Читать книгу Strafrecht für Polizeibeamte - Elmar Erhardt - Страница 25
9.Ein historischer Fall zur Vertiefung
ОглавлениеDie strukturelle Unterscheidung von Unrecht und Schuld gehört zu den grundlegenden Kategorien des deutschen Strafrechts, sie ist jedoch dem angloamerikanischen Strafrecht gänzlich unbekannt. Zu welch unterschiedlichen Beurteilungen dies führen kann, zeigt der folgende historische Fall, den ein englisches Gericht im Jahre 1884 zu entscheiden hatte.
27Übungsfall 5: „Dudley and Stephans-Fall“23
Die schiffbrüchigen englischen Matrosen Dudley (D.) und Stephans (S.) hatten nach einer Havarie ihres Schiffes in Äquatornähe in einem Rettungsboot auf dem Ozean schon eine Woche ausgehalten. Nahrung und Wasser waren inzwischen ausgegangen. In ihrer Not (akute Verdurstungsgefahr) beschlossen sie schließlich, einen dritten Leidensgenossen (den Schiffsjungen J.) zu töten. Sie ernährten sich mehrere Tage von seinem Fleisch und Blut, bevor sie schließlich von einem britischen Frachter entdeckt und gerettet wurden.
Wären D. und S. nach (heutigem) deutschem Recht strafbar?
Nach deutschem Strafrecht hätten D. und S. durch die gemeinschaftliche Tötung des J. den Tatbestand des Totschlags (§ 212 I) erfüllt. Ob sie auch rechtswidrig gehandelt haben, hängt davon ab, ob zu ihren Gunsten eventuell der rechtfertigende Notstand nach § 34 eingreift. Wie schon im Kaufhausbrand-Fall gezeigt, scheitert jedoch die Güterabwägung bei einer Kollision der gleichrangigen Rechtsgüter Leben auf beiden Seiten. Der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes gilt nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ. Das bedeutet, dass Menschenleben auch dann nicht abgewogen werden dürfen, wenn durch Opferung eines Menschen mehrere andere Menschen (hier D. und S.) gerettet werden könnten. Alle Menschenleben sind gleichwertig, sodass eine Rechtfertigung nach § 34 ausscheidet. Nach deutschem Recht hätten D. und S. jedoch im entschuldigenden Notstand gehandelt, da sie in akuter Lebensgefahr die rechtswidrige Tat begangen haben, um diese Gefahr von sich abzuwenden. Damit hätten sie ohne Schuld gehandelt und könnten nach dem StGB nicht bestraft werden.
In England sind D. und S. vom Gericht zum Tode verurteilt worden. Auch nach englischem Strafrecht gab es keinen Rechtfertigungsgrund für die vorsätzliche Tötung des J. Insofern war das Urteil konsequent, zumal das englische Recht außer dem Unrecht keine zusätzliche Wertungsstufe der Schuld kennt. D. und S. sind allerdings damals vom britischen Königshaus zu sechs Monaten (!) Gefängnis begnadigt worden. Damit wurde auf außerrechtlichem Wege eine annähernd angemessene Lösung gefunden, wie sie nach deutschem Recht auf rein juristische Art und Weise erreicht wird.