Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 32
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»Die Geschichte meiner Art geht an die zwei Jahrtausende zurück bis zum Hof des Persischen Großkönigs Dareios. Er war ein fortschrittlicher und kluger Herrscher und hatte die besten Kunsthandwerker, Gelehrte und Heiler der damals bekannten Welt um sich geschart. Eines Tages erkrankte eines seiner geliebten Kinder lebensgefährlich. Einer seiner engsten Vertrauten bat ihn dazu um ein Gespräch, welches der König ihm gewährte. So erfuhr er von der heilenden Kraft des Blutes der Kinder der Dunkelheit. Diese waren als Handwerker, die unter anderem den unglaublich prunkvollen Herrscherpalast mit erbauten, sowie als Gelehrte und als frühe Ärzte nach Persepolis gekommen.
Unsere Ahnen, eben jene Kinder der Dunkelheit, schützten sich vor der Sonne, die sie nicht vertrugen, auch aßen sie nur äußerst selten. Ihr Organismus benötigte Blut, dies war ihre Nahrung! Doch sie töteten nicht. Sie tranken von Menschen, denen dabei nichts geschah, die sich nachher sogar an ein übermächtiges Glücksgefühl erinnerten. Mit ihrem Blut und einem enormen Wissen über den menschlichen Körper vollbrachten die Kinder der Dunkelheit Heilungen, die ansonsten nie möglich gewesen wären. Nur weil sie unendliches Vertrauen zu Dareios hatten, offenbarten sie sich ihm.
Dareios zögerte nicht. Er bat darum, sein Kind zu heilen – koste es, was es wolle – und wollte dabei zusehen. Das kleine Mädchen wurde geholt und von meinen Vorfahren in Trance versetzt. Dann öffnete sich der älteste Heiler die Pulsader und gab dem Kind, das schon fast zu schwach war, um Nahrung aufzunehmen, davon zu trinken. Und tatsächlich kehrte Leben in das Kind zurück. Als der Heiler seinen Arm schließlich zurückzog, bettelte es sogar darum, noch einen weiteren Schluck trinken zu dürfen. Die Bitte der Kleinen wurde gewährt, und als sie danach ihrem Vater um den Hals fiel, lächelte Dareios. Er hielt sein Kind im Arm und sprach zu meinen Vorfahren: ›Ihr habt mir mein Kind wiedergegeben! Nun gebe ich euch, was immer ihr verlangt!‹
Schon zuvor waren die Kinder der Dunkelheit dank ihrer Fähigkeiten angesehen gewesen, doch seit jenem Tag wurde ihnen jeder Wunsch gewährt. Sie waren wie Mitglieder der Königlichen Familie. Das sahen viele Höflinge nicht gern und versuchten, sie loszuwerden. Man stelle sich vor, wie es sich angefühlt haben muss, wenn die Meuchelmörder in der Nacht auf einen von ihnen einstachen und ihn verblutend liegen ließen, nur um ihn in der folgenden Nacht quicklebendig, höchst verärgert und voll übermenschlicher Kraft erneut vor sich zu sehen! Es gab in Dareios’ Reich sogenannte Blutsklaven für unsere Ahnen. Jeder, der dies einmal war, wollte diese Stellung nie wieder aufgeben. Sie waren wohl die glücklichsten Sklaven der Geschichte, wurden nie krank und alterten kaum. Diese Gunst wurde ihnen dank unseres Blutes zuteil, von dem sie regelmäßig kleine Mengen erhielten, denn wir, die Kinder der Dunkelheit – und das ist jetzt ein für dich sehr wichtiger Teil dieser Geschichte – sind unsterblich!
Als Dank für seine Gunst bekamen Dareios und seine Familie ebenfalls regelmäßig etwas Blut. Er trotzte damit feigen Giftanschlägen, seine Familie war kerngesund und alterte nur sehr, sehr langsam. Erst Alexander dem Großen, dem wahnsinnigen Mazedonier, gelang es, einen Keil zwischen die Kinder der Dunkelheit und die Königsfamilie zu treiben. Unsere Ahnen hatten Dareios einst vor Alexander gewarnt. Er jedoch sah in einem Kampf gegen Alexander die einzigartige Möglichkeit, sein Reich noch weiter zu vergrößern. Als er viel zu spät seinen fatalen Irrtum erkannte, als er von Alexanders Kavallerie überrannt wurde, hatten meine Ahnen sich bereits zurückgezogen. Allerdings nicht, ohne Alexander und seinen Heerführern noch ein paar kleine ›Gastgeschenke‹ mit auf den Weg zu geben.
Wir vertragen keine Sonne, wir vertragen es nicht, normal zu essen. Wir können Speisen nur sehr langsam verarbeiten. Sagen wir, ein Stück Brot und eine Frucht brauchen in unseren Mägen bis zu zwei Wochen, um restlos verdaut zu sein. In der prallen Sonne bekämen wir Blasen auf der Haut, Ausschläge würden unsere Körper verunstalten und wir würden zuletzt unter großen Schmerzen verbrennen. Lediglich die Morgen- und Abenddämmerung sind unserer Haut gerade noch zumutbar.
Alexander und seine Soldaten waren ungezügelte Trinker und viele von ihnen fühlten sich auch zu Männern hingezogen. Das nutzten unsere Vorfahren aus, sie waren durchwegs ausgesprochen schöne Wesen und das konnte auch Alexanders Männern nicht entgehen. In einer einzigen Nacht wurde bei fast seinem ganzen Heeresstab ein Blutaustausch vorgenommen. Sie wurden danach im Laufe von nur wenigen Stunden zu unseresgleichen, dummerweise ohne zu verstehen, was mit ihnen geschah. Sie hatten schwere Krankheitssymptome und vertrugen ihre Nahrung nicht mehr. Für sie fühlte es sich an, als seien sie vergiftet worden. Nahrung und Wein faulten in ihren Körpern. Ihre Haut war von Geschwüren überzogen. Sie sahen bald nicht mehr gut aus. Eigentlich wären sie alle damals unsterblich gewesen, genau das, was Alexander der Große sich so fanatisch gewünscht hatte. Aber sie erkannten es nicht, sie trieben ihr ungezügeltes Leben weiter und gingen daran zugrunde. Die Rache unseres Volkes war erfolgreich.
Die Kinder der Dunkelheit haben sich vom alten Persien aus im Laufe der Jahrhunderte nach überallhin zerstreut. Bis zum heutigen Tag existieren wir, verlieben uns, zeugen Kinder und möchten in Frieden das Leben genießen. Wir können viele Dinge, die den sterblichen Menschen auf ewig verwehrt bleiben werden.«
Raffaele lächelte still in sich hinein, lehnte sich zurück in den kühlen Sand und blickte hinauf zum Sternenhimmel, während Mohammed verzweifelt versuchte, das soeben Gehörte zu verarbeiten. Nach einer kleinen Ewigkeit gelang es ihm, seine Gedanken in Worte zu fassen.
»So wie deine Ahnen damals das kleine Kind gerettet haben, wurde so auch ich jetzt gerettet? Bin ich darum noch am Leben?«
Raffaele setzte sich mit einer eleganten Bewegung wieder auf und sah ihn fast schon liebevoll an. »Nicht ganz, mein Junge. Das Kind hat nur wenig Blut erhalten, es war noch immer ein normaler Mensch. Du aber hingst schwer verwundet und fast gänzlich ausgeblutet am Kreuz. Ich habe dich gerettet, weil ich erkannte, dass deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist. In dir brannte ein starker Funke, der nicht vergehen wollte. Deine Pein, deine Schreie gingen mir durch Mark und Bein, doch ich war zu weit weg, um dir schneller zu Hilfe eilen zu können. Meine Angst war deshalb, dass ich es nicht mehr zur rechten Zeit schaffen würde. Denn Tote zurückzuholen, ist uns nicht möglich. Du hast noch geatmet, hattest aber nur noch so wenig menschliches Blut in dir, dass es uns einige Anstrengungen kostete, das Leben in dich zurückzubringen.«
»Uns?« Mohammed sah sich beunruhigt um.
»Mein alter Freund Vittorio ist derzeit in Granada, um zu sehen, was dort vor sich geht. Er wird vor Sonnenaufgang wieder hier sein und sich bestimmt freuen, dich endlich bei Bewusstsein zu erleben. Er hat sich große Sorgen gemacht, dass deine Verletzungen doch zu schwer gewesen sein könnten.«
Mohammed versuchte, seine wirren Gedanken und all die Fragen, die durch seinen Kopf gingen, einigermaßen vernünftig zu sortieren. »Bedeutet das, dass ich jetzt ein Kind der Dunkelheit bin, dass ich nie wieder das Sonnenlicht werde sehen können?«
Raffaele zog eine leichte Grimasse. »Das klingt reichlich dramatisch, wenn du es so formulierst. Aber ja, du bist nun ein Kind der Dunkelheit und nein, ein Tag an der Sonne wäre nicht mehr gut für dich. Wenn du jedoch am frühen Morgen den Sonnenaufgang beobachtest, dann fügt dir das keinen Schaden zu, danach allerdings würde ich mich, wäre ich du, sehr schnell in geschützte Räume begeben. Ebenso kannst du dich in der Abenddämmerung hinauswagen.«
»Ich habe die Sonne immer so sehr geliebt und nun soll ich sie nie mehr sehen?«
Raffaele seufzte. »Wie ich bereits sagte, du siehst das zu dramatisch. Die Nacht hat unglaublich viel Schönes zu bieten. Der Mond ist unsere Sonne, sein Schein erleuchtet zuverlässig unser Leben. Du wirst lernen, das Silberlicht des Mondes zu lieben, so wie einst die Sonne. Vertrau mir, mein Junge.«
»Wie lange war ich denn ohne Bewusstsein und wie habt ihr mich hierhergebracht? Es ist ein langer Weg von Granada bis zu dieser Küste, ich bin ihn oft genug geritten. Wo ist dein Pferd?«
Raffaele zeigte in unbestimmte Ferne. »Dort, in ungefähr zwanzig Kilometern Entfernung, sind unsere Pferde. Sehr schöne im Übrigen, aber mit schönen Pferden kennst du dich aus. Ich habe gehört, dass dein Vater wundervolle Tiere züchtete, Mohammed al Hassarin. Wir wissen natürlich, wer du bist, und Vittorio versucht gerade, mehr über diese ganze Geschichte herauszufinden.«
»Wie habt ihr mich denn nun hierhergebracht, die ganze Strecke?«
»Ich habe dich getragen, das war nicht weiter schwer. Dann warst du vier Tage ohne Bewusstsein.«
Mohammed war überrascht. »Vier Tage? In dieser Zeit kann vieles geschehen sein. Was ist mit meiner Familie? Hat Ricardo sie wirklich alle umgebracht?«
Raffaeles Nicken erstickte seine zaghafte Hoffnung im Keim. »Ja, das hat er. Niemand hat überlebt.«
Mohammed schwieg, aber er spürte, wie der Funke in ihm hell aufloderte.
Raffaele erhob sich. »Komm mit zu unserem schlichten Domizil. Bald geht die Sonne auf.«
Mohammed wollte aufstehen, doch Raffaele war schneller. Er hob Mohammed trotz dessen fast zwei Metern Größe so leicht hoch, als sei er ein kleines Kind. Allmählich begann Mohammed zu begreifen, von welchen Fähigkeiten sein Retter gesprochen hatte. Raffaele trug ihn ein kurzes Stück zu einem verborgenen Höhleneingang. Die Höhle war mit weichen Fellen und Decken ausgelegt und mit kostbaren Kissen bestückt, auf denen Raffaele ihn vorsichtig absetzte.
»Ihr lebt hier gar nicht schlecht. Ein angenehmes Heim, dafür, dass es eine Höhle ist.«
Raffaele lachte leise. »Warte ab, bis du eines meiner echten Häuser besuchst. Die Höhle habe ich gewählt, weil wir hier Ruhe haben und du die frische Meeresluft atmen kannst, die du dringend nötig hast.« Er griff nach einer weichen Decke und breitete sie über Mohammeds Körper. »Ist es warm genug für dich? Verspürst du Hunger oder hast du noch Schmerzen?«
Mohammed lauschte in sein Innerstes und fand keine Spur von Schmerz, im Gegenteil, bis auf eine tiefe Müdigkeit fühlte er sich fabelhaft. Plötzlich jedoch schlichen sich die letzten Bilder seines alten Lebens wieder in sein Bewusstsein und er erschrak heftig. Vorsichtig hob er die Hände an sein Gesicht und betastete es ängstlich. Seine Hände fanden aber nur glatte, unversehrte Haut und er ließ sie erleichtert wieder sinken.
Raffaele hatte ihn beobachtet und wirkte amüsiert. »Keine Sorge, du hast keine Narben. Alles ist nahtlos verheilt. Allerdings haben die tiefen Schnitte zwei Tage gebraucht, bis sie sich schlossen und auflösten. Ricardo und seine Männer haben ganze Arbeit geleistet.«
Mohammed war zutiefst verwundert. »Wie können Wunden, so wie ich sie hatte, einfach verschwinden, ohne eine Narbe zu hinterlassen?«
Raffaele grinste. »Das ist eines der vielen guten Dinge, die unser Blut bewirken kann. Es heilt nicht nur Wunden, es lässt auch Narben verblassen und schließlich gänzlich verschwinden.«
Noch immer zutiefst verunsichert, aber durch die Freundlichkeit und die Offenheit Raffaeles etwas gefestigter, wagte Mohammed, seinem Retter eine weitere Frage zu stellen.
»Raffaele, warum vermeidest du es, meinen Namen auszusprechen? Ich möchte darum bitten, dass du es tust.«
Raffaele schwieg länger als sonst, ehe er, offenbar nach den richtigen Worten suchend, antwortete. »Es gibt gute Gründe, warum ich das nicht tue. Du bist hier an diesem Strand heute Nacht in einem neuen Leben erwacht. Alles hat sich für dich geändert. Dein neues Leben anzunehmen, dazu gehört noch etwas sehr Wichtiges. Du musst deinen alten Namen ablegen, genauso, wie du dein altes Ich hinter dir lassen musst. Sobald du deine Kräfte wieder ganz zurückgewonnen hast, musst du mit einem neuen Namen in deine Zukunft gehen.«
Mohammed dachte über diese Worte lange nach, erst dann formulierte er seine nächste Frage: »Ist es immer notwendig, den Namen, der so lange das eigene Leben und Denken ausmachte, abzulegen und damit einen Teil von sich selbst aufzugeben?«
»Nein, nicht immer. Doch wenn das Ende des ersten Lebens in solch grausamer Weise herbeigeführt wurde, wie es bei dir der Fall war, dann ja. Du sollst, nein, du musst sogar vergessen. Nur dann kannst du dich der Zukunft auch wirklich öffnen. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche. Dein neuer Name öffnet die Tore zu einem neuen Leben. Was zuvor war, darf keine Bedeutung mehr haben.«
Wenn auch ungern, so musste Mohammed doch zugeben, dass Raffaele recht hatte. Seine Name würde ihn auf ewig an all das erinnern, was in der einen Nacht geschehen war. Aber nur noch die schöne Erinnerung, verbunden mit dem Gefühl der Liebe, sollte ihn fortan begleiten. Sein Name hatte darin keinen Platz mehr.
Er wurde durch einen erfreuten Ausruf aus seinen Grübeleien gerissen. »Endlich, da kommt Vittorio! Ich bin neugierig, was er zu berichten hat.«
Obwohl Mohammed noch immer recht müde und erschöpft war, wandte er doch voller Neugierde den Kopf zu dem Neuankömmling. Aus der langsam vom Schwarz der Nacht ins Grau des ersten trüben Morgens übergehenden Dunkelheit schälte sich eine große, schlanke Gestalt, die rasch über den Strand zur Höhle kam.
Vittorio war, ebenso wie Raffaele, eine höchst eindrucksvolle Erscheinung. Dichtes schwarzes Haar, nur von wenigen silbergrauen Strähnen durchzogen, fiel auch ihm bis über die Schultern. Sein kantiges Gesicht wurde von hellgrauen Augen dominiert, die sich sofort voller Sorge auf Mohammed richteten. Sein kurz gestutzter schwarzer Bart erinnerte an einen spanischen Granden, doch ohne die Überheblichkeit auszustrahlen, mit welcher diese Herren zumeist in übergroßem Ausmaß gesegnet waren. Das hatte Vittorio nicht nötig. Ihn umgab eine natürliche Aura, die ohne irgendwelches Zutun jedem, der ihm gegenübertrat, Anerkennung und Respekt abverlangte. Er trug einen Mantel aus schwarz glänzendem Leder, der besetzt war mit großen silbernen Knöpfen und der leise knirschte, als er Raffaele freundschaftlich umarmte.
»Vittorio, mein Freund, du warst lange unterwegs. Hast du Neuigkeiten für uns? Aber komm doch zuerst herein, die Sonne geht bald auf.«
»Nein, lass uns auf den Sonnenaufgang warten. Tu mir den Gefallen, ein Hauch Helligkeit in all dem Dunkel kann im Moment nicht schaden.«
Angesichts dieser Aussage verdüsterte sich Raffaeles Gesicht merklich, doch er bemühte sich, fröhlich zu klingen. »Vittorio, sieh doch, es gibt hier gute Neuigkeiten. Unser junger Freund ist endlich erwacht und soweit er es selbst einschätzen kann, fühlt er sich gut.«
»Das ist mir nicht entgangen.« Vittorio trat an Mohammeds Lager und ging langsam in die Knie, wobei Mohammed nicht umhinkam, die kniehohen schwarzen Lederstiefel mit dem kunstvoll gearbeiteten Silberbesatz zu bestaunen.
Vittorio griff ohne Umschweife nach Mohammeds Hand. »Junge, du glaubst nicht, wie schön es ist, dich endlich bei Bewusstsein zu erleben! Ah, und lächeln kannst du auch wieder, sehr gut, das ist hervorragend, das freut mich wirklich.«
Angesichts eines solchen Willkommens, konnte Mohammed gar nicht anders, als Vittorio anzulächeln.
»Vielen Dank. Ich habe gehört, dass Ihr dazu beigetragen habt, mein Leben zu retten. Ich möchte Euch dafür danken, wie schon Raffaele. Noch rasen unzählige Fragen in meinem Kopf herum, doch ich hoffe, das mit Eurer Hilfe vernünftig in den Griff zu bekommen. Aber Ihr wart unterwegs, um Neues herauszufinden. Konntet Ihr etwas über meine Familie in Erfahrung bringen? Ist denn nicht vielleicht doch ein Wunder geschehen und es mussten nicht alle sterben?« Mohammed sah Vittorio so flehend an, dass dieser kurz den Blick abwandte.
»So gern ich dir gute Nachrichten bringen würde, mein Junge, ich kann es nicht. In jener Nacht mussten tatsächlich alle Mitglieder deiner Familie ihr Leben lassen. Ricardo macht keine halben Sachen. Ich kenne jetzt zwar alle Einzelheiten, aber ich möchte, dass du stabiler und kräftiger bist, bevor ich dir das alles erzähle. Du solltest jetzt erst einmal schlafen, du siehst müde aus, was nicht weiter verwunderlich ist. Je schneller du wieder ganz hergestellt bist und je gewandter du deine neuen Fähigkeiten einzusetzen lernst, desto besser für dich. Warte kurz.«
Als Vittorio sich erhob, traf sein Blick den von Raffaele. Daraufhin hob Vittorio leicht die Hand und schüttelte fast unmerklich den Kopf, bevor er zum hinteren Teil der Höhle ging. Raffaele folgte ihm, sein Rücken verdeckte die weitere Sicht.
Mohammed ahnte trotzdem, dass es keine guten Gedanken waren, die seinem Retter gerade durch den Kopf gingen, denn seine Hände waren zu Fäusten geballt und es schien, als müsse er ungeheure Kraft aufwenden, sich selbst im Zaum zu halten. Nur wenige Augenblicke später hatte Raffaele seine Gefühle wohl wieder im Griff, denn er entspannte sich sichtlich und die beiden kamen zurück zu Mohammeds Lager.
Raffaele entzündete wortlos in einer großen eisernen Schale ein Feuer. Kurz darauf erhellten fröhlich flackernde Flammen die Höhle und Mohammed genoss die angenehme Wärme, die von ihnen ausging.
Vittorio schüttelte die Flüssigkeit in einer Flasche aus dunklem Glas und setzte sich neben Mohammed. »Trink das. Je schneller du all das, was geschehen ist, hinter dir lassen kannst, desto besser. Das hier wird dir dabei helfen.«
Mohammed blickte zweifelnd auf die Flasche, die Vittorio ihm hinhielt. Sein Blick wanderte fragend zwischen beiden Männern hin und her. Ein leises Lächeln huschte über Vittorios Gesicht.
»Nun frag schon, ich kann deine Frage ja buchstäblich von deiner Stirn ablesen!«
»Raffaele erzählte mir die Geschichte der Kinder der Dunkelheit. Wenn auch ich jetzt so bin wie ihr, dann frage ich mich, was in dieser Flasche sein mag.«
Nun musste Vittorio wirklich lachen. »Verständlich, aber glaub mir, das legt sich mit der Zeit. Hier in dieser Flasche ist reines Wasser, vermischt mit einem Heilmittel, das du jetzt dringend benötigst.«
»Wasser? Aber kann ich denn noch normales Wasser zu mir nehmen?« Mohammed umging den Teil der Frage, der ihm wirklich auf den Lippen lag.
»Ja, gewiss. Klares Wasser ist gut verträglich für dich, vor allem jetzt, da dein Körper sich wieder aufbaut und Flüssigkeit benötigt, um sich zu regenerieren.«
Mohammed hätte jetzt eigentlich nach dem Heilmittel fragen müssen, doch wenn er ehrlich zu sich war, dann wollte er das gar nicht wissen. Er war müde und die heftige Reaktion Raffaeles hatte ihn noch mehr irritiert, als er ohnehin schon gewesen war. Daher unterließ er es und hob die Flasche an die Lippen.
Womit auch immer das Wasser versetzt war, es schmeckte köstlich. Er hatte etwas Bitteres oder gar einen ekelerregenden Geschmack erwartet, da er ahnte, was er trank. Er leerte die Flasche fast gänzlich, legte sich dann zurück auf sein weiches Lager und zog die Decken über sich.