Читать книгу Kirchliches Arbeitsrecht in Europa - Florian Scholz - Страница 27

bb) Margin of appreciation – Einschränkung der Kontrolldichte

Оглавление

Die in ständiger Rechtsprechung anerkannte margin of appreciation141 ist eines der wesentlichen Prinzipien, das der EGMR bei der Interpretation der EMRK anwendet.142 Dies ermöglicht insbesondere eine Berücksichtigung der aus den langen Rechtstraditionen der einzelnen Konventionsstaaten stammenden nationalen Besonderheiten. Darin kommt zum Ausdruck, dass eine vollständige Homogenisierung aller Rechtsverhältnisse innerhalb der Konventionsstaaten vielfach mit deren verschiedenartigen historischen, kulturellen und sozialen Prämissen in Konflikt geraten würde und eine derartige radikale Vereinheitlichung die gesellschaftliche und politische Akzeptanz einer gesamteuropäischen Einigung unterminieren könnte. Entsprechend erachtet der EGMR die staatlichen Entscheidungsträger aufgrund deren unmittelbaren und kontinuierlichen Kontakts mit den elementaren Kräften ihrer Länder unter bestimmten Voraussetzungen in der besseren Position, um den genauen Inhalt der Gewährleistungen zu bestimmen.143 Dass auch der Europarat einen solchen „Puffer“ als essentiell für die langfristige Erhaltung seines supranationalen Projekts ansieht, kommt auch durch das Zusatzprotokoll XV zur EMRK vom 24. Juni 2013 zum Ausdruck, das die Doktrin der margin of appreciation der Präambel hinzufügt.144 Mit Inkrafttreten145 des Protokolls wird ihre normative Anerkennung erfolgen, infolgedessen ihr in Zukunft eine noch höhere Relevanz zukommen sollte. Jedenfalls sollte der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum spätestens damit aufgrund dieses ausdrücklichen Bekenntnisses nicht mehr lediglich als „Lippenbekenntnis“146 einzuschätzen sein.

Zur Bestimmung des Umfangs dieses Spielraums und der damit verknüpften, vom EGMR im Einzelfall praktizierten Kontrolldichte, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen.147 Dabei ist unter anderem erheblich, welche Grundrechtsgewährleistung im Einzelfall tangiert ist. Eine höhere Kontrolldichte folgt danach insbesondere bei besonders bedeutsamen Grundrechtspositionen im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK, die eine hohe Relevanz für die Existenz oder Identität einer Person haben.148 Dieser Aspekt kommt auch im kirchlichen Arbeitsrecht zum Tragen, wenn etwa arbeitsrechtliche Sanktionen aufgrund der praktizierten Homosexualität eines Mitarbeiters erfolgen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die entsprechenden Urteile des EGMR einen Eingriff von staatlichen Autoritäten in den Schutzbereich der Gewährleistung hatten und kein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis zugrunde lag.

Auf der anderen Seiten verringert sich die Kontrolldichte insbesondere dann, wenn kein einheitlicher europäischer Standard (common ground) bei der Beurteilung einer bestimmten Rechtsfrage gegeben ist.149 Danach sinkt die Kontrolldichte in umso größerem Umfang, je heterogener eine bestimmte Angelegenheit durch die einzelnen Mitgliedstaaten rechtlich behandelt wird. Entscheidend ist somit, dass sich die maßgebliche Rechtstradition im betreffenden Staat von den anderen Konventionsstaaten in ausschlaggebender Weise unterscheidet.150 Der Rechtsvergleichung kommt somit für die Beurteilung dieser Frage eine besondere rechtspraktische Bedeutung zu.151

Auf dieser Grundlage kann ohne Weiteres festgestellt werden, dass den Konventionsstaaten ein weiter Ermessensspielraum bei religiösen Fragen und insbesondere im Hinblick auf das Staatskirchenrecht – das prototypisch für die nationale Diversität in Europa ist – zukommt.152 Insbesondere die Abwägung eines Rechtsguts mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist unmittelbar mit den staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen einer Rechtsordnung verknüpft, die wiederum auf der spezifischen nationalen historischen Prägung und einer ausdifferenzierten Rechtezuordnung basiert.153 Da das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auch der wesentliche Anknüpfungspunkt für ein kirchliches Arbeitsrecht ist, dürfte insbesondere in diesem Bereich eine besondere Zurückhaltung angebracht sein.154 Darüber hinaus ist auch im Speziellen von Bedeutung, ob und inwieweit die nationalen rechtlichen Ausgestaltungen auf dem Gebiet des kirchlichen Arbeitsrechts in Europa divergieren und sich insofern ggf. unterschiedliche Rechtstraditionen ausmachen lassen. Dies wird sich noch im weiteren Verlaufe des (exemplarischen) Vergleichs der deutschen, österreichischen, englischen und französischen Rechtsordnung innerhalb dieser Arbeit herausstellen. Ohne Berücksichtigung dieser konkreten Beurteilungsgrundlage verneinen allerdings verschiedene Stimmen innerhalb der Literatur einen besonderen Beurteilungsspielraum des EGMR bezüglich des kirchlichen Arbeitsrechts wegen des Entgegenstehens wichtiger Individualrechte.155 Dabei spricht vieles dafür, dass diese Auffassung den Aspekt der nationalen Besonderheiten unzulässigerweise übergeht.

Für einen weiten Beurteilungsspielraum staatlicher Gerichte im Zusammenhang des kirchlichen Arbeitsrechts lässt sich darüber hinaus ein weiteres Kriterium anführen. Eine geringere Kontrolldichte der Abwägungsentscheidung ist auch in den Fällen der Prüfung staatlicher Gewährleistungspflichten zu nennen, die im Rahmen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse betroffen sind.156 Daraus folgt in Abgrenzung zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle eher eine „Vertretbarkeitskontrolle“, die der einzelstaatlichen Gewichtungsbeurteilung größere Freiheit einräumt. Dies lässt sich auch aus dem Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK ableiten, nach dem keine Regelung der EMRK dahingehend ausgelegt werden darf, dass sie eine in einem nationalen Gesetz festgelegte Grundfreiheit mindert.157 Bedauerlicherweise scheint dem EGMR aber insofern eher das Selbstverständnis einer „Superrevisionsinstanz“158 zu eigen zu sein, da er dazu neigt, auch in mehrpoligen Rechtsverhältnissen das Schema einer umfassenden Abwägungsprüfung wie bei einer bipolaren Rechtsverletzung anzuwenden.159 Diese Tatsache ist äußerst kritisch zu beurteilen.

Kirchliches Arbeitsrecht in Europa

Подняться наверх