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3.5.1.2 Charles Peter Wagner: lay liberation und spiritual gifts

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Charles Peter Wagner hatte 1967 bei McGavran am Fuller Theological Seminary studiert, zunächst mit großer Skepsis. Im Rückblick urteilt er: «I entered his program in 1967 as a skeptic. But I emerged an enlightened person.»[607] Vier Jahre später wurde er zum Professor der missionswissenschaftlichen Fakultät berufen. Bis zu McGavrans Pensionierung 1981 arbeitete er eng mit ihm zusammen und übernahm drei Jahre später seinen Lehrstuhl. Um diese Zeit schloss sich Wagner der charismatischen Bewegung an und wurde zusammen mit John Wimbereiner der Hauptvertreter der «Dritten Welle», die besondere Betonung auf die übernatürlichen Zeichengaben legt.[608] Die Geistesgaben («spiritual gifts») nehmen aber schon seit Mitte der 60er Jahre eine zentrale Rolle in seiner Theologie ein[609] und werden ausdrücklich in seiner ersten monographischen Veröffentlichung (1976: Your Church Can Grow) thematisiert.[610] Das zweite der in diesem Buch genannten «seven vital signs of a healthy church»[611] ist die «lay liberation»[612], die Befreiung der Laien zum Dienst in der Gemeinde. Zur theologischen Begründung rekurriert Wagner, und damit geht er über McGavran hinaus, ausdrücklich auf die neutestamentliche Charismenlehre, die nach seiner Einschätzung erst durch die pfingstlerisch-charismatische Bewegung ins Bewusstsein von Theologie und Kirche getreten ist. Nur durch die charismatische Fundierung des Laiendienstes könne eine Überforderung des Laien verhindert werden. Wo die Verschiedenheit der Gaben nicht beachtet werde, ende die von vielen geforderte «total mobilization»[613] aller Laien in Resignation und Schuldkomplexen. Von jedem Einzelnen könne nur das gefordert werden, wozu Gott ihn durch eine geistliche Gabe fähig gemacht habe. Die Hauptverantwortung jedes Christen bestehe darin, seine von Gott geschenkten Gaben zu entdecken. Die Schlüsselfunktion («key function»[614]) des Pastors sei es, jedem Einzelnen bei diesem Prozess zu helfen und ihm den Einsatz seiner Gaben in der Gemeinde zu ermöglichen.

Drei Jahre später (1979) veröffentlicht Wagner das in mehreren Auflagen erschienene und bis heute äußerst einflussreiche Buch «Your Spiritual Gifts Can Help Your Church Grow».[615] Christian A. Schwarz, der an der Übertragung dieses Werkes ins Deutsche mitgearbeitet hat, stimmt in den Grundlinien seines Charismenverständnisses weitgehend mit ihm überein. Für ein angemessenes Verständnis seiner Konzeption ist daher die Kenntnis der Eckpunkte von Wagners Ansatz unabdingbar.

1. Hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Gaben ist für Wagner die paulinische Metapher vom Leib und seinen Gliedern (v.a. Röm 12,4).[616] Wie jedes einzelne Glied des Leibes eine bestimmte unveränderbare Funktion habe, so sei auch jedem Christen durch den Heiligen Geist mindestens eine «geistliche Gabe» gegeben worden. Sie sei eine von der natürlichen Begabung strikt zu unterscheidende «besondere Fähigkeit» und werde ihm zum Gebrauch in der Gemeinde gegeben.[617] Dabei widerspricht Wagner ausdrücklich der Auffassung, die Gaben seien «nur vorübergehender Besitz» («only temporary possessions»), das heißt nur für den Augenblick des Dienstes gegeben.[618] Aus der Analogie der paulinischen Leibmetapher lasse sich eindeutig ableiten, dass jede echte geistliche Gabe zum «lebenslangen Besitz» («lifetime possession») des Menschen werde.[619] In dem Moment, in dem ein Mensch Teil des Leibes Christi wird, erhalte er erstmalig und einmalig die von Gott in seiner Freiheit festgelegten geistlichen Gaben.[620] Sie seien nun vorhanden, zunächst möglicherweise schlafend oder «vergraben», doch sie können jederzeit geweckt, entdeckt, identifiziert und dann konsequent und geplant für das Wachstum der Gemeinde eingesetzt werden.[621]

2. Zur Entdeckung und Identifikation der geistlichen Gaben stellt Wagner einen 27 Gaben umfassenden Katalog zusammen. Da die paulinischen Charismenlisten exemplarischen Charakter haben, plädiert Wagner für einen «open-ended approach»[622]. Die in 1Kor 12,8–10; Röm 12,6–8 und Eph 4,11 genannten Charismen können um weitere ergänzt werden, die im Neuen Testament nicht oder zumindest nur indirekt als solche gekennzeichnet, aber aufgrund der Erfahrung zu den Gaben zu rechnen sind.[623] Darunter falle z.B. die aus 1Kor 13,3 abgeleitete «Gabe des Martyriums» und die der «freiwilligen Armut», die aus 1Petr 4,9.10 erschlossene «Gabe der Gastfreundschaft», aber auch die sich nur aus dem biblischen Gesamtzusammenhang ergebende «Gabe des Missionars».[624] Obwohl die einzelnen Charismen in den paulinischen Katalogen nicht näher beschrieben werden und sich in ihren Bedeutungen überschneiden, versucht Wagner jeder einzelnen geistlichen Gabe eine genaue Definition und ausführliche Beschreibung zuzuweisen und sie so voneinander unterscheidbar und eindeutig identifizierbar zu machen.

Mithilfe eines Fünf-Schritte-Plans könne jeder Glaubende seine eigenen Gaben eindeutig erkennen und präzise benennen.[625] Nach (1.) intensivem (Bibel-)Studium der möglichen Gaben solle (2.) jeder so viele Gaben wie möglich ausprobieren, indem er sich für jeden notwendigen Dienst in der Gemeinde bereit erklärt.

«Be available for any job around the church that you might be asked to. When you get an assignment, undertake it in prayer. Ask the Lord to show you through that experience whether you might have a spiritual gift along those lines. Hang in there and work hard. Discovering gifts does not usually come quickly. Give each job a fair shake and do not give up easily.»[626]

Dabei werde er (3.) durch Beachtung eigener Gefühle,[627] (4.) durch Prüfung der Effektivität des geleisteten Dienstes[628] und (5.) durch Bestätigung vonseiten der Gemeinde seine ihm gegebenen Gaben entdecken. Der letzte Schritt beinhalte das wichtigste Kriterium. Die objektive Rückmeldung der Gemeinde sei höheres Gewicht einzuräumen als dem subjektiven Befinden. Wer in einem Dienst Freude und Erfüllung empfindet, sichtbaren Erfolg sieht und durch andere Gemeindeglieder bestätigt wird, könne sich sicher sein, in diesem Bereich ein Charisma zu haben. Obwohl es bei jeder Gabe verschiedene Variationen und Grade gebe,[629] sei sie nun dennoch anhand des Gabenkatalogs eindeutig identifizierbar.

3. Eingehende Überlegungen stellt Wagner zur Frage nach der Bedeutung und Funktion des hauptamtlichen Pastors an. Einige empirische Studien hätten erwiesen, dass der Pastor die «key person»[630] sei. Da er wie kein anderer Gemeindewachstum fördern und hindern könne, trage er auch die Hauptverantwortung für die Entwicklung der Gemeinde.[631] Dies bedeute allerdings gerade nicht, dass er alle oder die meisten Aufgaben selbst erledigen soll. Dieser «Mythos des omnikompetenten Pastors»[632] widerspreche nicht nur dem Prinzip, dass niemand alle Gaben besitzt. Es führe auch dazu, dass die restlichen Gemeindeglieder in der Zuschauerrolle bleiben, anstatt ihre eigenen Gaben zu entdecken und einzusetzen. Dennoch lassen sich nach Wagner Gaben benennen, die für einen «successful, churchgrowth-pastor»[633] unabdingbar sind. Entgegen der weitverbreiteten Meinung seien das aber weder die Gabe des Hirten, der seelsorglichen Ermahnung, der Evangelisation noch die der Verwaltung. Ein Pastor mit der Gabe des Hirten («gift of pastor» bzw. «pastoral gift»), definiert als «special ability […] to assume a long-term personal relationship for the spiritual welfare of a group of believers»[634], stehe eher in der Gefahr, das Gemeindewachstum zu hindern, weil er durch die Konzentration auf die ihm anvertrauten Menschen nur noch wenig Zeit und Energie für die Ziele des Gemeindewachstums habe. In ähnlicher Weise könne auch die Gabe der seelsorglichen Ermahnung («gift of exhortation») zum Wachstumshindernis werden.[635] Ein Pastor, der eine oder beide dieser Gaben hat, müsse sich daher mit einer kleinen Gemeinde zufrieden geben oder aber seine Hauptaufgabe darin sehen, die Laien, die dieselbe Gabe empfangen haben, zur Ausübung dieses Dienstes zu schulen und zu ermutigen. Dann könne er sich auf das konzentrieren, was besonders in seiner Verantwortung liegt: das qualitative und quantitative Wachstum der Gemeinde.[636] Für dieses Ziel seien vor allem zwei geistliche Gaben unabdingbar: Die erste sei die Gabe des Glaubens («gift of faith»), die Wagner als «special ability […] to discern with extraordinary confidence the will and purposes of God for the future of His work»[637] interpretiert. Während diese Gabe den Pastor an Gottes Plan trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse festhalten lässt, verleihe ihm die Gabe der Leitung («gift of leadership») als zweite notwendige Gabe die Fähigkeit, diese auf die eigene Gemeinde anzuwenden und sie erfolgreich zu kommunizieren.[638]. Aufgrund dieser beiden Gaben sei der Pastor mit einem Schiffseigentümer zu vergleichen, der das Ziel der Reise erkennt und die gesamte Arbeit der Schiffscrew auf dieses Ziel ausrichtet. Im Prozess der Entdeckung, Förderung und Ausübung der geistlichen Gaben trage er daher die Hauptverantwortung.[639] Durch den Einsatz von Gaben-Seminaren und Studienmaterialien, zum Beispiel Gabentests, solle er den Gemeindegliedern helfen, ihre Charismen zu entdecken und gezielt einzubringen.[640]

Zusammenfassend kann festgestellt werden: C. Peter Wagner bietet einen geschlossenen Entwurf einer Charismentheologie, die ihren Fokus in der Beziehung aller Gaben auf das anzustrebende Wachstum der Gemeinde hat. Das Verständnis der «geistlichen Gaben» als einmalig vom Heiligen Geist gegebenen Fähigkeiten, deren Entdeckungsprozess operationalisier- und methodisierbar, deren inhaltliche Bestimmtheit eindeutig identifizierbar, deren Effizienz empirisch überprüfbar und deren Einsatz gezielt plan- und organisierbar ist, entspricht dem pragmatischen Ansatz der Church-Growth-Bewegung.

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