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Lost in Translation
ОглавлениеTokio, Düsseldorf und Bonn, 2008
Und dann flogen wir nach Tokio. Dort lernte ich, was es bedeutet, in Japan Arbeitnehmer zu sein. Man lebt und stirbt für die Firma. Unten sitzen Hunderte von Mitarbeitern in Legebatterien und geben ihr Leben für das Unternehmen. Jeder hat exakt 1,20 Meter Breite Platz, keine Trennwände. Der Abteilungsleiter hat einen 1,60-Meter-Schreibtisch mit etwas Freiraum daneben. Aber der große CEO hat die oberste Etage und dazu 30 Sekretärinnen nur für sich alleine.
Die meisten Mitarbeiter sehen ihre Familien kaum – selbst abends ist man mit Kollegen unterwegs und trinkt Sake. In meinen Unternehmen leben wir das Gegenteil: Jeder Mensch braucht Freiraum, um großartige Produkte zu erschaffen. Arbeite zehn Stunden konzentriert, aber dann mach Sport, gehe zu deiner Familie oder zu deinen Freunden. Wenn es der Firma hilft, kann jeder in meinem Büro arbeiten, und ich brauche erst recht keine 30 Sekretärinnen. Japan war ein harter Kulturschock.
Für den Deal mussten wir öfters nach Tokio reisen – und während der letzten Verhandlungen saß mir endlich der Finanzchef der Japaner gegenüber. Vor sich hatte er einen riesigen Solartaschenrechner mit einem neonfarbenen Katzenaufkleber. Er tippte irgendwelche Zahlen rein, blickte mich an und sagte: »Oooh!« Das hätte alles bedeuten können, also fragte ich nach. »Are you happy? Can we go to the US market?« Als Antwort kam nur ein brummendes »Hmmmm«. So ging es die ganze Zeit. Es war überhaupt nicht klar, welche meiner Botschaften ankamen und was mein Gegenüber gerade dachte.
Irgendwann aber waren wir so weit, dass ein Vertragsentwurf aufgesetzt wurde. Und der war ganz schön heftig: Fujifilm war ein internationaler Konzern, der bisher keine Startups übernommen hatte. Das zeigte sich auch im Vertrag – wir sollten dem Käufer zum Beispiel garantieren, keine verseuchten Erden zu verwenden, und wir sollten auch garantieren, dass durch uns keine chemischen Unfälle entstehen würden. Zudem sollten wir hierfür mit Summen haften, die um ein Vielfaches höher waren als der Kaufpreis. Wir hatten ein Büro, Computer, Tische, Stühle … – womit hätten wir chemische Unfälle verursachen sollen?
Fisch-Diät bei den Fujifilm-Verhandlungen in Tokio
Aber ich wollte auf gar keinen Fall denselben Fehler noch mal machen: unbedacht etwas unterschreiben, was ich später bereuen würde! Diesmal hatte ich Marc an meiner Seite, der zusätzlich zwei sehr erfahrene Anwälte für uns mandatierte. Wir verhandelten Tage und Nächte in einer sehr noblen Düsseldorfer Kanzlei direkt an der Kö. Ich erinnere mich bis heute an die edle Toilette – italienischer Marmor, indirekte Beleuchtung, sechslagiges Toilettenpapier – und pünktlich um 19 Uhr wurden feinste Delikatessen serviert. Die inhaltlichen Verhandlungen waren nervenaufreibend, und ohne unsere Anwälte Nicolas und Konstantin hätte ich den Prozess nicht überstanden. Für mich stand so viel auf dem Spiel, ich wollte keine zehn Seiten unverständlicher Haftungsklauseln unterzeichnen. Nach der dritten Verhandlungsrunde hatten wir gegen 23 Uhr endlich eine Version, die für beide Seiten passte. Wenige Tage später saßen wir in Düsseldorf beim Notar, um den verhandelten Vertrag zu unterzeichnen. Marc hatte die ganze Nacht alles noch dreimal geprüft, und man sah ihm den fehlenden Schlaf an. Ich sah sicher nicht viel besser aus. Unsere Anwälte hatten keine weiteren Anmerkungen, alles konnte wie verhandelt unterzeichnet werden. Doch gerade als ich den Stift ansetzen wollte, nahm mich ein Fujifilm-Mitarbeiter zur Seite:
»Important document from our Tokyo HQ you need to sign, before we sign.«
Bevor die Japaner unterschreiben würden, sollte ich also noch ein weiteres Dokument unterzeichnen – und zwar eines, in dem stand, dass ich mich nicht mehr CEO nennen, sondern »nur noch« Geschäftsführer sein würde. Es würde nur einen CEO geben, und der säße nicht mehr in Bonn, sondern in Tokio. Aber ich hatte damit gerechnet, nicht mehr alles alleine entscheiden zu können, an dem CEO-Titel sollte es also nicht scheitern.
Als dann die Tinte trocken war, sollten wir direkt nach Japan reisen, um dort den echten CEO von Fujifilm zu treffen. Die erste Tranche des Kaufpreises war gerade angekommen – und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Business Class gebucht. Dass Marc und ich am Schalter von einer sehr netten Japanerin sogar in die First Class upgegradet wurden, feierte ich als ein gutes Zeichen. War das jetzt mein neues Leben?
In Tokio waren alle Japaner bei Fujifilm, mit denen wir zuvor Kontakt hatten, vor dem Meeting mit dem CEO wirklich angespannt – denn es ist das Lebensziel eines jeden Angestellten dort, sich einmal vor dem CEO verbeugen zu dürfen – so zumindest unser Eindruck. Und wir durften als Youngster sogar ein echtes Meeting mit ihm haben, denn wir sollten ja jetzt als Teil seines Konzerns Innovationsimpulse in alle Abteilungen bringen. Damals habe ich mich sogar so verrückt machen lassen, dass ich extra eine Krawatte dafür angezogen habe! Jeder, der mich kennt, weiß, dass es einen höheren Grad an Hysterie kaum geben kann.
Dem CEO habe ich dann bei unserem Treffen erklärt, was er da eigentlich gerade gekauft hatte. Und ich erklärte ihm auch, was in seinem Laden nicht rundläuft und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Unser Übersetzer, Shimumura-San, erbleichte. Es war offenbar eine Todsünde in Japan, dem Chef zu erklären, wo es dringenden Handlungsbedarf gibt. Zum Glück hat der CEO nicht so viel von dem verstanden, was ich ihm da erklärte – und Shimumura-San war diplomatisch genug, meine Ausführungen den japanischen Gepflogenheiten entsprechend zu übersetzen. Als ich fertig war, schaute mich der CEO lange an, rollte mit den Augen und zeigte schließlich mit dem Finger auf mich. Und dann sagte er nur zwei Worte: »You… strong!« Ich hatte damals den Film Lost in Translation noch nicht gesehen und wusste auch nicht, dass ich an dem Abend nach diesem Meeting exakt in derselben Bar saß, in der Bill Murray und Scarlett Johansson sich getroffen hatten. Aber das Gefühl der kompletten Ratlosigkeit angesichts einer rätselhaften Kultur – der Film spiegelt ziemlich genau dieses Gefühl wider, das ich damals in Japan hatte.
Als Belohnung für den erfolgreichen Deal wurden wir für ein Wochenende in ein Onsen-Resort eingeladen. Onsen sind die heißen Quellen Japans – und regelmäßig diese Bäder zu besuchen, das ist eine Tradition, auf die die Japaner sehr stolz sind. Vielleicht sollte man erwähnen, dass Japaner im Schnitt nur 16 Tage Urlaub im Jahr haben. Und es gehört zum guten Ton, mindestens die Hälfte davon ungenutzt verstreichen zu lassen. Umso wichtiger ist es, die wenigen verbleibenden Urlaubstage komplett zu füllen. Das erklärt nicht nur die straff durchorganisierten Sightseeing-Touren der Japaner durch Europa, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten eines Kurztrips in eben so ein Onsen-Resort, von denen es in Japan über 3.000 gibt.
Zur Begrüßung mussten wir zunächst unsere gesamte Kleidung ablegen und bekamen im Gegenzug einen Bademantel und traditionelle Schlappen ausgehändigt. Jetzt ist der durchschnittliche Japaner etwas kleiner als ich – und selbst die größte Größe dieser Bademäntel reichte mir nur bis knapp über die Hüfte. Das war zu kurz! Ich spare mir die Details, aber ich sah aus, als würde ich ein Minikleid tragen. Anschließend verbrachten wir den halben Tag in einem Thermalbad, dessen Wasser muckelige 41 Grad hatte. Man wurde auf eine angenehme Art müde, ungefähr so, als hätte man ein paar Saunagänge zu viel eingelegt. Danach gab es Fisch in allen erdenklichen Kombinationen: Sushi und Sashimi aus Lachs, Thunfisch, Krabben, Tintenfisch und einige andere Dinge, die ich nicht identifizieren konnte. Das Problem: Ich esse keinen Fisch. Keine Ahnung, warum, aber ich bin einfach mehr der Steak-Typ. Mir blieb nur der Reiswein, den die Kollegen und ich in ziemlich großen Mengen lauwarm tranken. Und dann stellte sich heraus, dass wir mit sechs Leuten, also auch mit den Japanern von Fuji, in einem einzigen Raum schlafen sollten, jeder auf seiner eigenen Reismatte.
Unser Wellness-Wochenende im Onsen Resort
Vor ein paar Tagen war ich noch First Class geflogen – und jetzt lag ich hier auf einer Reismatte, gemeinsam mit schnarchenden Japanern in einer Art Jugendherbergszimmer. Ich hatte den halben Tag in heißen Thermalquellen verbracht, nichts gegessen, Reiswein getrunken. Mir war schwindelig. Am nächsten Morgen gab es lebende Krabben, Lachs und Thunfisch – keinen Kaffee, kein Rührei, kein Brot. Mittags Thunfisch, Lachs und wieder Krabben. Ich weiß schon: andere Länder, andere Sitten – aber diese Sitten verlangten mir einiges ab. Am Abend aber gab es gastronomische Abwechslung. Es wurde eine ganz besondere Delikatesse gereicht: Walsperma! An dieser Stelle stieg ich kulinarisch endgültig aus und behauptete, spontan Vegetarier geworden zu sein.
Ich weiß noch, wie wir nach dem Onsen am letzten Morgen auf dem Weg zum Flughafen an einem Starbucks vorbeikamen, den wir erst einmal plünderten: Kaffee! Käse-Sandwiches! Blaubeer-Muffins! Es war wie im Paradies. Frisch gestärkt und zurück in meiner Welt, ließ ich während des Rückflugs nach Deutschland die letzten Tage und Jahre vor meinem geistigen Auge Revue passieren.
ip.labs hatte zu Beginn eine Überlebenschance von 20 bis 30 Prozent gehabt. Es war eine halsbrecherische Aktion gewesen – nur ein Kunde hätte uns auf den zugesagten Termin verklagen müssen, und alles wäre vorbei gewesen. Aber die Kombination aus hohem Risiko, vom Produkt überzeugten Gründern und einem Team, das alles für die Firma gegeben hatte, hatte es ermöglicht, einen Weltmarktführer ohne externen Investor aufzubauen.
Es hatte geklappt!