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Twisd AG

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Bonn, ab 1997

Bis jetzt hatten wir nur Produkte für andere entwickelt, also Auftragsarbeiten. Damit konnten wir unser wachsendes Team und die Büros finanzieren. Aber bald wollten wir endlich selbst das große Geld verdienen. Und das geht natürlich nur mit einem eigenen Produkt, das millionenfach verkauft wird. Jetzt wird es kurz ein wenig technisch, aber ich versuche, es verständlich zu halten: Unsere Idee war eine Kombination aus allem, was wir bisher gelernt hatten. Für die Experten: Lokale Netzwerke (LAN, Local Area Network), Web-Applikationen und Design.

Wir entwickelten eine kleine Box, die lokale Netzwerke mit dem Internet verband und alles drum herum regelte: LIC, das stand für LAN Internet Connect.


Damals musste man noch teure Server kaufen

Heutzutage ist das Standard und auf einem kleinen Chip zu haben. Damals war das spektakulär: Jedes kleine Büro bis zum Mittelständler konnte seinen Internetzugang selber administrieren. Es gab keine komplizierten Zugangsschranken, und man brauchte keine Techniker mehr! Und das alles mit einer attraktiven und leicht verständlichen Benutzeroberfläche, hinter der sich eine ziemlich komplexe Software versteckte. Die Idee und Umsetzung war für damalige Verhältnisse genial, das musst du mir jetzt einfach mal glauben. Auch heute bin ich noch überzeugt davon, dass wir ein sehr gutes Produkt hatten. Aber um die Welt zu revolutionieren, braucht man Geld. Wir zogen mit unserem LIC los – und wer ein bisschen Verständnis für Computer und Netzwerke mitbrachte, war davon auch sehr schnell begeistert. Ein Bonner Kapitalgeber stellte uns 1,4 Millionen DM Venture Capital bereit, um das Produkt zur Marktreife zu bringen.

Hurra! An der Börse war gerade die Zeit des Neuen Markts. Firmen wie Intershop, EM.TV oder Infineon elektrisierten die Anleger. Und die Idee war brillant: Man wollte junge Unternehmer an die Börse bringen, um ihnen die Chance zu geben, am Kapitalmarkt Investoren von sich zu überzeugen und so zu wachsen. Pro Woche gab es mehrere Börsengänge, und es war keine Ausnahme, dass eine Aktie am ersten Handelstag um 100 Prozent nach oben schoss. Wer zum Beispiel im Oktober 1997 für 3.500 DM EM.TV-Aktien gekauft hatte und behielt, besaß wenige Monate später auf dem Papier Aktien im Wert von 1,2 Millionen DM. Es war ein regelrechter Hype, keiner wollte den Zug verpassen. Deshalb wurde auch in Aktien investiert, deren Unternehmen noch kein funktionierendes Produkt hatten und schon gar nicht erklären konnten, wie sie bald sehr viel Geld verdienen würden. Das war alles eine große Wette auf die Zukunft. Ich war damals in der Firma nicht CEO, sondern CTO, also für die technischen Produkte verantwortlich, das Geschäft machten andere. Aber es sollte auch für uns an die Börse gehen – und ich hatte nichts dagegen! Junge Unternehmer wie Lars Windhorst, Stephan Schambach von Intershop oder die Haffa-Brüder von EM.TV ließen es krachen – und mir gefiel der Gedanke, irgendwie und irgendwann dazuzugehören. Mit dem Geld vom Kapitalgeber sollte sowohl der Börsengang vorbereitet als auch das Produkt entwickelt werden. Mit dem Börsengang würden dann weitere Millionen eingenommen werden, das war der Plan. Es war eine verrückte Zeit!

Software-Architektur und Technologie waren meine Leidenschaft, und jetzt konnte ich eine komfortable Anzahl von Entwicklern einstellen und mit ihnen Tag und Nacht an meinem Produkt arbeiten. Wir hatten die schnellsten und teuersten PCs und die besten Server. Wir saßen in fancy Büros mit der feinsten Kaffeemaschine und dazu abgestimmten italienischen Bohnen. Wir tranken Cola light ausschließlich aus den kleinen Flaschen. Klar, die großen waren günstiger, aber wen juckte das schon. Keiner fragte nach Umsätzen – und so etwas wie Gewinne erschien sogar uncool. Es ging um große Storys, um Technologie, um Marktführerschaft. »Fantasie« war das Wort der Stunde. Da ist »Fantasie« drin. Hat das Produkt »Fantasie«? Hat die Aktie »Fantasie«? Dann war sie heiß. Unser Produkt hatte Fantasie, aber Hallo.

Man las von irren Parties, von Superyachten auf den Malediven und Privatjets auf der eigenen Insel in der Karibik. Es gab einen vorbestraften Hacker namens Kim Schmitz – aka Kim Dotcom oder Kimble – der angefangen hatte wie ich, nämlich mit dem Knacken von Computerspielen. Mittlerweile hatte er sich einen zweifelhaften Ruf als »Berater« erworben, indem er zunächst die Firewalls großer Firmen knackte und sich im Anschluss von diesen Firmen einen hochdotierten Vertrag geben ließ. Nach eigenen Angaben hatte er 500 Millionen Euro verdient, was ihm offenbar ermöglichte, sich mit leicht bekleideten Mädchen im Whirlpool ablichten zu lassen, Helikopter zu chartern und beim Großen Preis von Monaco eine Loge für sich zu buchen. Später waren ihm erst die Staatsanwälte und dann sogar das FBI auf den Fersen. Anscheinend war nicht jede Mark legal verdient. Merkwürdiger Typ – aber es waren ja auch merkwürdige Zeiten.

Ganz so groß wurde bei uns natürlich nicht gefeiert. Aber die Bergfeste der Telekom auf der Cebit waren legendär. Wir durften als enger Partner und Referenzkunde mit der ganzen Standbelegschaft mitfeiern. Mit einem anderen Partner fuhren wir mit dem Taxi aus der niedersächsischen Provinz auf ein paar Drinks nach Hamburg und wurden anschließend wieder, ebenfalls per Taxi, zurück ins Hotel nach Hannover gebracht. Schließlich musste man – trotz allem – am nächsten Morgen wieder fit für die nächsten großen Deals und Präsentationen auf der Messe sein. Immerhin träumten wir alle vom Neuen Markt.

Die Investitionen dieser Firmen wurden immer größer und – rückblickend gesehen – verrückter: Die schon erwähnte EM.TV hatte zum Beispiel mit der Vermarktung der Rechte an Comicserien fürs Kinderfernsehen begonnen, Alfred Jodocus Kwak oder Tabaluga. Jetzt kaufte sie für 1,3 Milliarden DM die Jim Henson Company, also die Sesamstraße und die Muppets. Im März 2000 erwarb EM.TV sogar 50 Prozent der Rechte an der Formel 1. Meine ersten Gründer-Kumpels wurden durch den Neuen Markt über Nacht Millionäre – und auch sonst gab es keine Grenzen. Ich ging zu BMW und leaste den krassesten 3er. Sechs Zylinder mit 300 PS, feinste Ledersitze, sogar mit Fernseher. Das klingt aus heutiger Sicht auch für mich völlig irre, aber damals war das normal. Natürlich war das auch mein eigener Fehler, aber ich war 25 und unerfahren, und plötzlich war alles megacool. Alle anderen machten es auch so, und niemand bremste, auch nicht unser Aufsichtsrat, von dem ich im Zweifelsfall erwartet hätte, dass er eingreift und uns empfiehlt, das Geld nur für die Produktentwicklung und den Vertrieb auszugeben. Aber im Gegenteil, auch unser Aufsichtsrat war vom Geist der Zeit erfasst und gab die Budgets frei für die luxuriösen Firmenwagen, Büros und vieles mehr. Wichtig war damals nur, wann wir endlich unseren IPO machen würden. Auch bei den anderen Technologiefirmen, damals nannte man sie ja noch nicht Startups, wurde das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Jede Woche eröffnete ein neues, ausgefalleneres Unternehmen mit einer Idee, die »Fantasie« versprach. Ich arbeitete weiterhin Tag und Nacht, es war großartig, mit hervorragenden Technikern im Grenzbereich zu entwickeln. Da wir wirklich viele neue Funktionen lieferten und kein Wettbewerber mithalten konnte, glaubte ich, all das viele Geld auch tatsächlich verdient zu haben. Leider brachte das eine Begleiterscheinung mit sich, die ich heute sehr bereue. Ich mutierte über den virtuellen Erfolg zum eingebildeten Idioten. Es geht um mein damaliges Ich, und für das traf dieser Begriff leider zu. Ich weiß nicht, ob es die ersten Artikel in der Zeitung mit dem Titel »Der Wunderjunge« waren oder mein voll ausgestatteter BMW 330i, den sich meine Eltern auch nach 30 Jahren Arbeit nicht leisten konnten, oder das hippe Chefbüro. Aber irgendwas hat mich überschnappen und abheben lassen. Ich hätte mich damals außerhalb meiner Technikwelt selbst nicht treffen wollen. Meine Eltern sind sehr ehrliche und ruhige, geerdete Menschen, und sie haben dies eigentlich auch an mich weitergegeben. Aber wenn ich jetzt nach Hause kam, erzählte ich von meiner großen neuen Welt und davon, wie klein, langsam, uncool und dumm alle anderen waren. Ich fühlte mich wie der König der neuen Welt. Alle, die nicht dabei waren, verschwendeten in meinen Augen ihr Leben. Es gibt ein Foto, auf dem wir drei Vorstände der twisd AG vor unserem LIC-Produkt stehen, Severin, Sandor und ich. Die Daumen in die Höhe gestreckt. Drei junge Männer mit einem etwas fragwürdigen Style, aber grenzenlosem Optimismus. Leider aber auch mit einer Prise Übermut und Überheblichkeit.

Ich habe diesen Optimismus und die Liebe für Technik behalten, aber hoffentlich die Überheblichkeit gegen Demut getauscht. Denn diese Zeit hielt noch eine Lektion für mich bereit, die ich bis heute nicht vergessen habe. Die ersten 1,4 Millionen DM Wagniskapital waren schneller aufgebraucht als gedacht – kein Wunder. Auch wenn es mir damals so erschien, war das Kapital dann doch nicht unendlich. Wir hatten davon aber auch ein wirklich gutes Produkt entwickelt, ich bin bis heute stolz auf unsere Technologie und das Design. Allerdings hatten wir einfach vergessen, die Boxen auch zu verkaufen. Natürlich führten wir Gespräche mit potenziellen Großabnehmern, wie zum Beispiel der Telekom oder IBM. Aber die dauerten länger als erwartet. Und ging es nicht um die Wette auf die Zukunft statt um die Umsätze im Hier und Jetzt? Ehrlich gesagt: Wir hatten nicht einmal ernsthaft geprüft, wie viele unserer genialen Boxen wir auf welchen Wegen überhaupt verkaufen könnten. In bestimmten Bereichen des Geschäftslebens waren wir einfach himmelschreiend naiv und unerfahren. Aber darauf achtete keiner: der Aufsichtsrat nicht, die Banken nicht und wir erst recht nicht. Der Börsengang stand ja kurz bevor und würde uns alle zu Millionären machen. Alles würde bald noch viel glorreicher werden. Und als das Kapital weg war, gab uns unsere Bank einfach eine Kreditlinie über zwei Millionen DM. Die Party konnte weitergehen!

Frank Thelen – Die Autobiografie

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