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12.
Venedig, 08. Dezember 1718

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Die Stimmen waren so laut, dass es Luca nicht gelang, sie zu ignorieren – auch wenn er das wahrlich gern getan hätte. Nicht das erste Mal lagen sich Raffaele und Stefano in den Haaren.

»Du kannst doch nicht nach deinem eigenen Gutdünken durch diese Stadt laufen und Menschen töten! Bist du wahnsinnig? Hast du gar nichts begriffen?«

»Mit welchem Recht wirfst du mir vor, wahllos zu töten? Ja, gut. Ich töte. Doch die, welche durch meine Hand sterben, sind Kreaturen, die ihr Leben verwirkt haben. Mörder, brutale Folterknechte, unter deren Hand unzählige Unschuldige ihr Leben verloren. Ja, selbst Kinderschänder sind unter ihnen. Das nennst du wahllos zu töten?« Stefanos tiefe Stimme dröhnte regelrecht durch den Palazzo.

»Stefano, ich bitte dich! Du kannst dich nicht zum Richter über Gut und Böse erheben. Ich leugne ja nicht, dass sie den Tod verdient haben. Dennoch unterstehen sie der menschlichen Gerichtsbarkeit.«

»Aber natürlich!« Stefanos Stimme war gefährlich leise geworden. »Welch interessante Aussage. Und wann, bitte, werden diese Verbrecher tatsächlich gerichtet? Sie kaufen sich frei mit Geld, wenn sie aus der Adelsschicht kommen oder entziehen sich dem Gesetz durch Flucht. Das bedeutet, dass sie niemals gerichtet werden. Ich kann es aber nun einmal fühlen, wenn mir solch ein verdorbenes Individuum gegenüber steht. Es war dein Blut, lieber Raffaele, das mir diese Fähigkeit verlieh. Es verlieh mir auch die Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Oh, ich sehe, erneut erstaune ich dich. Verlangst du etwa von mir, wenn ich erkenne, dass so ein Schwein seinen nächsten Mord, seinen nächsten Verrat oder seine nächste Vergewaltigung plant, dass ich ihm höflich die Hand schütteln und ihm Glück wünschen soll? Niemals!«

»Es war schon immer ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir keine Menschen töten!«

»Verdammt noch mal! Ungeschrieben, eben! Zeig mir die alten Schriften, in denen diese Gesetze niedergeschrieben sind. Los, zeig sie mir und ich werde versuchen, sie zu respektieren. Doch ich bin ein Geschöpf mit einem freien Willen, und daher nehme ich mir die Freiheit heraus, eigenständig zu denken. Ich habe sehr wohl ein Bewusstsein für Recht und Unrecht, selbst wenn du immer versuchst, mir das abzusprechen.«

»Ich spreche es dir nicht ab. Ich versuche lediglich dir zu vermitteln, dass wir uns alle an alte Regeln zu halten haben, ansonsten wird unsere Welt irgendwann in sich zusammenstürzen, warum willst du das nicht verstehen?«

»Nein, Raffaele! Du bist es, der nicht versteht, und darum gehe ich jetzt. Wer weiß, vielleicht treffe ich ja auch in dieser Nacht wieder auf einen Mörder oder einen, der gerade einer hilflosen Frau Gewalt angetan hat, weil er es sich leisten kann und alle anderen für ihr Schweigen gut bezahlt. Ich aber bin nicht käuflich!«

Die nur angelehnte Tür zu Raffaeles Heiligtum, seiner Bibliothek, wurde ungestüm aufgerissen und Stefano stürmte wutschnaubend heraus. Luca wollte ihn aufhalten, doch der aufgebrachte Vampir raste an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.

»Luca, lass ihn. Das hat keinen Sinn.« Raffaele klang so resigniert wie noch nie zuvor in seinem Leben.

»Du bist zu hart zu ihm. Seine Worte haben durchaus viel Wahres und Stefanos Sinn für Gerechtigkeit ist ausgesprochen stark ausgeprägt.«

»Ich weiß das. Genau das lässt mich langsam verzweifeln. Er hat exzellente Grundlagen und ist hochintelligent. Aber er lässt sich von niemandem kontrollieren, er akzeptiert keine Führung.«

»Dass das nicht ganz richtig ist, müsstest du in dem Augenblick zugeben, in dem du anerkennst, dass er nur seinem ureigenen Instinkt folgt, der ihn bis heute keine tatsächliche Verfehlung hat begehen lassen. Er unterwirft sich allem, was in seinen Augen Sinn ergibt.«

»Muss ich ausgerechnet dir, einem Hüter, erklären, dass das nun einmal nicht ausreichend ist? Ich weiß selbst, dass nicht alles einen Sinn ergibt, und dennoch wurden die Regeln nun einmal gemacht, damit eine Gesellschaft funktioniert. Sei es die der Menschen oder die unsrige. Wir müssen deshalb ab und an Dinge tun, die uns nicht vernünftig erscheinen.« Raffaele vergrub sein Gesicht in Händen und schwieg eine Weile. Erst als er seine Arme wieder sinken ließ, erkannte Luca, wie blass und müde der weise Älteste aussah.

»Raffaele, du solltest ihm die Zügel ein wenig lockerer lassen. Ich wage zu behaupten, dass er zum Teil bessere Grundlagen hat, als ich sie hatte, oder Angel. Etwas sagt mir, dass sein Geist es nicht erträgt, in enge Schranken gewiesen zu werden.«

»Die Zügel locker lassen? Du hast leicht reden, Luca. Du bist es nicht, der sich irgendwann die Frage von den Fürsten und von Xerxes gefallen lassen muss, warum es mir nicht gelang, eine durch ihn ausgelöste Katastrophe zu vermeiden.«

Luca wehrte energisch ab, als Raffaele von ihrem Oberhaupt zu sprechen begann. »So weit wird es nie kommen. Auch ich habe einige Fähigkeiten und eine davon ist, Unheil zu ahnen. Zwar sehe ich bei Stefano bergeweise Probleme, jedoch nie ein echtes Unheil. Gib ihm doch eine Chance, Raffaele, ich bitte dich.«

In Raffaeles Augen lag der Ausdruck von Hoffnungslosigkeit. »Wie viele denn noch, Luca?«

Geschenk der Nacht

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