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Der entscheidende Impuls meines Vaters

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Bonn, 1991

Mein Vater sah zu dieser Zeit allerdings keine gute Zukunft für seinen Sohn, und aus heutiger Sicht kann ich das durchaus verstehen. Er liest – übrigens bis heute – jeden Tag den Bonner General-Anzeiger, und eines Tages entdeckte er dort einen Artikel über eine neue Schule, die eine Kombination aus Fachabitur und Ausbildung zum Informatiker anbot – seiner Meinung nach die ideale Ergänzung zu meinem Realschulabschluss.


Mit meinem Vater in Bonn

Die Deutsche Telekom hat ihren Sitz in Bonn – und für meinen Vater war damals die Telekom der Inbegriff eines soliden Unternehmens. Wer dort landete, hatte es in den Augen meines Vaters geschafft. Er muss sich gedacht haben: Der liebe Gott hat diese Schule für meinen Sohn gemacht, denn wenn er dort angenommen wird, kann er es doch noch zum Telekom-Abteilungsleiter bringen. Aber der Ansturm auf diese neue Schule war groß. Sehr groß. Es gab 150 Bewerber für 30 Plätze, also gab es einen Aufnahmetest, der sich gewaschen hatte. Mein Vater hat mit mir eines Samstags noch morgens gefrühstückt und mich dann mit seinem in die Jahre gekommenen Audi 100 zur Prüfung gefahren. Während ich in dem kargen Klinkergebäude Blut und Wasser schwitzte, saß er draußen im Auto, wartete und war wahrscheinlich sogar noch aufgeregter als ich.

Heute kann ich es zugeben: Ich habe geschummelt. Neben mir saß ein Junge, der sich (anders als ich) monatelang auf die Multiple-Choice-Fragen vorbereitet hatte. Weiß der Teufel, woher er wusste, welcher Art dieser Test sein würde. Aber er hatte es drauf. Ich habe ganz simpel von ihm abgeschrieben – unter uns Informatikern heißt das »copy & paste«. Das merkte er und fand es gar nicht lustig. Aber ich habe einfach weitergemacht. Anschließend gab es noch zwei Bewerbungsrunden, in denen man sich in Einzelgesprächen beweisen musste, eine davon auf Englisch. Bis heute erinnere ich mich an die Frage: »What is ‘to recycle’?« Ich glaube, das habe ich ganz okay gemeistert, aber ich bin Realist: Unter normalen Umständen wäre ich nicht durchgekommen. Doch »wie durch ein Wunder« erreichte ich die erforderliche Punktzahl und wurde aufgenommen. Der Junge, von dem ich damals abgeschrieben hatte, hat die Schule übrigens nicht beendet. Ich hoffe für ihn, dass er woanders glücklich geworden ist, und möchte mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich dafür bei ihm bedanken, dass er mich nicht verpfiffen hat. Manchmal gibt es im Leben diese Gelegenheiten, die man einfach beim Schopf packen muss. Das soll keine Entschuldigung sein, aber vielleicht hast du auch schon mal abgeschrieben. Ich habe dadurch eine riesige Chance bekommen und nach drei Jahren als Klassenbester die Schule verlassen. Ich war gar nicht dumm oder unfähig – es war die Form des Unterrichts, die mich am Gymnasium verzweifeln ließ. Und jetzt hatte ich begriffen, dass man coole Sachen lernen und dabei auch noch Spaß haben kann. Ich durfte Platinen löten und programmieren und hatte auf einmal richtig Bock. Der wahre Moment der Erkenntnis kam allerdings auch hier wieder außerhalb der Schule: Während der Zeit dort musste man ein Betriebspraktikum machen. Meine Freundin Conny erzählte mir: »Ein Freund von mir hat eine kleine Softwarefirma, den solltest du mal anrufen.« Ich rief ihn an, und er wollte mich auch direkt treffen, wahrscheinlich wegen Conny. Er lud mich am Rosenmontag ein. Wer je im Rheinland Karneval gefeiert hat, weiß, was das bedeutet. Aber so im Nachhinein passt das durchaus, denn dieser im Rheinland heilige Tag wurde letztendlich auch für mich zum Glücks- und Feiertag: Der Freund von Conny hieß Martin Hubert und die Firma Chips at Work. Martin öffnete mir persönlich die Tür – alle anderen waren Karneval feiern. Für einen Chef war Martin sehr jung, gerade mal zehn Jahre älter als ich mit meinen 17 Jahren. Er duzte mich und kam irgendwie richtig cool rüber. Chips at Work bestand aus einem Büro mit fünf Räumen und sah nach Entwicklungslabor aus: Überall standen offene Computer rum, aus denen Drähte und alles mögliche Zeugs raushing, Festplatten lagen in der Ecke. Martin kam direkt zum Punkt: »Conny sagt, du willst ein Praktikum bei uns machen. Bist du bereit, auch länger zu arbeiten und dich selbstständig in Themen einzuarbeiten?« »Ja«, murmelte ich verhalten, »absolut. Ich liebe Computer und will unbedingt lernen.« »Okay.« Martin hob die Abdeckung eines Computers hoch. »Dann erklär mir doch mal den Aufbau dieses Computers!«

YES! Ich hatte unzählige PCs für Verwandte und Freunde gebaut und jede Ausgabe der damals schon angesagten Geek-Zeitschrift C’t gelesen. Hier war ich zu Hause, das war mein Gebiet. Ich erklärte Martin alles im Detail. Bisher hatte ich mein Wissen im Kinderzimmer erworben, dort war es geblieben. Bisher hielt ich es für wertlos, für eine private Spinnerei, mit der nur ich etwas anfangen konnte und sonst keiner. Und jetzt traf ich auf Menschen, mit denen ich dieses Wissen teilen konnte – und die bereit waren, ihr Wissen mit mir zu teilen. »Das hier ist die CPU, das sind die RAM-Module, das ist die Netzwerkkarte am ISA Bus, die Grafikkarte am EISA Bus« und so weiter. Und zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich einen Satz, der sich gleichzeitig anerkennend und ermutigend anhörte, der mir eine Perspektive eröffnete und mir zeigte, dass ich nicht ganz alleine war auf der Welt mit meinem Computerzeug. Okay, es ging nur um einen Praktikumsplatz, aber der Satz hieß: »Du hast den Job!«

Mein erster echter Chef war ein weiterer entscheidender Glücksgriff in meinem Leben: Seine Firma entwickelte das erste Bildschirmtelefon der Welt. Das funktionierte nicht über das Internet, sondern noch via ISDN, über eine damals moderne Telefonleitung. Heute ist ein Videochat nichts Besonderes mehr – Skype, FaceTime, WhatsApp – aber damals, Anfang der 90er Jahre, war es ein Traum wie heute die Reise zum Mars. Erst im Jahr 2010 trat Steve Jobs auf eine Bühne und stellte FaceTime als einen wahr gewordenen Menschheitstraum vor. Ich hatte das Glück, bereits 15 Jahre zuvor dieses Produkt mitentwickeln zu dürfen. Natürlich mit geringerer Auflösung, für klobige PCs, aber es funktionierte.

Den Begriff »Startup« gab es damals noch nicht, aber Chips at Work war das perfekte Startup: Zehn bis zwölf intelligente Ingenieure arbeiteten sieben Tage die Woche und lebten für das Produkt, jeder konnte und durfte Sachen machen und ausprobieren, es gab keine Politik, keine Hierarchien und keine Stechuhr. Das Bildschirmtelefon mit dem Namen Two-at-One-Desk wurde damals für die Telekom entwickelt – und eines Tages hatten sich deren Projektleiter angekündigt, um sich das Wunderwerk anzuschauen. Bei diesen Meetings war ich nicht dabei, ich war ja nur der Junior Software Developer, aber ich erinnere mich, dass wir am Tag der Präsentation noch morgens um sechs Uhr an den letzten Funktionen gearbeitet haben. Und weil es nur so halb funktionierte, haben wir dann anstelle des echten Produkts ein vorher aufgezeichnetes Video abgespielt. Das war ein wilder Stunt und selbst für Gründer im dunkelgrauen Bereich, aber wir wussten ja, dass unser Gerät prinzipiell funktionierte. Manchmal muss man sich auch in den Graubereich wagen – wie Guy Kawasaki, der unter anderem 1984 für die Vermarktung des ersten Apple Macintosh verantwortlich war, sagt: »Eat like a bird, poop like an elephant.« Und es hat funktioniert, der Projektleiter von der Telekom war überzeugt. Anschließend haben wir dann die Funktionen sauber programmiert – und es lief.

Nach der Schulzeit habe ich dann für Chips at Work ganz viel programmiert: Multimedia-CD-ROMs, Computer-Telefonie-Integration und andere wirklich moderne und herausfordernde Technologien. Und alles hat damit angefangen, dass Martin an mich geglaubt hat, mir an meinem ersten Tag ein dickes Buch über Visual Basic 3.0 Pro und zwölf Disketten in die Hand gedrückt und mir wirklich böse Fehler verziehen hat. Er hat die Begeisterung gespürt, das war ihm wichtiger als ein eindrucksvoller Lebenslauf. Zu ihm habe ich heute noch Kontakt.

Danke, Martin!

Frank Thelen – Die Autobiografie

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