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1.2 Chaos in der Supply Chain: der Bullwhip-Effekt

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»How do you shift your supply chain from a push system to a push-pull system that allows you to better match supply and demand?« (Simchi-Levi, 2000, S. 79).

Die Vermeidung bzw. Überwindung des so genannten Bullwhip-Effekts (Peitschenschlageffekt) wird als ein wichtiges Motiv des Supply Chain Managements angesehen. Was hat es mit diesem Effekt auf sich? Der Bullwhip-Effekt beschreibt das Phänomen des Aufschaukelns der Bestell- und Produktionsquantitäten und der damit verbundenen Lagerbestände über die einzelnen Wertschöpfungsstufen der Supply Chain (Stadtler, 1999 und Göpfert, 2002). Das oben genannte »matching« von »supply« und »demand« wird somit verfehlt.

Der Bullwhip-Effekt entsteht, neben anderen Gründen, wenn Informationen über die Endkundennachfrage nicht direkt an alle Akteure in der Supply Chain weitergegeben werden, sondern diese Informationen nur implizit in Form von Bestellungen sukzessive, stufenweise weitergegeben werden. Jedes Unternehmen generiert die Bestellungen bei seinen Lieferanten dann auf der Basis eigener, individueller Prognosen. Durch lokal vorgehaltene Sicherheitsbestände und den Zeitverzug im Informationsfluss schaukeln sich die prognostizierten Nachfragequantitäten sowie die dadurch induzierten, aggregierten Bestell- oder Produktionsquantitäten von den Endkunden über den Handel, vom Handel über die Produzenten und von diesen über die Lieferanten bis hin zu den Lieferanten der Lieferanten immer weiter auf.

Der Bullwhip-Effekt ist bereits seit Anfang der 1960er Jahre bekannt. Forrester (1958 und 1961) simulierte in seinen Arbeiten System Dynamics und Industrial Dynamics das Verhalten mehrstufiger Produktionssysteme bei unterschiedlichen Bedarfsverläufen und stellte eine Zunahme der Schwankungen von Bestellmengen entlang der Supply Chain fest. Der Bullwhip-Effekt wird daher auch Forrester-Effekt genannt.

Der Bullwhip-Effekt konnte in der betrieblichen Praxis beobachtet und nachgewiesen werden (z. B. Lee et al., 1997a und 1997b sowie Hammond, 1994). So beobachtete P&G (Procter & Gamble) diesen Effekt bei Babywindeln der Marke Pampers. Trotz des weitgehend konstanten Verbrauchs der Windeln wiesen die Bestellungen des Handels bei P&G starke Schwankungen auf. Bestellungen von P&G bei den Materiallieferanten (z. B. 3M) schwankten noch stärker. Auch die Analyse des Absatzes des Druckers LaserJet III von HP (Hewlett-Packard) ergab, dass die Nachfrage beim Händler nur leichte Schwankungen aufwies, während die Bestellungen des Händlers bei HP sowie die Bestellungen von HP bei den Lieferanten stark schwanken. Der italienische Nahrungsmittelkonzern Barilla beobachtete ebenfalls, dass die Nachfrage im Einzelhandel nach Pasta der Marke Barilla in Italien kaum Schwankungen aufwies, die Bestellungen des Einzelhandels beim Großhandel im Zeitverlauf jedoch schwankten. Die Bestellungen des Großhandels bei dem Pasta-Produzenten schwankten sogar sehr stark. In der Folge beschäftigten sich viele Wissenschaftler mit den unterschiedlichsten Aspekten des Bullwhip-Effekts.

Tab. 1-1: Ausgewählte Arbeiten zum Bullwhip-Effekt



Die vorstehende Tabelle 1-1 zeigt ausgewählte Arbeiten zu verschiedenen Aspekten des Bullwhip-Effekts. Aufgrund der vielfältigen Beschäftigung mit diesem Phänomen folgern Lee et al. (2004, S. 1891): »Nowadays the bullwhip effect is a standard industry term and reference to it in industry publications has become commonplace.« Auch wir können den Bullwhip-Effekt im Rahmen eines einfachen Beispiels nachweisen und sogar eine Möglichkeit aufzeigen, diesen zumindest abzumildern. Aus der Sicht eines in Bamberg lehrenden und forschenden Autors sowie in Anlehnung an das MIT Beer Distribution Game, welches in den frühen 1960er Jahren am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt wurde (https://beergame.org/), betrachten wir hierzu wieder unsere Bier-Supply Chain – konkret den in Abbildung 1-5 dargestellten, dreistufigen Ausschnitt: Produzent (Brauerei), Großhandel (Getränkegroßhandel), Einzelhändler (Getränkefachhandel) und Endkunden.


Abb. 1-5: Betrachteter Ausschnitt der Bier-Supply Chain

Im betrachteten Beispiel bestellen bzw. produzieren alle Akteure am Ende der Periode t genau so viel, dass der Lagerbestand am Anfang der Folgeperiode t+1 mindestens dem in Periode t geschätzten Prognosewert der Nachfrage für Periode t + 1 entspricht (Sollbestand).

Mit yt als Absatz in Periode t ergibt sich der am Ende von Periode t prognostizierte Absatz für die Folgeperiode t+1 als gleitender Mittelwert von n Vorperioden:


In der Vergangenheit (bis zur Periode t = 0) betrug die Nachfrage konstant 8000 [ME] pro Periode. Aus diesem Grund wird als Prognoseverfahren für die Nachfrage der Periode t+1 der gleitende Mittelwert mit n = 2 gewählt: . Mit dem Lagerbestand lt zu Beginn der Periode t und dem Absatz yt in Periode t ergibt sich die Bestell- bzw. Produktionsmenge qt am Ende der Periode t mit:


Eine Bestellung/Produktion qt > 0 erfolgt somit nur, wenn der Lagerbestand in Periode t abzüglich des tatsächlichen Verbrauchs in Periode t kleiner ist als der Sollbestand . Auftretende Fehlmengen werden durch entsprechende Nachlieferungen zu Beginn von Periode t+1 sofort befriedigt und schlagen sich daher nicht im Lagerbestand lt+1 nieder. Der Lagerbestand zu Beginn von Periode t+1 ergibt sich daher mit:


Der anfängliche Lagerbestand und der Absatz in Periode t = 0 beträgt bei allen Akteuren einheitlich 8000 [ME]. Betrachten wir zunächst die dritte Stufe, den Einzelhändler (Getränkefachhandel). Die folgende Tabelle 1-2 zeigt für neun Perioden die entsprechenden Ergebnisse.

Tab. 1-2: Bestellpolitik des Einzelhändlers



Die Ergebnisse in Tabelle 1-2 zeigen, dass der Einzelhändler einer weitgehend konstanten Nachfrage nach Bier gegenübersteht. Lediglich in Periode 3 steigt die Biernachfrage – vielleicht witterungsbedingt oder ausgelöst beispielsweise durch eine ungeplante und unbezahlte Werbung durch einen Celebrity oder einen Influencer in den sozialen Medien oder auch bedingt durch Knappheit eines Substitutionsprodukts – einmalig an. Da sich daraus ein Prognosewert und Sollbestand von 10000 [ME] für Periode 4 ergibt, muss der Einzelhändler 14000 [ME] bestellen – nur so kann er die Fehlmenge (Out-of-Stock) von 4000 [ME] der Periode 3 ausgleichen. In der nachfolgenden Tabelle 1-3 sind die entsprechenden Auswirkungen beim Großhändler auf der zweiten Stufe dargestellt.

Tab. 1-3: Bestellpolitik des Großhändlers


Die einmalig erhöhte Nachfrage des Einzelhändlers in Periode 3 schlägt sich in den Prognosewerten des Großhändlers für die Perioden 4 und 5 nieder. Da sich ein Prognosewert und Sollbestand von 11000 [ME] für Periode 4 ergibt, muss der Großhändler 17000 [ME] bestellen um die Fehlmenge von 6000 [ME] der Periode 3 ausgleichen. Der durch die Prognose ausgelöste, überhöhte Lagerbestand in Periode 4 wird dann durch eine niedrige Bestellmenge in Höhe von 2000 [ME] in Periode 5 wieder korrigiert. Dieses Verhalten hat natürlich Auswirkungen auf den Produzenten (Brauerei) auf der ersten Stufe.

Tab. 1-4: Produktionspolitik des Produzenten


In Tabelle 1-4 sind bereits die massiven Schwankungen sowohl bei den Produktionsmengen als auch bei den Lagerbeständen der Brauerei zu erkennen – ausgelöst durch die einmalig erhöhte Nachfrage bei dem Einzelhändler. Die nachfolgenden Grafiken verdeutlichen dieses Aufschaukeln der Bestell-, Produktions- und Lagerquantitäten über die einzelnen Stufen der Supply Chain: den Bullwhip-Effekt.

Das Phänomen Bullwhip-Effekt ist im Rahmen des Supply Chain Managements so bedeutend, dass der Effekt auch als »first law of supply chain dynamics« bezeichnet wird (Kouvelis et al., 2006, S. 450). Lee et al. (1997b) identifizieren insbesondere vier Ursachen für diesen Peitscheneffekt:

• Verarbeitung von Nachfragesignalen: Hierbei wird wie in unserem Beispiel die beobachtete Nachfrage als Signal für die zukünftige Nachfrage aufgefasst, was oft jedoch nicht der Fall ist.

• Auftragsbündelung: Aus Kostengründen ist eine Bestellung in jeder Periode oft nicht wirtschaftlich, sodass Aufträge gebündelt werden. Dies führt zu Prognoseproblemen auf vorgelagerte Stufen in der Supply Chain.

• Engpasspoker: Ein Lieferant rationiert proportional zu den Bestellungen seiner Kunden aufgrund eines Lieferengpasses die Lieferungen, wodurch die Kunden zur Erhöhung ihrer Ration mehr bestellen als sie benötigen. Werden diese Bestellungen als Signal für die zukünftige Nachfrage aufgefasst, resultieren Prognoseprobleme auf vorgelagerte Stufen in der Supply Chain.

• Preisschwankungen: Vermutet ein Abnehmer steigende Preise, so ist damit zu rechnen, dass die derzeitige Nachfrage steigt und sich der Abnehmer Vorräte anlegt, die nicht auf die aktuelle Nachfragesituation abgestimmt sind. Dieses so genannte Forward Buying (d. h. Kauf von Produkten ohne aktuelle Nachfrage zu niedrigen Preisen in Erwartung eines zukünftigen Preisanstiegs) führt zu Prognoseproblemen auf vorgelagerten Stufen in der Supply Chain.

Bei näherer Betrachtung können diese vier Gründe in einem einzigen zusammengefasst werden: falsche Verarbeitung von Nachfragesignalen. Entsprechend führt Sucky (2009, S. 313) aus: »These four causes are interdependent; the causes may interact and act in concert. However, the updating of demand forecasts appears to be the major source of the bullwhip effect« ( Abb. 1-6).

Das illustrative Beispiel zeigt, dass die Folgen des Bullwhip-Effekts mit steigenden Bestandskosten, steigenden Produktionskosten, steigenden Transportkosten, steigenden Durchlaufzeiten und einer sinkenden Marktreaktivität gegeben sind. Der Bullwhip-Effekt kann reduziert werden, indem eine Verstetigung des Materialflusses bzw. eine Synchronisation des Materialflusses mit der Kundennachfrage, durch eine unmittelbare, verzögerungsfreie Informationsbereitstellung der relevanten Nachfragedaten für alle Akteure in der Supply Chain realisiert wird (Steven/Krüger, 2001). In unserem Beispiel soll eine solche Informationsbereitstellung derart erfolgen, dass der Einzelhändler Informationen über seine tatsächlichen Absatzquantitäten sowohl an den Großhändler als auch an den Produzenten weitergibt. Großhändler und Produzent erstellen ihre jeweilige Prognose (und die daraus abgeleiteten Bestell- und Produktionsmengen) dann auf der Basis der tatsächlichen Abverkäufe des Einzelhändlers. Die daraus resultierenden Bestell- und Produktionsquantitäten des Großhandels und des Produzenten zeigen die Tabellen 1-5 und 1-6.

Es zeigt sich eine deutliche Reduktion des Bullwhip-Effekts, d. h. es gelingt eine zielgerichtete, unternehmensübergreifende Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozesse in der betrachteten Supply Chain durch die Weitergabe relevanter (Planungs-)Informationen. Die Bestell- und Produktionsquantitäten des Großhandels und des Produzenten weisen deutlich geringere Schwankungen auf ( Abb. 1-8). In diesem Kontext sagte Sam Walton, der Gründer von Wal-Mart: »People think we got big by putting big stores in small towns. Really we got big by replacing inventory with information« (Huo et al., 2016). Wir werden auf diese unternehmensübergreifende Weitergabe planungsrelevanter Informationen im Rahmen des Konzepts Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment (CPFR) tiefer eingehen.


Abb. 1-6a: Bestell- und Produktionsquantitäten der einzelnen Akteure


Abb. 1-6b: Bestell- und Produktionsquantitäten der Akteure insgesamt


Abb. 1-7: Lagerbestandsverläufe der Akteure insgesamt

Tab. 1-5: Bestellpolitik des Großhändlers auf Basis der Abverkäufe des Einzelhandels



Tab. 1-6: Produktionspolitik des Produzenten auf Basis der Abverkäufe des Einzelhandels



Abb. 1-8a: Bestell- und Produktionsquantitäten der einzelnen Akteure auf der Basis der Abverkäufe des Einzelhandels


Abb. 1-8b: Bestell- und Produktionsquantitäten der Akteure auf der Basis der Abverkäufe des Einzelhandels insgesamt

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