nicht nur selbst zum glücklicheren Menschen, sondern mache auch den wirklich von Gott begabten und für diese Aufgabe berufenen Menschen Platz.

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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