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a) Charta der Grundrechte der Europäischen Union

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Die Transformation der EU von einer Union gemeinsamer Wirtschaftspolitik hin zu einer Grundrechtsgemeinschaft160 findet ihren bisherigen Höhepunkt durch die im Rahmen des Vertrags von Lissabon in Kraft getretene Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV erkennt die EU die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Grundrechte-Charta niedergelegt sind und bestimmt deren Gleichrangigkeit mit den Verträgen. Die GRCh hat infolgedessen den Rang von Primärrecht und geht sämtlichem europäischem Sekundärrecht vor.161

Der Anwendungsbereich der GRCh bezieht sich für die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ausschließlich auf die Durchführung des EU-Rechts.162 Daraus folgt, dass die GRCh auch im innerstaatlichen Bereich rechtliche Wirkung entfaltet, sofern staatliche Institutionen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts umsetzen oder nationales Recht anwenden, das auf Europarecht beruht. Es kommt zu einer „mittelbaren Horizontalwirkung“ der Grundrechte, die durch die Verpflichtung des Staates – etwa ein Gericht – Rechtsfolgen in Privatrechtsverhältnissen entfaltet.163 Dementsprechend ist die GRCh auch auf sämtliches Sekundärrecht und die entsprechenden Umsetzungsakte anwendbar, die das kirchliche Arbeitsrecht erfassen.164 Dies gilt insbesondere für das im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG normierte Antidiskriminierungsrecht.165 Dabei kommt dem in Art. 21 GRCh geregelten allgemeinen Diskriminierungsverbot besondere Bedeutung zu.

Aus dem limitierten Anwendungsbereich von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh folgt, dass der materielle Gehalt von nationalen kirchenarbeitsrechtlich relevanten Rechtsnormen, die keinen Bezug zum Unionsrecht aufweisen, auf nationaler Ebene nicht an der Grundrechtecharta zu messen ist. Dies gilt etwa für die Auslegung der „sozialen Rechtfertigung“ nach § 1 KSchG und des „wichtigen Grundes“ gemäß § 626 BGB.166 Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum umfassenden Anwendungsbereich der EMRK. Auch die individuelle Rechtsdurchsetzung auf Grundlage der GRCh ist eingeschränkt. Eine Grundrechtsbeschwerde zum EuGH – entsprechend der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK zum EGMR – existiert nicht. Eine prozedurale Durchsetzung der EU-Grundrechte ist im Wesentlichen nur dann möglich, wenn ein nationales Gericht eine Vorlagefrage i.S.v. Art. 267 AEUV an den EuGH richtet.167 In materieller Hinsicht ist das Verständnis der GRCh maßgeblich durch die EMRK geprägt, die als gesamteuropäischer Mindeststandard Grundlage für die Charta der Grundrechte der EU ist.168 So haben nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh die Rechte der Charta, die denjenigen der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. Zudem wird in Abs. 5 der Präambel der GRCh auch die Rechtsprechung des EGMR als mitkonstituierendes Element des Inhalts der Unionsgrundrechte genannt. Insofern kann hinsichtlich der EMRK und GRCh eine „Parallelität der Grundrechtsordnungen“169 konstatiert werden. In concreto kommt dies durch eine erhebliche inhaltliche Konvergenz verschiedener Grundrechte zum Ausdruck: Art. 8 EMRK ist die Basis für die Gewährleistung der Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 GRCh.170 Auch der Schutz der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 GRCh entspricht im Wesentlichen Art. 9 EMRK.171 Daher vermag es nicht zu überraschen, dass auch in Art. 10 GRCh angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Staatskirchensysteme innerhalb der EU keine ausdrückliche Verankerung eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vorgenommen wurde.172 Die auf dieser eher unzureichenden Grundlage gewährleistete Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts orientiert sich daher an den vorangegangen Ausführungen zu Art. 9 EMRK. In Anbetracht dessen kann der GRCh ein Schutz kirchlicher Autonomie nach deutschem Vorbild nicht entnommen werden.173 Zwar ist auch im Hinblick auf die Unionsgrundrechte der Schutz des Mindeststandards nach Art. 53 GRCh174 zu beachten, nach dem die europäischen Grundrechte nicht in einer Weise ausgelegt werden dürfen, dass der einzelstaatliche Grundrechtsschutz geschmälert wird (negative Abschirmung). In mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen ist dies freilich wenig hilfreich, da der Schutz der kirchlichen Selbstbestimmung nach deutschem Recht dem Anwendungsvorrang des konfligierenden Grundrechts aus der GRCh ausgesetzt wäre.175 Eine abweichende Beurteilung kann jedoch aus Art. 17 Abs. 1 AEUV folgen, dessen rechtlicher Gehalt nachfolgend noch erörtert wird.

Abschließend bleibt jedenfalls festzustellen, dass durch die Parallelität von EMRK und GRCh mittelbar die Rechtsprechung des EGMR zum kirchlichen Arbeitsrecht, die wesentlich auf Art. 8, 9 EMRK beruht, auch im Zusammenhang mit der Effektuierung der entsprechenden Rechte aus der GRCh Relevanz entfalten wird. Dabei wird aber vor allen Dingen in langfristiger Perspektive kein vollständiger Auslegungsgleichlauf durch die beiden Rechtsprechungsorgane aus Straßburg und Luxemburg zu erwarten sein.176 Zwar fungiert die EMRK als Auslegungshilfe, der EuGH wird aber künftig autonom Rechtsfortbildung im Bereich der EU-Grundrechte betreiben und von diesen erfasste Sachverhalte eigenständig bewerten. Damit wird er als supranationale Rechtsprechungsinstanz für das kirchliche Arbeitsrecht erheblich an Bedeutung gewinnen. Beunruhigend mag da aus kirchlicher Sicht erscheinen, dass der EuGH bislang kein der margin of appreciation entsprechendes Konzept zur Berücksichtigung nationaler Rechtstraditionen entwickelt hat.177

Kirchliches Arbeitsrecht in Europa

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