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ZWEITES KAPITEL Wilde Träume

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Wilde Träume hatten Marius durch den Rest der Nacht gejagt. Darin war er von rabenschwarzen Drachenzwergen verfolgt worden und hatte gleichzeitig verzweifelt versucht, den Brief unter seiner Mütze festzuhalten. Der aber hatte sich in ein weißes Huhn verwandelt und versuchte sich ständig freizustrampeln und ihn dabei mit seinen Federn im Ohr zu kitzeln, sodass er immer wieder lachen musste und dabei Tränen in den Augen hatte und gar nichts mehr sehen konnte. Und immerzu hatte Marius die tiefe und drohende Stimme gehört: »Man kann nie sicher sein, ob nicht doch ein Rabenfresser darunter ist.«

Die rabenschwarzen Drachenzwerge riefen zwischen den Flammenstößen unablässig: »F-F-F ... Feuer!«, und kamen dabei immer näher. Und jedes Mal, wenn ein Flammenstoß ihn schon fast berührte, fiel ein weiteres Feuerwerk vom Himmel und versperrte den Drachen, einem dichten Schneetreiben gleich, die Sicht, sodass Marius immer wieder ein wenig Vorsprung bekommen hatte.

So ging das einen langen, schrecklichen Traum lang, bis er, die Lippen noch geöffnet und von seinem eigenen irren Lachen erschrocken, die Hände auf dem Kopf verkrallt, aus dem Schlaf hochfuhr. In den Händen hatte er natürlich kein weißes Huhn, sondern seine wild verstrubbelten Haare. Und kein rabenschwarzer Drachenzwerg hatte ihn mit flammendem Atem angefaucht, wohl aber eine Gestalt, die ihn jetzt mit großen Augen und breitem Grinsen anstarrte.

»Hahaha – aaaaah!«, machte Marius. Sein Lachen ging unmittelbar in einen Schreckensschrei über, ehe er den Eindringling erkannte, der da in seiner dunklen Kammer direkt vor ihm saß und ihn mit seinem alles andere als frischen Atem anschnaufte.

»Golo! Was machst du hier?«

»Na, das nenne ich mal eine nette Begrüßung«, sagte der Hofnarr und rückte ein Stück weg, die Arme wie einen Zopf vor der Brust verknotend.

»Entschuldige«, murmelte Marius. »Du hast mich erschreckt.«

»Ich habe dir nur ein bisschen beim Träumen zugesehen.«

»Eben. Das hat dem Traum so etwas ... Wirkliches gegeben ...« Marius musste an den Feueratem der Drachen denken und erschauderte. »Tut mir leid.«

»Schon gut«, sagte Golo und schlug nun auch noch die Beine mehrfach übereinander, sodass er beinahe aussah wie ein Kringel aus Don Basilicos Backofen. »Ich wollte nur mal sehen, wie es dir so geht.«

»Gut. Danke.« Marius räusperte sich. »Ich habe geschlafen.« Der Freund hätte ja nun durchaus zu einer passenderen Zeit kommen können als mitten in der Nacht, dachte er. Es sei denn ... »Sag mal«, forschte Marius, »das ist doch nicht der einzige Grund, warum du hier bist, oder?«

Golo wackelte bedeutungsvoll mit seinen riesigen Augenbrauen. Seine Augen schimmerten im durch das kleine Fenster hereinfallenden Mondlicht. »Nein«, sagte er und grinste, dass Marius seine gelben Zähne aufblitzen sehen konnte. »Abgesehen davon, dachte ich, dass ich dir vielleicht etwas erzählen könnte.«

»Und das wäre?« Marius richtete sich endlich ganz auf und tappte im Halbdunkel nach dem Wasserkrug.

»Vorsicht«, warnte Golo. »Besser du trinkst nicht daraus.«

»Nicht?« Marius schaute den Krug unsicher an. »Meinst du, jemand könnte mir ein Schlafmittel hineingetan haben?«

Golo wiegte den Kopf und gab einen eher unverständlichen Laut von sich.

»Oder etwas Schlimmeres?«

»Nein, nein«, sagte Golo beschwichtigend. »Es ist nur ...«

»Es ist nur was?«

»Na ja.« Der Hofnarr grinste noch etwas breiter. »Ich musste mal dringend wohin. Aber es war doch gerade so spannend mit dir und deinem Traum.«

Angewidert zog Marius die Hand zurück und rückte von dem Krug ab. Er blickte den Hofnarren von der Seite an. Was für ein seltsamer Kerl Golo doch war. Marius konnte sich noch gut erinnern, wie er ihn das erste Mal gesehen hatte – das war ebenfalls am Ende eines traumreichen Schlafs gewesen und Golo hatte ihn auch damals fast zu Tode erschreckt. »Was wolltest du mir also erzählen?«, fragte er und wunderte sich, wie hell die Augen seines Freundes im fahlen Mondlicht glänzten.

»Ich habe zufällig ein Gespräch zwischen dem Herzog und deinem Großvater mitbekommen.«

»Zufällig.«

»Zufällig, ja.« Golo räusperte sich. »Jedenfalls so gut wie zufällig.«

»So gut wie zufällig gibt es nicht, Golo. Du hast sie belauscht.«

»Ach was. Ich habe sie doch nicht belauscht. Jedenfalls fast nicht.«

»Fast nicht gibt es auch nicht...«

»Hör mal, bist du jetzt unter die Advokaten gegangen? Ich kann meine Geschichte auch für mich behalten.«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte Marius den zwergenhaften Mann mit den langen Armen und Beinen und mit der bemerkenswert großen Nase. »Erzähl bitte.«

»Also gut.« Golo entwirrte seine Arme und Beine wieder und nahm eine bequemere Stellung ein, jedenfalls eine für ihn bequemere: Er zog die Füße an und legte den Kopf darauf. Marius schüttelte sich. Das sah beinahe aus, als hätte man den Hofnarren geköpft und sein Haupt zwischen seine Beine gelegt. »Die beiden haben sich über eine bevorstehende Reise unterhalten.«

»Wer will denn verreisen?«, fragte Marius neugierig.

»Du.«

»Ach, das weiß ich schon.«

»Du weißt es schon? Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Wollte ich!«, versicherte Marius. »Aber ich konnte dich nirgends finden.«

»Mich nicht finden? Wer mich finden will, findet mich immer! Außer wenn ich nicht gefunden werden will, das weißt du doch.«

»Tja«, sagte Marius. »Diesmal hat es halt leider nicht geklappt.«

»Hm. Also du weißt bereits, dass sie dich nach Faucas schicken wollen?« Marius nickte. »Na, dann brauche ich eigentlich nichts mehr zu sagen.« Golo hob den Kopf wieder und sah etwas pikiert aus. Offenbar hatte er erwartet, großartige Neuigkeiten zu überbringen, und musste nun feststellen, dass es durchweg altes Geschwätz war, dessentwegen er Marius aufgesucht hatte.

»Ähm, vielleicht weißt du ja mehr als ich?«, versuchte Marius Neugier zu heucheln. Und als Golo nur mit den Schultern zuckte, schob er hinterher: »Du bist doch immer derjenige von allen, der am allermeisten weiß!«

»Ja. Schon.« Der Narr wackelte mit dem Kopf, wie er es gerne machte, wenn er sich geschmeichelt fühlte. »Dass dein Großvater nicht begeistert ist, kannst du dir vorstellen.«

»Klar. Da haben wir uns endlich nach vielen Jahren gefunden – und dann soll ich gleich wieder aufbrechen nach Faucas. Wer weiß, ob wir uns jemals wiedersehen werden.« Marius seufzte und rappelte sich auf. »Ich werde vermutlich Jahre weg sein. Keiner weiß, ob ich zwischendurch ab und zu mal nach Hause kommen kann.«

Golo musste ein bisschen lächeln, als er hörte, wie Marius die Burg als sein Zuhause bezeichnete. Bis vor Kurzem hatte sein Freund in dem Örtchen Toss gelebt, das wohl zwei Tagesmärsche entfernt lag. »Das kannst du bestimmt«, bestärkte er ihn. »Und das wird deinen Großvater auch beruhigen.« Golo nestelte sich etwas aus dem Haar und zerdrückte es zwischen seinen langen Fingernägeln, ehe er es sich in den Mund schob und zwischen seinen schiefen Zähnen zermalmte.

Marius klang ein wenig geknickt, als er sagte: »Ich hätte nicht gedacht, dass er mir das nicht zutraut. Immerhin reise ich praktisch, seit ich denken kann, alleine durch die Gegend. Als Bote habe ich fast alle großen Städte im Umkreis von Toss aufgesucht. Und außer Meister Goldauge hat mich niemand begleitet... Wo ist eigentlich Goldauge?«

»Keine Ahnung«, sagte Golo und sah sich um. Der Rabe war nirgends im Zimmer zu sehen. »Nicht dass dir der Alte nicht zutraut, diese Reise zu unternehmen, er hat Sorge wegen König Falk.«

»Sorge wegen König Falk? Muss er das denn?«

»Vielleicht«, murmelte der Narr, und seine riesigen Augen starrten in die Dunkelheit, dorthin, wo vor einiger Zeit ein wichtiger Brief zwischen zwei Steinen in der Wand verborgen gewesen war. »Immerhin hat das Fauconische Reich gegen das Reich des Rabenwalds Krieg geführt.«

»Ja, das habe ich gehört. Aber das ist lange her, nicht wahr?«

»Nicht viel länger als der Tag deiner Geburt, mein Freund.« Golos buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wir haben damals alle noch auf der Rabenburg gelebt, der Fürst, der Herzog, deine Großeltern, deine Eltern, die gesamten Familien Tyk und Londri. Nur die Raben waren noch nicht da.«

Die Raben! Sie hatten Zwietracht zwischen Fürst Heinrich und Herzog Friedbert gestiftet, worauf einst der Herzog die Rabenburg verlassen und sein eigenes Reich gegründet hatte, das Reich von Schloss Falkenhorst. »Wären sie doch nie gekommen«, sagte Marius und blickte hinab in den im Dunkeln liegenden Burghof, wo er eine schmale Gestalt aus der Tür des anderen Turmes huschen sah.

»Es war kaum anders möglich, mein Freund«, sagte Golo und knackte mit den Zehen.

»Weshalb sollte es nicht anders möglich gewesen sein? Der Fürst hätte sie bloß nicht bei sich aufnehmen müssen.«

»Ich sehe schon, du kennst dich nicht besonders gut aus in der Geschichte des Rabenwalds.«

»Nein«, sagte Marius. Er hatte den Schatten auf dem Hof verloren. »Sollte ich das denn?«

Golo beugte sich vor. »Hast du dich nie gefragt«, flüsterte er, und Marius schauderte beim Anblick seiner riesigen Augen, in denen er das Mondlicht aufblitzen sah, »warum im Rabenwald keine Raben leben?«

Als Golo wenig später seine Geschichte beendet hatte, schwirrte Marius der Kopf. Vor allem hatte er das dringende Bedürfnis, seinen Freund Goldauge zu suchen. Oder Xenia. Er brauchte jemanden, um sich zu besprechen.

Das Rabenorakel

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