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1 Einleitung und Motivation

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Schlechte Frisuren und schräge Klamotten: die 1980er Jahre. Ein Jahrzehnt, in dem bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1986 die »Hand Gottes« im Spiel war, Tennissport in Deutschland dank Boris Becker und Steffi Graf boomte, »99 Luftballons« von Nena und andere Hits der Neuen Deutschen Welle mitgesungen wurden und in dem Handys und Internet noch keine Rolle spielten. Die 1980er Jahre können wohl zu Recht als ein buntes und kurioses Jahrzehnt beschrieben werden.

In den 1980er Jahren wurden jedoch auch die Grundlagen für eine Vielzahl tiefgreifender und nachhaltiger Entwicklungen (Trends) gelegt. So begründete Jane Fonda mit Aerobic ab 1982 einen Fitnesstrend, der bis heute anhält – wenn auch ohne die damals obligatorischen Leggins, Bodys, Stirn- und Schweißbänder sowie Stulpen. Seit 1980 erfreut sich der Zauberwürfel – oder Rubik‘s Cube nach dem Erfinder dieses Geduldspiels Ernő Rubik – ungebrochener Beliebtheit und Computerspiele und Spielkonsolen starteten mit der seit 1980 in Europa erhältlichen Konsole Atari 2600 ihren unaufhaltsamen Siegeszug in deutschen Wohn- und Kinderzimmern. Der Start des Privatfernsehens (Sat.1, RTL, Tele 5 und ProSieben) Mitte der 1980er Jahre veränderte ebenso nachhaltig die Rundfunklandschaft wie der Einzug der Grünen 1983 in den Bundestag die politische Landschaft. Und 1989 wurde mit dem Mauerfall das Ende der DDR eingeläutet.

Auch in der betriebswirtschaftlichen Praxis und Forschung wurde in den 1980er Jahren ein wegweisender Trend geboren: Supply Chain Management. Wie häufig in der Betriebswirtschaftslehre kam der Anstoß hierzu aus der betrieblichen Praxis, als die Unternehmensberater Oliver und Webber 1982 den Begriff Supply Chain Management erstmals in ihrer Publikation »Supply-chain management: logistics catches up with strategy« explizit verwendeten. Aufgrund der Zielkonflikte zwischen Beschaffung, Produktion und Absatz proklamierten sie die Notwendigkeit eines strategischen, schnittstellenübergreifenden Logistikmanagements. Weitergehend und pointiert formulierte Houlihan (1985, S. 23): »Through our study of firms in a variety of industries […], we found that the traditional approach of seeking trade-offs among the various conflicting objectives of key functions – purchasing, production, distribution and sales – along the supply chain no longer worked very well. We needed a new perspective and, following from it, a new approach: supply chain management.«

Mit den beiden genannten Publikationen startete eine eingehende und umfassende Beschäftigung mit Supply Chain Management in der Wissenschaft, welche bis heute anhält. Die Recherche in Google Scholar ( Abb. 1-1) zeigt zwar, dass der Höhepunkt mit 71100 Publikationen im Zeitraum 2008–2012 erreicht wurde, aber auch im Zeitraum 2013-2017 noch 35600 Veröffentlichungen zum Supply Chain Management erschienen sind. Asgari et al. (2016) zeigen für Artikel in begutachtete Zeitschriften einen analogen Verlauf. Die Anzahl deutschsprachiger Veröffentlichungen zum Supply Chain Management ist hingegen mit 4180 in den Jahren 2003-2007, 4350 in 2008–2012 und 4200 in 2013-2017 in den letzten 15 Jahren relativ konstant. Entgegen dieses Trends konstatieren Eßig et al. (2013), dass insbesondere deutschsprachige Lehrbücher zum Supply Chain Management quantitativ noch nicht weit verbreitet sind.

Aber was war bzw. ist so neu an dem Konzept des Supply Chain Managements, dass es das Denken und Handeln in Unternehmen nachhaltig veränderte. Fokussierte das Management in Unternehmen bisher auf interne Abteilungen, Bereiche, Abläufe und Prozesse, so verlassen Unternehmen mit Supply Chain Management ihre Komfortzone. Supply Chain Management geht über die klassische Ausrichtung der Betriebswirtschaftslehre am System Unternehmen hinaus und befasst sich mit dem unternehmensübergreifenden System Supply Chain.


Abb. 1-1: Publikationen zum Supply Chain Management gemäß Google Scholar

Sowohl die Tendenzen zur Konzentration auf Kernkompetenzen und zur Verringerung der Fertigungstiefe, Wettbewerb in globalen Märkten, kurze Produkteinführungszeiten, kurze Produktlebenszyklen als auch hohe, individualisierte Kundenerwartungen führen zu arbeitsteiligen Wirtschaftssystemen (Chen/Paulraj, 2004). In einer arbeitsteiligen Wirtschaft agieren Unternehmen in Netzwerken, in denen Güter von anderen Unternehmen als Input übernommen werden, welcher zu Output transformiert wird, der wiederum an andere Unternehmen weitergegeben wird. Wollen wir solche Netzwerke von Unternehmen – ohne der später noch folgenden, notwendigen Definition vorzugreifen – als Supply Chains bezeichnen, so kann zunächst festgehalten werden, dass Endkunden (Konsumenten) nicht die Leistungen einzelner in einer Supply Chain agierender Unternehmen bewerten, sondern diejenige Leistung, die sich als Resultat aller in einer Supply Chain vollzogenen Wertschöpfungsprozesse ergibt (Pibernik, 2001). Dieser Umstand, den Christopher (1998) als »the new rules of competition« bezeichnete, führte zu der immer wieder genannten Grundidee des Supply Chain Managements, wonach Wettbewerb nicht mehr zwischen einzelnen Unternehmen stattfindet, sondern zwischen Supply Chains:

• Christopher (1992, S. 28): »We are now entering the era of supply chain competition.«

• Christopher/Jüttner (1998, S. 89): »Supply Chains compete, not companies.«

• Lummus/Vokurka (1999, S. 11): »Firms can no longer effectively compete in isolation of their suppliers and other entities in the supply chain.«

• Cox (1999, S. 168): »Companies are […] instructed to construct ever more efficient and responsive supply chains because it will no longer be company competing with company, but supply chain competing against supply chain.«

• Lambert/Cooper (2000, S. 65): »One of the most significant paradigm shifts of modern business management is that individual business no longer compete as solely autonomous entities, but rather as supply chains.«

• Stank et al. (2001, S. 29): »The supply chain management philosophy stresses that maximizing service to customers of choice at the lowest total cost requires a strong commitment to close relationship among trading partners. The philosophy requires a movement away from arms-length interactions toward longer term, partnership-type arrangements to create highly competitive supply chains.«

• Rice/Hoppe (2001, S. 47): »By integrating the capabilities of others into its supply network, a company can effectively create unique value. That value is maximized when the supply network acts in unison, almost as if it were one company in the marketplace. Given these trends toward outsourcing and integration, it’s not surprising that so many views the nature of future competition as supply-chain based.«

• Chopra/Meindl (2013, S. 45): »The competitive playing field has shifted from company versus company to supply chain versus supply chain.«

• Christopher (2016, S. 14): »[…] the real competition is not company against company but rather supply chain against supply chain.«

Dieser Grundgedanke des Supply Chain Managements, dass nicht einzelne Unternehmen im Wettbewerb zueinander stehen, sondern ganze Supply Chains miteinander konkurrieren (z. B. Pfohl, 2018, S. 338 und Kurzmann/Langmann, 2015, S. 21), muss nicht nur aus kartellrechtlichen Gesichtspunkten sehr kritisch betrachtet werden (Bretzke, 2015, S. 74 und Bretzke, 2016, S. 114). In Supply Chains agieren rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Unternehmen. Werden Supply Chains als eigenständige Institutionen betrachtet, die miteinander konkurrieren, würde dies folgerichtig Supply Chain-weite, unternehmensübergreifende Ziele und Strategien voraussetzen und damit die Aufgabe und den Verlust von Autonomie auf Seiten der in der Supply Chain agierenden Unternehmen. Es stellt sich daher die begründete Frage, ob Supply Chains und damit auch das Supply Chain Management noch visionär oder gar nur Utopien sind?

Rufen wir uns nochmals die Tatsache ins Gedächtnis, dass der Endkunde nicht die Teilleistungen einzelner an der Supply Chain beteiligten Unternehmen bewertet, sondern diejenige Leistung, die sich als Ergebnis aller in der Supply Chain arbeitsteilig durchgeführten Wertschöpfungsprozesse ergibt. Steht beispielsweise ein Kunde in einem Supermarkt vor einem leeren Regal, weil die Filiale falsch disponiert hat, so wird er weder die vorgelagerten, reibungslos verlaufenden Prozesse bei Vorlieferanten, Lieferanten, Hersteller oder Großhandel loben, noch wird er vor dem Regal so lange ausharren, bis die Filiale neu bestellt hat und die entsprechende Lieferung eingetroffen ist. Und wenn die frisch erworbene Digitalkamera wegen eines Defekts schon nach kurzer Zeit zu Reparatur muss, wird die Information, dass ein Vorlieferant unbemerkt ein Teil mit mangelnder Qualität geliefert habe, welches den Defekt auslöste, den Kunden nicht davon abbringen, die Qualität der gesamten Kamera als schlecht zu bewerten – und dies möglicherweise öffentlich in diversen Internetforen. Eine einfache – und zunächst völlig unwissenschaftliche – Aussage bringt es auf den Punkt: Kundennutzen schafft Unternehmensgewinn. Der Endkunde steht im Mittepunkt des Interesses – der Konsument ist der »König der Wertschöpfungskette« (Kurzmann/Langmann, 2015, S. 18).

»The only thing that matters is what the consumer sees.« Diese Aussage eines unbekannten Autors zeigt sehr deutlich, dass eine zielgerichtete, unternehmensübergreifende Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozesse in Supply Chains nicht nur sinnvoll, sondern absolut notwendig ist. Wie diese aussehen kann, welche Hemmnisse hierbei zu überwinden sind und wie die Realisation eines erfolgreichen Supply Chain Management gelingen kann, zeigt dieses Lehrbuch.

Im vorliegenden Grundlagenkapitel werden wir über Wertschöpfungsprozesse zu Wertschöpfungsnetzwerken gelangen und darauf aufbauend den Begriff der Supply Chain erläutern. Dies ist notwendig, um anschließend Supply Chain Management zu definieren sowie einen Bezugsrahmen für das Supply Chain Management entwickeln zu können. Im Vorfeld sollen jedoch drei motivierende Beispiele dazu anregen, sich tiefergehend mit Supply Chain Management zu befassen. Diese illustrativen Beispiele zeigen bereits, wie durch eine unternehmensübergreifende Koordination so genannte Win-Win-Situationen geschaffen werden können. Insbesondere verdeutlichen diese Beispiele aber die Grundproblematik des Supply Chain Managements, welche im Anschluss an die Beispiele ausformuliert und sämtlichen folgenden Ausführungen zu Grunde gelegt wird.

Den folgenden Beispielen liegt dabei eine (stark vereinfachte) Bier-Supply Chain zu Grunde, die in Abbildung 1-2 dargestellt ist. Betrachtet wird eine mittelständische Brauerei, wie sie beispielsweise in und um Bamberg zu finden ist. Hierbei wurde aus Gründen der Verständlichkeit eine Komplexitätsreduktion derart vorgenommen, dass


Abb. 1-2: Beispielhafte Bier-Supply Chain

z. B. potenzielle Zwischenhändler (Agrargenossenschaften, Verpackungsgroßhändler, etc.) nicht dargestellt werden. Auch mögliche Rückflüsse in Form von Pfandflaschen und -kästen (Closed Loop Supply Chain) werden nicht abgebildet. Auch in weiteren Betrachtungen ist eine problemadäquate Vereinfachung sinnvoll, da sich vollständige Supply Chains i. d. R. aufgrund ihrer Komplexität einer vollständigen Erfassung entziehen. So führte Anfang der 2000er Jahre die damalige DaimlerChrysler AG ein so genanntes »Supply Chain Mapping« mit dem Ziel durch, für das Modul »Türinnenverkleidung der E-Klasse« das Netzwerk an Lieferanten – ausgehend vom Werk Sindelfingen bis hinunter zur südafrikanischen Rinderfarm – zu visualisieren. Es zeigte sich, dass hinter dem Modul- bzw. Systemlieferanten rund 100 weitere, miteinander vernetzte Komponenten- und Teilelieferanten auf mehreren Stufen (Tier-2 bis Tier-7) standen (Graf/Putzlocher, 2004). Das ermittelte Modell konnte aufgrund seiner Komplexität nicht auf andere Vormaterialien übertragen und somit nicht multipliziert werden (Bretzke, 2016). Während die bestehende Komplexität bereits für ein einziges Modul aufgezeigt werden kann, präsentiert Siebert (2010) ein Beispiel aus den 1980er Jahren, wonach der Automobilkonzern Toyota insgesamt auf der ersten Stufe noch über 168 System- und Modullieferanten verfügt, während auf der zweiten Stufe bereits 4700 Komponentenlieferanten und auf der dritten Stufe sogar 31600 Teilelieferanten existieren. Nach einer Studie von Harms et al. (2013), die 80 deutsche, börsennotierte Unternehmen untersuchten, haben 53 % der Unternehmen mehr als 5.000 Lieferanten und 47 % dieser Unternehmen beziehen ihre Waren aus 50 oder mehr Ländern. Bosch als ein großer Zulieferer der Automobilindustrie verfügt über mehr als 20000 direkte Lieferanten (Bosch, 2017). Aktuell will Volkswagen die Blockchain-Technologie nutzen, um die Supply Chain für den Rohstoff Blei abzubilden (VW, 2019). Inwieweit dieses Pilotprojekt multiplizierbar ist, muss die Zukunft zeigen. Immerhin ist zu bedenken, dass ein PKW aus ca. 10000 Teilen besteht, die wiederum selbst aus vielen Einzelteilen bestehen. Lassen wir uns aber nicht von dieser realexistierenden Komplexität abschrecken und wenden uns den Beispielen zu.

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