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Die Prophezeiungen des Rabenwalds

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»Doktor Faustus! Auf ein Wort.« Eine kleine, gebeugte Gestalt trat aus dem Schatten der Burgmauer.

»Meister Tyk!«, rief Füchslin aus. »Was habt Ihr mich erschreckt.«

»Verzeiht, mein Freund, das lag nicht in meiner Absicht.«

»Ihr habt auf mich gewartet?«

»In der Tat. Ich wollte Euch gerne sprechen, falls es Eure Zeit erlaubt.«

»Gewiss, Meister Tyk«, sagte Füchslin und sah sich um, als erwarte er, dass außer dem alten Mann noch weitere Personen aus dem Dunkel kommen würden. »Für Euch habe ich immer Zeit.« Er schätzte den Greis, der ihm unter all den Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren, als einer der gelehrtesten erschien.

»Wollen wir vielleicht in meine Kammer gehen?«

»Tun wir das.«

Sie stiegen den Turm hinauf in die Kemenate von Zussa und Horatius Tyk. Die alte Frau lächelte wissend, als sie ihren Mann und den Gelehrten eintreten sah, grüßte Füchslin und verließ sogleich das Zimmer, angeblich um dringende Angelegenheiten zu erledigen. Faustus Füchslin sah sich um. Die Kammer war nicht allzu groß, sie war unschwer als Wohn- und Arbeitsraum eines gebildeten Mannes zu erkennen: Auf einem Pult lagen allerlei Schreibutensilien, Gänsekiele, Schneid- und Schabklingen, Tinte, Siegellack, Briefbeschwerer und dergleichen. Pergament und sogar teures Papier lagen in kleinen Stapeln auf einem Schränkchen daneben, und Bücher, etliche sogar! Außerdem Gerätschaften, wie Füchslin selbst sie benutzte und wie er sie auch bei seinem alten Freund Pater Anselmus und einigen weiteren Gelehrten schon gesehen hatte. Gerätschaften, um den Lauf der Gestirne zu bestimmen, um astronomische und astrologische Experimente durchzuführen, um Alchimie zu betreiben und um Tränke und Tinkturen zu brauen oder Salben anzurühren. Füchslin fragte sich, was davon Horatius Tyks Werkzeug sein mochte, was das seiner Frau? Denn er wusste, dass alle auf der Burg die alte Frau für eine Hexe hielten und gar mancher ihr nichts Gutes wollte, jedermann sie aber respektvoll behandelte – vermutlich schon aus Furcht, sie könnte ihre Zauber gegen ihn richten.

Horatius Tyk, dem der prüfende Blick des Gelehrten nicht verborgen geblieben war, lächelte und meinte: »Das meiste kennt Ihr wohl. Dinge, die viel Gutes bewirken können, wenn man sie entsprechend anzuwenden weiß.«

»Und viel Schlechtes, wenn man es nicht weiß«, ergänzte Füchslin ernst.

»Auch das, Doktor, auch das. Den größten Schaden aber richten die Zauber der Alchimie und Astrologie dort an, wo sie von den falschen Menschen beherrscht werden.«

»Oder wo Alchimie und Astrologie die falschen Menschen beherrschten.«

Horatius Tyk lächelte und nickte anerkennend mit dem Kopf: »Ihr seid ein kluger Mann, Doktor«, sagte er. »Ich wusste, dass Ihr der Richtige sein würdet, um über mein Anliegen zu sprechen.«

»Euer Anliegen. Gewiss.« Füchslin sah sich nach einem Platz um.

»Oh, bitte setzt Euch doch!«, sagte der alte Mann und wies auf einen hohen Lehnstuhl, dessen Armlehnen gepolstert waren wie die Sitzfläche. Ein teures Möbel, das der Herzog erst kürzlich für ihn hier herauf in die Kammer hatte schaffen lassen.

»Danke.« Füchslin setzte sich und seufzte zufrieden, während der Stuhl unter seinem beträchtlichen Gewicht knarrte. »Euer Anliegen«, wiederholte er und strich sich über den Bart. »So erzählt mir also: Was kann ich für Euch tun?«

Horatius Tyk trat an sein Pult und nahm ein nicht allzu großes, in unscheinbares Schweinsleder gebundenes Buch zur Hand, das abgegriffen und angegraut seine besten Tage längst hinter sich hatte. »Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten«, fing er an und reichte Füchslin das Buch. »Ihr werdet nach Faucas reisen, wie ich gehört habe.«

»In der Tat!«, erwiderte Füchslin. »Immerhin gehöre ich dem Rat der Faucofonen an!«

»Ja«, sagte Tyk wissend. »Und das sogar als Vorsitzender. Sicher habt Ihr Euch um die fauconische Sprache verdient gemacht.«

»Nun, um ehrlich zu sein, unterscheidet sie sich von der hiesigen Sprache in nicht allzu Vielem.«

»Aber doch in manch Entscheidendem!« Die Augen des alten Mannes blitzten. »Ich habe die Unterschiede vor Jahren selbst studiert.«

»So seid Ihr ein Kollege!«, rief Füchslin erfreut aus und strahlte.

»Nun, ich würde nicht so weit gehen, mich als Kollegen zu bezeichnen. Aber nennt mich einen Freund im Geiste.«

Füchslin nickte, gespannt, was der alte Mann noch an Neuem offenbaren würde.

»Ich war selbst nie in Faucas. Es hat sich leider nie ergeben. Das hing natürlich mit den jahrelangen Feindseligkeiten zusammen, die dem Krieg vorausgegangen waren – und dann mit dem Krieg selbst und allem, was ihm folgte.«

»Ich verstehe«, sagte der Gelehrte mitfühlend. Er wusste, dass Horatius Tyk zwölf lange Jahre unter unmenschlichen Zuständen in den Kerkern der Rabenburg gesessen hatte, weil Fürst Heinrich ihn zuerst für einen Verräter und dann für tot gehalten hatte.

»Nun, das ist nicht allzu schlimm. Man muss nicht in Faucas gewesen sein. Mich hat es nie dorthin gezogen. Allerdings gibt es eine Sache, der ich gerne in Faucas nachgespürt hätte.«

»Nachgespürt?« Füchslin horchte auf.

»Ja.« Horatius Tyk wandte sich dem Kamin zu und schürte ein wenig das Feuer, die Neugier seines Gastes genüsslich auskostend. »Nachgespürt. Ich habe gehört, dass die königliche Bibliothek dort eine der größten der Welt sein soll.«

»Oh ja, das ist sie!«, versicherte ihm Füchslin. »Es heißt, sie sei größer, als es die Bibliothek zu Alexandria einst gewesen ist.«

»So habt Ihr sie selbst noch nicht gesehen, mein Freund?«

Füchslin seufzte. »Leider nein. Bisher hatte ich keine Gelegenheit, Gast bei Hofe zu sein, und also auch keine Möglichkeit, um Studium der Schriften in der königlichen Bibliothek zu bitten.«

»Nun, vielleicht hättet Ihr ja bei dieser Reise Gelegenheit. Immerhin reist Ihr im Gefolge des Sohnes von Herzog Friedbert«, sagte der alte Mann und lächelte erneut geheimnisvoll.

»Da habt Ihr Recht, Meister Tyk!«, rief Füchslin aus. »Das könnte mir in der Tat die Möglichkeit verschaffen, an den Hof zu kommen. Denn obwohl ich Gesandter des Königs von Sina bin und sogar ein sehr kleines Königreich mein Eigen nenne, befand man mich in der Vergangenheit nicht für würdig, dem König gemeldet zu werden.«

»Zweifellos weil man am fauconischen Hof weder das große Sina kennt noch das kleine Mauritz.«

»Ihr wisst?« Die Augen des feisten Mannes leuchteten und er konnte kaum noch still auf seinem hohen Lehnstuhl sitzen bleiben.

»Falls es Euch gelingt, einige Studien in der Bibliothek anzustellen, glaubt Ihr wohl, Ihr könntet für mich nach einem bestimmten Buch forschen?«

»Aber gewiss! Wenn ich in die Bibliothek Eintritt erlange, so wird es mir eine große Ehre sein, für Euch etwas nachzuschlagen. Doch von welchem Buch bitte sprecht Ihr?«

Horatius Tyk wies nun auf den Band, den Füchslin in Händen hielt. »Es hat mit diesem Buch zu tun.«

Der Gelehrte holte sein Vordieaugen aus der Weste. Diese segensreiche Erfindung, tat so gute Dienste: ein Metallgestell mit kleinen geschliffenen Glasplättchen und ein Effekt wie Berylle. Manchmal nannte er das Vordieaugen deshalb auch so: Berylle. Es setzte es sich auf die Nase, hob den Deckel und las etwas gelangweilt: »Von der Kunst, eine Feder zu schneiden. Aha.«

»Blättert weiter, mein Freund«, wies ihn der alte Mann an. Füchslin blätterte die erste Seite um und las dann erstaunt: »Die Prophezeiungen des Rabenwalds.« Er blickte überrascht auf und sprach: »Aber das ist ja gar kein Buch über das Federschneiden!«

Horatius Tyks Augen blitzten verschmitzt. »Das habt Ihr gut erkannt. ›Von der Kunst, eine Feder zu schneiden‹ habe ich es nur genannt, weil ich wusste, dass sich dafür hier auf der Burg kein Mensch interessieren würde.«

»Und vermutlich auch sonst kaum jemand.«

»Richtig. Also bat ich einen Buchbinder vor vielen Jahren, mir dieses falsche Vorsatzblatt einbinden zu lassen. Und wirklich hat seither niemand – außer meiner lieben Frau – dieses Buch zur Hand genommen und darin gelesen.«

Füchslin schmunzelte. »Ihr seid ein schlauer Mann, Horatius Tyk.«

»Nun, ich hoffe, einst als kluger Mann zu gelten, nicht so sehr als schlauer.«

»Oh, wenn es darum geht, darf ich Euch beruhigen, Meister Tyk, Ihr werdet vor allem als weiser Mann gelten. Ihr tut es jetzt schon.«

»Bitte kein Lob zu Lebzeit«, wehrte Tyk ab.

»Mögen sie ewig währen.« Fasziniert begann Faustus Füchslin, in dem Buch zu blättern, und je weiter er kam, umso gefesselter war er von der Lektüre. Jahrhundertealte Weissagungen waren darin festgehalten, Orakel von Rabenkönigen und ihren Magiern, Prophezeiungen aus den Reichen des Rabenwalds, aus Faucas und anderen mächtigen Ländern, manche in wundervollen Versen, andere in kaum verständlicher oder völlig nebulöser Sprache verfasst, alle aber in der kunstvollen Schrift eines Meisterschreibers mit einstmals schwarzer, inzwischen an vielen Stellen ausgeblichener Tinte auf feinstem Pergament festgehalten.

»Das muss ein großartiges Buch sein!«, sagte Füchslin beinahe andächtig. »Was für ein Schatz, den Ihr da Euer Eigen nennt!«

»Ihr sprecht ein wahres Wort gelassen aus, mein Freund«, sagte Horatius Tyk. »Und doch ist es nicht nur ein Buch, für dessen Besitz ich dankbar und über dessen Rat ich glücklich bin – es ist auch ein Buch, das mir schlaflose Nächte bereitet und dessen Mangel an mir nagt und mich an manchen Tagen beinahe krank macht.«

»Wie das?« Nun hielt es den beleibten Gelehrten nicht mehr in dem Stuhl. Er richtete sich auf und trat mit dem Buch in Händen an das Pult, um im Schein der Kerze noch besser lesen zu können. »Ihr nennt hier ein Kunstwerk Euer Eigen, wie es wenigen Menschen beschieden sein dürfte. Ihr könnt ungeheure Einblicke aus ihm ziehen und Dinge erfahren, die kein Mensch außer Euch weiß ...«

»Ich könnte, verehrter Doktor Faustus, ich könnte«, sagte Horatius Tyk und nickte ein wenig trübselig. »Wenn ich denn den zweiten Band hätte, ohne den der erste nicht zu entschlüsseln ist.«

»Ihr meint, es gibt noch ein weiteres Buch dieser Art?«

»Das gibt es. Allerdings ist es kein eigenständiges Werk, so wie ja auch dieses Buch hier nicht eigenständig ist. Vielmehr braucht ein Buch das jeweils andere, damit die darin enthaltenen Prophezeiungen verstanden werden.«

»So ist ein Buch der Schlüssel des jeweils anderen?«

»So ist es.«

»Und Ihr glaubt, der zweite Band könnte sich in der königlichen Bibliothek zu Faucas befinden?«

»Ich bin sicher, dass es so ist.«

»Wie kommt Ihr darauf?«

»Seid mir nicht böse, mein Freund, wenn ich das für mich behalte«, erwiderte Horatius Tyk und wiegte nachdenklich seinen Kopf. »Es könnte gefährlich für Euch sein, das zu wissen ...«

Das Rabenorakel

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