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Toledo, 10. Mai 1719

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Es amüsierte ihn, dass ausgerechnet ein Kirchturm ihm als rettender Unterschlupf für den Tag diente. Die Glocken waren noch nicht aufgehängt und so drohte ihm keinerlei Gefahr, entdeckt zu werden. Weit und breit spürte er keine Menschenseele. Gut so! Derzeit war es meist nicht angeraten, seine Wege zu kreuzen. Dieses Leben kotzte ihn an. Wenn er sich zurückerinnerte an die ersten Tage oder Wochen seines Daseins als Vampir, so wallte sofort die tiefe Enttäuschung über diejenigen in ihm hoch, die ihn zuerst in dieses Leben gestoßen und ihn dann in den Abgrund hatten fallen lassen. Er fand keinen Schlaf mehr. Zwei, allerhöchstens drei Stunden pro Tag gelang es ihm, die Augen zu schließen. Seit er Venedig verlassen hatte, zog er rastlos durch die Lande. Spanien gefiel ihm, es erinnerte ihn an Neapel. Es war warm, die Luft duftete nach Blumen und Kräutern und die Menschen waren fröhlich. Stefano lehnte den Kopf an das kühle Mauerwerk. Fröhlichkeit! Er lachte bitter auf. Wann war er das letzte Mal fröhlich gewesen? Gemeinsam mit Luca, als sie die ersten Male durch die nächtliche Lagunenstadt gezogen waren und Luca ihm bei der »Jagd« zur Seite gestanden hatte. Die Diskussionen, wer sich gut anbot und wer sich als willig erweisen würde, hatten nicht einer gewissen Komik entbehrt. Ja, Luca fehlte ihm. Zu jener Zeit war seine Hoffnung auch gewesen, die anderen kennenzulernen. Vittorio, den Anführer der Raben Kastiliens, wie die Kinder der Dunkelheit in Spanien genannt wurden, oder den spanischen Hüter Angel. Doch Raffaele hatte alles zunichte gemacht. Gefangen in alten Denkstrukturen, war seine Weigerung, ihm auch nur einen Schritt entgegen zu kommen, Stefanos Ausschluss aus den Reihen der Kinder der Dunkelheit gleichgekommen. Er war wütend, so sehr wütend. Von Tag zu Tag verzweifelte er mehr an diesem verwünschten Leben. Müde schloss Stefano die Augen. Wer konnte es schon sagen, möglicherweise würde ihm seine Lebensweise demnächst ein Treffen mit den Hütern bescheren – dann aber wohl anders, als er es sich erhoffte. Er zog eine wütende Grimasse. Die Toten, die mittlerweile seinen Weg säumten, waren zahlreich, und doch waren es samt und sonders wertlose Kreaturen gewesen, die ihren Tod wahrlich verdient hatten. Er wollte vergessen, doch selbst als er damit begonnen hatte, mit Wein zu experimentieren, hatte das nicht zu dem erhofften Ergebnis geführt. Die Schankmaid in der kleinen Taverne konnte von Glück sagen, dass er sich im allerletzten Moment in den Griff bekommen hatte. Um ein Haar hätte er sie getötet, gefangen in einer Mischung aus Blutrausch, Zorn und Leidenschaft, die Sinne vernebelt durch den unerwarteten Einfluss des Weines. Erst als sie in seinen Armen schlaff geworden war, war er zu sich gekommen. Sein Blut hatte ihr geholfen, sich rasch zu erholen, und doch nagte das Schuldgefühl an ihm. Der Wunsch danach, für eine Weile aus der Realität zu verschwinden, war stärker gewesen als alle Vernunft. So trank er nun, wenn er fern der Menschen war. Wenn er dann, auf Klippen am Meer oder in Wäldern verborgen, die Kontrolle über sich verlor, schadete das niemandem. Er konnte nur hoffen, dass nicht eines Tages ein harmloser Wanderer seine Wege kreuzen würde. Es könnte übel für ihn enden – allerdings vor allem für den Fremden.

Durch einen winzigen Mauerspalt spähte er hinaus ins Sonnenlicht. Seit drei Tagen war er in Toledo, und er forderte sein Schicksal heraus. Schon in der vorletzten Nacht hatten zwei Mörder ihr Leben ausgehaucht, selbst ihr Blut hatte miserabel geschmeckt. Er wollte, dass sie ihn fanden. Vittorio musste hier irgendwo sein, denn die Rabenburg war, soweit er das wusste, nicht fern und sie war noch immer das Hauptdomizil der Raben Kastiliens. Er ließ alle Schutzvorkehrungen fallen. Wenn der Älteste auch nur annähernd die Fähigkeiten besaß, die man ihm zuschrieb, dann musste er ihn finden. Er oder der Hüter, es war ihm egal, nur gefunden wollte er werden, ob es gut oder schlecht für ihn ausgehen würde, war ihm denkbar egal. Direkt an die Pforte der Rabenburg zu klopfen, das wagte er nicht. Wer konnte wissen, was Raffaele den anderen berichtet hatte? Stefano stieß ein leises Seufzen aus und sein Blick huschte unweigerlich zu der Rotweinflasche, die ihm gegenüber stand. Es kostete ihn enorme Überwindung, doch hier befanden sich zu viele unschuldige Menschen und er wollte Herr seiner Sinne sein, wenn er tatsächlich den Raben gegenübertreten würde.

Geschenk der Nacht

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