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Ein Brief für den König

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Xenias Wangen glühten. Sie wartete auf Marius. Obwohl sie sich ganz fest vorgenommen hatte, nie wieder an den Nägeln zu kauen, waren zwei ihrer Fingernägel angeknabbert, als er endlich kam. »Und?«, keuchte sie, als sei sie eben den halben Turm hochgelaufen. »Was hat der Herzog gesagt?«

Marius ließ sich auf sein Lager fallen. Er blickte sich im Zimmer um, und statt zu antworten, fragte er: »Hast du eine Ahnung, wo Meister Goldauge ist?«

Xenia zuckte die Schultern. »Nein. Vermutlich erzählt er Florine noch immer Heldensagen.«

Marius nickte und trank einen Schluck Wasser aus dem Krug, der am Kopfende des Strohsacks stand, auf dem er nächtens schlief.

»Nun sag schon«, drängelte Xenia.

»Ludovico hat dir also erzählt, dass der Herzog mich sprechen will?«

»Nicht nur das. Er hat mir auch von seiner Faucas-Mission erzählt. Ziemlich fies, finde ich, ihn jetzt, wo er doch gerade erst auf die Burg zurückgekehrt ist, gleich wieder in die Fremde zu schicken. Noch dazu allein.«

Marius lächelte unsicher. »Allein wird er nicht reisen.«

»Ach. Sondern?« Aber in dem Augenblick war es Xenia schon klar. Marius hätte es gar nicht sagen müssen: »Ich soll ihn begleiten.«

Das war es also gewesen. Das war dieses Unbestimmte, was sie den ganzen Tag über gespürt hatte. Das war das Ungute gewesen, was in der Luft gelegen hatte. Sie hatte es geahnt: Sie würde etwas verlieren, das ihr am Herzen lag. Etwas sehr Wichtiges. Nun wusste sie Bescheid, es waren Ludovico und Marius.

Nicht dass sie in Lucovico verliebt gewesen wäre. Nein, natürlich nicht. Ganz bestimmt nicht. Vermutlich nicht mal ein kleines bisschen. Aber sie mochte ihn schon sehr. Außerdem hatte er ihr Leben gerettet! Immerhin! Da musste sie ihn ja praktisch mögen. Wenn er nach Faucas ging, dann würde er ihr fehlen. Sie konnte sich das fast nicht vorstellen. Und sie wollte es sich auch nicht vorstellen. Aber wenn nun auch noch Marius ging? Ihr Vetter, der Junge, der sein Leben für sie riskiert hatte! Ihr bester Freund! Xenia wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie musste schlucken. Und sie musste sich die Augenwinkel wischen, die plötzlich feucht waren.

»Du sollst mit nach Faucas«, presste sie schließlich hervor.

Marius nickte. »Ja. Ich soll einen Brief an den König überbringen.«

»Einen Brief an den König?« Das klang wichtig. Das klang nach einem Auftrag, den man nur dem besten und würdigsten Boten übertrug. Schon mischte sich eine Spur von Stolz in Xenias Enttäuschung. Und ein Fünkchen Hoffnung. »Das heißt, dass du nicht dort bleiben, sondern bald wieder zurückkommen wirst. Wie lange reist man nach Faucas?«

»Na ja, ich war auch noch nie da. Aber ich schätze mal, zwei Wochen werden es schon sein, vielleicht drei.« Er sah zu seiner Base auf. »Aber ich werde trotzdem nicht in sechs Wochen zurück sein.«

»Nicht?« Da war es wieder, das ungute Gefühl, die bedrückende Vorahnung, dass noch etwas Unschönes passieren würde.

»Sondern?«

»Sondern ich werde bei Ludovico bleiben. Der Herzog hat mich darum gebeten. Sein Sohn braucht einen Begleiter, einen Vertrauten, verstehst du?«

Xenia verstand, was Marius sagte. Sie verstand auch, was der Herzog wollte. Doch sie wollte nicht verstehen, warum das so sein sollte. Marius hatte dem Herzog das Leben gerettet, er hatte das Reich vor Krieg bewahrt, sie alle hatten ihm unendlich viel zu verdanken ... »Aber der Herzog verdankt dir so viel, Marius«, sagte sie.

Marius atmete tief durch. »Ja. Vermutlich denkt er das auch. Doch zu mir hat er offenbar das nötige Vertrauen.«

»Er könnte Golo mitschicken!«, sagte Xenia, weil ihr das gerade durch den Kopf schoss.

»Könnte er«, bestätigte Marius. »Aber Golo ist ein Hofnarr.«

»Ja und?«

»Und das heißt, dass niemand Golo ernst nimmt.«

»Entschuldige, Marius. Aber dich nehmen die in Faucas sicher auch nicht ernst. Die wissen ja nicht ...«

»Klar nehmen die mich vermutlich auch nicht ernst. Aber ich falle nicht so auf wie Golo.«

Das stimmte. Golo war schon eine besondere Erscheinung. Er war kaum größer als ein Zwerg, hatte einen ziemlich großen Kopf, riesige Augen, lange Arme und spindeldürre Beine, mit denen er Kunststücke vollführen konnte wie sonst kein Mensch auf dieser Welt. Anfangs hatte sich Marius sogar gefragt, ob der seltsame Hofnarr mit dem etwas heimtückischen Aussehen überhaupt ein Mensch war. Doch inzwischen wusste er, dass er nicht nur ein Mensch, sondern auch noch einer der besten Freunde war, die man haben konnte. »Wenigstens habe ich Goldauge dabei.«

»Falls er wieder auftaucht«, sagte Xenia.

»Ach, sicher. Ich denke, er ist ganz froh, wenn er nichts mit dem Trubel zu tun hat, der überall auf der Burg herrscht. Er liebt große Menschenansammlungen nicht besonders. Außerdem kann man nie sicher sein, ob nicht doch ein Rabenfresser unter den Leuten ist.«

»Rabenfresser?« Xenia lachte. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass irgendjemand Raben essen würde.«

Nun war es Marius, der lachte. »Rabenfresser nennen wir Menschen, die etwas gegen die Raben haben. Du weißt doch sicher, dass Raben manchen Menschen als Unglücksvögel gelten, als Boten des Todes und ...«

»Schon klar«, unterbrach ihn Xenia, »das weiß ich natürlich. Ich bin schließlich die Enkeltochter unserer Großmutter.«

Und das stimmte, denn Xenia war wie Marius ein Enkelkind von Zussa, die zwar weithin als Hexe galt, aber eine kluge Frau mit besonderen Fähigkeiten war. Marius konnte sich noch gut erinnern, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er bekam heute noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, wie sie ihn damals »Rabenfreund« genannt hatte.

»Und nun?«, fragte Xenia.

»Nichts und nun«, beschied sie Marius. »Es ist, wie es ist, ich werde morgen nach Faucas aufbrechen und Ludovico dorthin begleiten, damit er lernt, wie man ein Königreich führt.«

»Obwohl er doch nur Herzog werden wird?«

»Obwohl er doch nur Herzog werden wird.«

Das Rabenorakel

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