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4.4 Fördern mit Programmen

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Bei Kindern mit Down-Syndrom ist die Streubreite in der Entwicklung besonders groß – deutlich größer als in der Entwicklung anderer Kinder. Auch die syndromtypischen Beeinträchtigungen sowie die möglichen zusätzlichen Behinderungen sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es ist deshalb wichtig, die individuellen Behandlungsmaßnahmen und Förderbedürfnisse differenziert zu ermitteln.

Die angebotenen verschiedenen Förderprogramme können den Eltern dabei eine gewisse Orientierungshilfe bieten. Es ist aber wichtig, die diagnostischen Kriterien und die vorgeschlagenen Übungen nicht zu eng zu interpretieren, sondern kind- und familienbezogene Aspekte zu berücksichtigen.

Für die Förderung von Kindern mit Down-Syndrom werden von Eltern und Professionellen überwiegend die beiden Programme »Kleine Schritte« (Pieterse, Treloar 2001 – als CD 2015) oder »Frühförderung konkret« (Straßmeier 2007) benutzt. Beide Programme beziehen sich auf Kinder im Vorschulalter (0-5/6 Jahre). »Kleine Schritte« bietet in 8 Heften Übungsbeispiele zu Feinmotorik, Grobmotorik, Persönliche und soziale Fähigkeiten, Rezeptive Sprache, Expressive Sprache, ein Einführungsheft und ein Diagnoseheft sowie ergänzend 3 Hefte mit schulvorbereitenden Übungen (9-11).

Im Buch »Frühförderung konkret« erfolgt eine ähnliche Aufteilung in fünf Förderbereiche: Selbstversorgung/Sozialentwicklung, Feinmotorik, Grobmotorik, Sprache, Denken und Wahrnehmung.

Hinsichtlich der Planung und der verwendeten Methoden weisen beide Programme viele Übereinstimmungen auf: Die Grundlage der Förderung des Kindes bildet die Einschätzung seines bisher erreichten Entwicklungsstandes, der – meist im Vergleich zur Normalentwicklung – erfasst und daraufhin geprüft wird, in welchen Bereichen relative Leistungsstärken oder Verzögerungen ausgeprägt sind und welche speziellen Defizite sich zeigen. Daraus ergibt sich ein Profil für die verschiedenen Fähigkeitsbereiche, das dann zur Erstellung eines entsprechenden individuellen Förderprogramms führt.

Es kann jedoch problematisch sein, wenn die verwendeten Testaufgaben undifferenziert als Förderaufgaben benutzt werden. »Die Aufgaben, die der Entwicklungstest prüft, sind aber auch als Ziele zu sehen, die angestrebt werden können, wenn das Kind die Fertigkeit noch nicht beherrscht« (Straßmeier 2007, 9). So wird vorgeschlagen, den Pinzettengriff (Kneifzangengriff) mit Rosinen und anderen kleinen Teilen zu üben, die das Kind evt. mit Hilfe aufheben soll (ebd., 88). Das ist eine typische Testaufgabe. Es ist allerdings fraglich, ob sie in der vorgeschlagenen Form als Übungsaufgabe hinreichend motivierend ist. Auch im Programm »Kleine Schritte« finden sich die Rosinen (Pieterse, Treloar 2001, 5/17). Wie viele Möglichkeiten ergeben sich dagegen im Lebensalltag, um das Kind anzuregen, kleine Teile wie Keksstücke, Nudeln und anderes aufzunehmen. Auch viele weitere Aufgaben weisen in den verschiedenen Entwicklungsbereichen ein solches überwiegend testbezogenes Vorgehen auf. Es ist deshalb sinnvoll, sich nicht zu eng an die vorgeschlagenen Aufgaben zu halten, sondern die Übungen so zu erweitern, dass die Interessen und Vorlieben des individuellen Kindes berücksichtigt werden.

Die in beiden Programmen vorgenommene Orientierung an einer Durchschnittsnorm und die Aufgliederung in die verschiedenen Entwicklungsbereiche bieten zwar einen Überblick, haben aber einige zu bedenkende Nachteile. Sie können dazu verleiten, Wahrnehmung, Motorik, Kognition, Gedächtnis, Sprache und Sozialverhalten als isolierte Funktionen zu üben. Auch die theoretische Grundlage, dass »alle Kinder ihre Fertigkeiten mehr oder weniger auf die gleiche Art und Weise und in der gleichen Reihenfolge erlernen« (Pieterse, Treloar 2001, 2/5), entspricht nicht den Erkenntnissen über die natürliche Variabilität in der kindlichen Entwicklung. Es ist auch wenig sinnvoll, die einzelnen mit dem Programm ermittelten Förderaufgaben für die verschiedenen Entwicklungsbereiche nach erfolgter »Einschätzung« isoliert dem Kind anzubieten, ohne einen Alltagsbezug oder einen Bedeutungszusammenhang herzustellen. Durch Hinweise und Querverweise auf zusätzliche Aufgaben können bei kreativer Nutzung trotzdem mögliche Ideen für die Förderung des Kindes in den ersten Lebensjahren abgeleitet werden und das kann durchaus hilfreich sein. Allerdings ist es wichtig, die angebotenen Aufgaben und die damit angestrebten Ziele durchaus kritisch zu reflektieren.

Die Programme sind im Übungsteil fast wie Kochbücher aufgebaut: es wird angegeben, was gebraucht wird, es erfolgt eine klare Anleitung, was zu machen ist und welches Ergebnis herauskommt. So wird z. B. für den Bereich Feinmotorik im Alter von sechs bis neun Monaten als Aufgabe angegeben: »Hebt zwei Gegenstände auf und hält sie.« Als benötigtes Material werden zwei kleine Bauklötze angegeben. Zum methodischen Vorgehen wird ausgeführt: »Legen Sie die Bauklötze vor ihr Kind auf den Tisch und sagen Sie ›Nimm‹. Bewerten Sie diese Fertigkeit mit Plus, wenn Ihr Kind die beiden Bauklötze aufhebt und gleichzeitig einen in jeder Hand hält« (Pieterse, Treloar 2001, 5/18). Das ist ein sehr formales Training und es ist zu fragen, ob das Kind die Aufforderung versteht und wie man reagieren soll, wenn das Kind die Bauklötze schieben, damit klopfen oder daran lutschen möchte oder nur einen Klotz und nicht beide aufnimmt. Gerade in diesem Alter – unterhalb der Einjährigkeit – benötigt das Kind vor allem responsives Förderverhalten und nicht direktive Verfahren. Das würde bei der beschriebenen Aufgabe bedeuten, das Ziel, mit beiden Händen etwas zu halten, nicht zu eng zu interpretieren, sondern zu schauen, was das Kind spontan macht, um dann durch angebotene Variation im gemeinsamen Spiel auch beidhändiges Halten und Manipulieren zu unterstützen.

Eine andere Aufgabe im Programm »Kleine Schritte« betrifft die Bereiche Sozialisierung und Spiel im Alter von neun bis zwölf Monaten: »Aufgabe: Macht mit beim ›Guck-Guck‹-Spiel. Materialien: Ein Bogen festes Papier, ca. 30 mal 30 cm, mit einem kleinen Loch in der Mitte. Methode: Während Ihr Kind Sie anschaut, verstecken Sie Ihr Gesicht hinter dem Papier. Schauen Sie dann seitlich daran vorbei und sagen Sie ›Guck-Guck!‹ Wiederholen Sie dies und tauchen Sie wieder auf derselben Seite des Papiers auf. Jetzt verstecken Sie sich noch einmal und schauen durch das Loch, um festzustellen, ob Ihr Kind auf dieselbe Seite des Papiers schaut, wo Sie vorher immer aufgetaucht sind. Bewerten Sie diese Fertigkeit mit Plus, wenn Ihr Kind auf dieselbe Seite schaut, wo Ihr Gesicht vorher aufgetaucht ist« (Pieterse, Treloar 2001, 7/12). Hier wird deutlich, wie formal eine solche Übung ist und welche mechanistische Vorstellung darüber besteht, wie das Kind die so genannte ›Objektpermanenz‹ erwirbt, d. h. die Fähigkeit, sich Personen, Objekte und Handlungen vorstellen zu können, auch wenn es sie nicht sieht. Wie viel sinnvoller und schöner sind dagegen die üblichen Guck-Guck-da-Rituale und andere kindgemäßen Spiele zum Verstecken und Wiederentdecken im Lebensalltag.

Es ist deshalb kritisch zu reflektieren, was das Kind bei den in den Programmen angebotenen »Übungsaufgaben« tatsächlich lernt. Denkbar sind durchaus auch nicht geplante, negative Fördererfahrungen, wenn das Kind z. B. rigoros angehalten wird, die geforderten Aufgaben in der vorgegebenen Weise auszuführen. Aber andererseits ist es durchaus möglich, dass die Bedeutung solcher Spiele den Bezugspersonen erst durch diese Ausführungen bewusst wird und die Beschreibung sie anregt, kreativ damit umzugehen und eigene passendere Ideen zu entwickeln.

»Als ich das Paket mit den acht Einzelheften von ›Kleine Schritte‹ erhielt, war ich begeistert. Jetzt konnte ich loslegen! Zuerst wollte ich alles lesen. Schnell merkte ich aber, dass ich das gar nicht schaffen konnte. Frustriert legte ich das Material weg.

Nach Monaten begann ich dann wieder darin zu blättern. Jetzt fand ich einige Ideen gut. Zunehmend entdeckte ich, wie ich Anregungen übernehmen und variieren konnte. Mir gibt das Programm jetzt eine Orientierung und bietet Hinweise auf Förderideen.« (Bericht einer Mutter)

Die aufgeführten Beispiele aus den Programmen verdeutlichen, wie wenig interessant viele Übungen konstruiert sind und wie starr das methodische Vorgehen manchmal ist. Vor allem, wenn die Übungen trotz häufiger Wiederholungen nicht zum angestrebten Lernziel führen, können frustrierende Interaktionen und Kommunikationsprozesse entstehen. Möglich ist auch, dass die oft rigiden Durchführungsanweisungen sich störend auf den normalen, emotionalen Umgang mit dem Kind und auf das spontane Eingehen auf seine Äußerungen und Bedürfnisse auswirken und dadurch die wichtige Responsivität verhindern. Die Eigenaktivität und das selbstbestimmte Neugierverhalten des Kindes können dann sogar als hinderlich empfunden werden, weil es ja abweichend und nicht in der erwünschten Weise reagiert.

Es besteht mittlerweile große Einigkeit, Hilfen für das Kind so anzubieten, dass es seine eigene Handlungsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit Dingen und Personen seiner Umwelt erweitern kann.

Allerdings kann die Förderpraxis sowohl durch einschränkende Übungsangebote auf der Basis eines naiven Verständnisses von der »Machbarkeit« der kindlichen Entwicklung bestimmt sein als auch durch ein zu offenes Angebot, das eine klare Struktur vermissen lässt und eher als planloses »Spielen« und nicht als hilfreiches Förderangebot erlebt wird.

Förderprogramme können Anregungen für viele verschiedene Entwicklungsbereiche bieten. Sie erfordern aber eine kreative Anpassung an die individuellen kindlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse.

Deshalb können Förderprogramme, wenn sie nicht zu direktiv gehandhabt werden, sondern individuelle kindliche Bedürfnisse beachten, durchaus eine sinnvolle Hilfe darstellen. Sie geben den Eltern und Früherzieherinnen eine Orientierung über typische aufeinander folgende Entwicklungsschritte und bieten Anregungen für eine kreative Umsetzung in entsprechende Spielsituationen im Alltag mit dem Kind. Diesbezüglich zeigte die kritische Auswertung einer umfangreichen Studie zu Förderergebnisse mit dem Programm »Kleine Schritte« nach einem Jahr »eine kontinuierliche relevante und statistisch signifikante Steigerung« nicht nur bei den Fertigkeiten, sondern »auch im Hinblick auf den Entwicklungsquotienten« (Havemann 2007, 134). Es wird deshalb als Ergebnis dieser Studie festgestellt, »dass das Programm ›Kleine Schritte‹ die Entwicklungsverzögerungen bei Kindern mit Down-Syndrom effektiv reduziert« (ebd.142). In ähnlicher Weise können auch die »lebenspraktischen Übungen«, wie sie im Buch »Frühförderung konkret« dargestellt werden, den Eltern und Früherzieherinnen ermöglichen, Informationen über wichtige Entwicklungsschritte zu erhalten und hilfreiche Ideen für die Förderung ihres Kindes im familiären Alltag umzusetzen.

Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom

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