Читать книгу Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom - Etta Wilken - Страница 22
4 Förderung in der Familie und durch Therapie
ОглавлениеDie meisten Kinder mit Down-Syndrom erhalten Angebote der »interdisziplinären Frühförderung«, um die kindliche Entwicklung zu fördern und mögliche sekundäre Beeinträchtigungen zu vermeiden (Wilken 2002b, 143). Eine neuere Heidelberger Studie ergab, dass in den erfassten 45 Familien »etwas mehr als die Hälfte der Kinder eine pädagogische Frühförderung erhielten«. Etwa 90 % erhielten anfangs Physiotherapie, aber mit zunehmendem Alter nahm »der Anteil der Kinder, die physiotherapeutisch behandelt wurden, deutlich ab, während der Anteil der Kinder, die logopädisch behandelt wurden, deutlich zunahm« (Sarimski 2015, 10).
In den einzelnen Bundesländern ist die Frühförderung unterschiedlich organisiert, ob als Hausfrüherziehung oder institutionsgebunden in einem Sozialpädiatrischen Zentrum. Diese verschiedenen Organisationsformen haben jedoch nach bisherigen Untersuchungen keine erkennbaren unterschiedlichen Effekte, wesentlich ist vielmehr die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Beteiligten. Dadurch können die Eltern begleitet und unterstützt werden und haben nicht die Aufgabe, eine problematische undifferenzierte Addition selbst ausgewählter Therapiemaßnahmen zu treffen. Allerdings kommt es oft aufgrund überlanger Wartezeiten bis zum Beginn der Frühförderung in guter Absicht zur Verordnung einzelner Therapien, um auf keinen Fall etwas zu versäumen und »rechtzeitig« mit der Förderung anzufangen. Das betrifft – wie auch die Heidelberger Studie zeigt – vor allem die Physiotherapie. Aber ohne eine ganzheitliche Sicht auf die Familiensituation können in dieser frühen Phase der Auseinandersetzung mit der Behinderung die elterlichen Bedürfnisse, aber auch die kindlichen Ansprüche auf liebevolle Zuwendung, erheblich beeinträchtigt werden.
»Während der radikalen Physiotherapie, zu der uns Oskars Fachärztin unmittelbar nach der Entlassung verdonnert hat, hören wir Oskar endlich mal richtig schreien … Drei- bis viermal am Tag muss ich auf bestimmte Punkte seines schlaffen Körpers drücken, damit er reflexartig jene Bewegungen ausführt, die er noch nicht bewusst beherrscht … Erst wenn Oskar in ein infernalisches Weltuntergangsgebrüll ausbricht, ist der ›gewünschte Aktivierungszustand‹ erreicht. Mein Mann findet: ›Das grenzt an Kindesmisshandlung.‹ Die dreijährige Schwester sagt: ›Mama, das darfst du nicht.‹ Ich bleibe stur: ›Wir müssen dem Oskar auch Sachen beibringen, die er gar nicht lernen will.‹« (Flamm 2015, 14)
Für eine ganzheitliche Förderung ist wichtig, sowohl die »Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Kindes« mittels »Diagnostik, Planung, Förderung und Therapie« differenziert zu erfassen als auch die »Zusammenarbeit mit den Bezugspersonen und die Lebenswelt des Kindes bzw. die Kontextbedingungen entsprechend der ICF1« einzubeziehen (Kühl 2012, 34). »In der Praxis haben sich unterschiedliche Methoden von Förderung und Therapie bewährt … Diese professionell begründeten ›exklusiven‹ Vorgehensweisen sind für das einzelne Kind unverzichtbar, es scheint aber sinnvoll zu sein, fachspezifische Erfordernisse notwendiger Unterstützung im Sinne der Inklusion neu zu positionieren« (ebd.). Dazu müssen die Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie mit den Eltern ermittelt werden, um zu reflektieren, wo im Lebensalltag spezielle Unterstützung notwendig ist, damit Teilhabe und gemeinsames Leben miteinander gelingt.
Eltern benötigen auch Informationen über spezifische Aspekte der Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom und allgemein über ein angemessenes entwicklungsorientiertes Kommunikations- und Erziehungsverhalten. Dazu ist wichtig, nicht nur typische Defizite aufzuzeigen, sondern eine positive Erwartungshaltung zu vermitteln und auf Möglichkeiten zu verweisen, was Eltern selbst in ihrem Alltag tun können, um ihr Kind zu fördern. Besonders eine feinfühlige Eltern-Kind-Interaktion und Anregungen für gemeinsame freudige Kommunikation haben sich als wichtiger erwiesen als zu viele spezielle Maßnahmen. Auch Kontakte zu anderen Eltern und der gemeinsame Austausch von Erfahrungen werden von vielen Eltern als hilfreich erlebt.
Ein wichtiger Aspekt ist die Dauer verordneter besonderer Therapien. Dabei geht es auch um die Frage, wann hinreichende Förderung und positive Anregungen überwiegend durch gemeinsame Aktivitäten in der Familie und in außerhäuslichen Institutionen mit anderen Kindern erfolgen können. Das schließt durchaus ein, dass beim Vorliegen eines spezifischen Problems eine fachkundige Diagnose erfolgen muss und dann eine entsprechende Behandlung erfolgen sollte, um anschließend eine entsprechende Behandlung einzuleiten.
Die Lebensbedingungen und Entwicklungsperspektiven von Kindern mit Down-Syndrom haben sich durch die Behandlung rechtzeitig erkannter gesundheitlicher Beeinträchtigungen und durch spezielle Therapien erheblich verbessert, aber es ist oft schwierig für Eltern zu entscheiden, was und wie viel tatsächlich erforderlich ist. Das bestehende vielfältige Angebot an Therapien und Fördermaßnahmen macht es nötig, sich genau zu orientieren. Trotzdem ist es relativ schwierig, eine Entscheidung zu treffen. Die unterschiedlichen Therapieansätze lassen oft nicht deutlich erkennen, ob die Wirkungen bestimmter Verfahren eher spekulativ oder wirklich gesichert sind und welche Entwicklung das Kind ohne diese Maßnahmen tatsächlich nehmen würde. Eltern benötigen deshalb einfühlsame Beratung und Kriterien, um das vielfältige Angebot an Therapien und Förderkonzepten kritisch zu reflektieren und auch die theoretischen Grundlagen und Methoden für ihr Kind und ihre Familie bewerten zu können.
»Der Fördermarathon, durch den wir Oskar im ersten Lebensjahr gejagt haben, kommt mir inzwischen irre vor. Ging es um ihn oder um mich? Habe ich versucht seine Defizite wegzutherapieren, anstatt sie zu akzeptieren?« (Flamm 2015, 14)
Ohne die Bedeutung der verschiedenen Förderangebote, welche die Eltern dabei unterstützen können, günstige Entwicklungsbedingungen für ihr Kind mit Down-Syndrom zu gestalten, gering zu achten, ist doch darauf hinzuweisen, dass viele Ratgeber und Informationen insgesamt oft den Eindruck vermitteln, dass die kindliche Entwicklung ganz wesentlich von der Durchführung bestimmter Fördermaßnahmen abhängig sei. Aber Entwicklung ist nicht vor allem machbar! Durch eine zu enge Orientierung an solchen Ratgebern, die überwiegend beschreiben, was man mit oder gar an dem Kind alles tun muss, damit es sich »optimal« entwickelt, wird oft ausgeblendet, welche wesentliche Bedeutung die kindliche Eigenaktivität und Neugier hat. Gerade die wichtige Fähigkeit des Kindes, selber Erfahrungen zu machen, aus eigenem Antrieb etwas zu wiederholen und zu lernen, kann dadurch irritiert werden.
Die Entwicklung der Kinder ist nicht von uns »machbar«! Wichtig ist vielmehr die Förderung der kindlichen Eigenaktivität.
Problematisch ist zudem, dass Eltern dadurch überfordert und verunsichert werden können und sich Sorgen machen, weil sie sich nicht in der Lage sehen, genug für die nötige Förderung ihres Kindes zu tun.
Die Entwicklung eines jeden Kindes verläuft sehr individuell, sie folgt in gewissem Ausmaß ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Und nicht jede Abweichung von der durchschnittlichen Entwicklung verlangt nach therapeutischer Korrektur! Es besteht vielmehr eine große Variabilität im Entwicklungstempo und in der Abfolge der einzelnen Entwicklungsschritte – das gilt gerade auch für Kinder mit Down-Syndrom. Allerdings ist es wichtig, problematische Abweichungen mit möglichen Folgebeeinträchtigungen rechtzeitig zu erkennen und möglichst zu vermeiden.
Die erforderliche Gelassenheit und das notwendige Vertrauen in die Entwicklung des Kindes drückt ein afrikanisches Sprichwort treffend aus: »Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!« Aber – so ist zu ergänzen – es ist natürlich möglich, ein günstiges Klima und gute Bedingungen zu schaffen, damit das Kind sich seine Welt aneignen kann. Das bedeutet für Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, einen sinnvollen Weg für sich zu finden, ihrem Kind einerseits die wichtigen Entwicklungsanregungen zu bieten und andererseits abzuwägen, was und wie viel an besonderer Förderung individuell wirklich sinnvoll und familiär leistbar ist.