Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 38

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10.

Andro war wütend. Der zweite Tag, den er sich jetzt um die Ohren schlagen musste, ohne auch nur eine Stunde zu schlafen! Als ob jemand ein Interesse daran hätte, augenscheinlich harmlose Reisende in einer Herberge zu überfallen. Noch dazu in einer solch edlen Unterkunft, wie man sie am Hafen von Malaga eigentlich gar nicht erwartete. Doch sein Herr hatte ein Händchen für das Gute und Teure und so waren sie nun seit drei Tagen und Nächten hier. Statt sich die Stadt ansehen zu können, bewachte er seit vielen Stunden die Zimmer seines Herrn und dessen Sohnes.

Nein, er durfte nicht ungerecht sein, er sollte ja auch noch ein Auge auf die beiden Schiffe haben, die dort draußen vor Anker lagen. Die große Reina Isabella und die etwas kleinere El Águila dümpelten schon seit sie hier angekommen waren im Hafen vor sich hin. Der Herr wollte wissen, ob und wann eine größere Reisegruppe mit einer ausnehmend schönen Frau und zwei kleinen Jungen an Bord eines der beiden Schiffe gehen würde. Andro verstand nicht, warum er nicht einfach dort auf den Schiffen nachfragte, doch er wagte nicht, seine Gedanken laut zu äußern. Er kannte den Jähzorn seines Herrn nur zu gut.

Also schwieg er, beobachtete weiter die beiden Schiffe und achtete darauf, dass tagsüber niemand auch nur in die Nähe der beiden Zimmer kam. Wobei, das war immer noch besser als das, wozu man Lysander auserkoren hatte. Der musste jetzt seit drei Tagen sämtliche Zufahrtswege nach Malaga im Blick behalten – und zwar Tag und Nacht. Wahrscheinlich war er kurz davor, zusammenzubrechen, also war es wohl immer noch besser, hier dumm herumzusitzen und die Schlafenden zu bewachen. Es war sicher besser, sein Herr schlief, als dass er wach wäre. Er schien in einer Weise angespannt, dass man am besten gar nichts mehr sagte und möglichst nicht auffiel.

Andro verlagerte sein Gewicht und versuchte, eine bequemere Sitzposition einzunehmen. Als ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen, schreckte er hoch. Suchend glitt sein Blick über die beiden Karavellen draußen im Meer, doch dort hatte sich nichts getan. Dafür durfte er den dritten Sonnenuntergang in Folge sehen, nur konnte er ihm nichts mehr abgewinnen. Es galt, die Ruhe noch zu genießen, bald würde sein Herr erwachen und dann war es für die nächsten Stunden vorbei mit Sorglosigkeit und Frieden. Andro streckte seine müden Gliedmaßen und harrte ein wenig angespannt der Dinge, die da kommen sollten.

»Komm, mein Freund, wir brechen auf! Es ist an der Zeit, diesem Land eine Weile den Rücken zu kehren.« Raffaele schüttelte ihn sanft und Mohammed erwachte aus einem tiefen, erholsamen Schlaf.

Soeben war die Sonne im Meer versunken und hatte noch etwas von ihrer Wärme und ihrem goldenen Schein für sie zurückgelassen. Mohammed genoss den Anblick sehr und ein Seitenblick auf Vittorio zeigte ihm, dass es dem Freund nicht anders erging. Doch Raffaele drängte zur Eile und, ehrlich gesagt, war das Mohammed nur allzu recht. Jetzt Abstand zu gewinnen, würde ihm gut tun. Auch die Tatsache, dass er seit letzter Nacht ziemlich wohlhabend war, trug sicherlich dazu bei, dass er dem Abenteuer, in ein fremdes Land zu reisen, doch recht entspannt entgegensah.

Das Erbe seines Vaters aus dem Geheimversteck hatte er zur Hälfte gut verpackt, in seinem Reisegepäck verstaut. Vittorio, der sie nicht begleiten würde, wollte den anderen Teil gut verwahren und Mohammed vertraute ihm hier gänzlich.

Als zwei große, dunkle Männer vor der Höhle auftauchten, war Mohammed nur kurz beunruhigt, bis Vittorio auf sie zueilte und sie mit Fragen überschüttete. Der Jüngere von beiden, der von Vittorio als »El Cazador«, Jäger, vorgestellt wurde, war schweigsam, aber freundlich. Er lächelte Mohammed kurz zu und streckte ihm die Hand entgegen. Seine dunkelbraunen Augen ruhten eine kleine Weile neugierig auf dem neuen Mitglied der »Familie«, dann wandte er sich an Vittorio.

»Sie sind gestern in Malaga eingetroffen, den Tag haben sie im Haus von Freunden verbracht. Das Schiff wartet bereits seit vier Tagen im Hafen, wir haben dort auch die Reina Isabella vor Anker liegen. Sollte jemand herausfinden wollen, auf welchem Schiff sie sind, so haben wir eine Charade eingeplant. Wir haben zahlenmäßig und in etwa der Statur die gleiche Gruppe nochmals zusammengestellt. Diese wird an Bord der Reina Isabella gehen. Samira und ihre Familie werden, wie auch ihr, mit der El Águila fahren.«

El Cazador strich sich die wild vom Kopf abstehenden Locken aus der Stirn, was nicht zu nennenswertem Erfolg führte, sodass er ein großes schwarzes Tuch aus der Tasche zog und sich damit seine störrische Mähne kurzerhand zurückband. Raffaeles Grinsen kommentierte er mit den Worten: »Im Gegensatz zu anderen sehe ich gern, wohin ich gehe.« Ein kurzer Seitenhieb auf Raffaeles silbergraue Haarflut, die ihm ungebändigt über die Schultern wallte und ihm immer wieder in die Stirn fiel.

Der mahnte jetzt zur Eile. »Los, wir müssen aufs Schiff! Bis Sonnenaufgang möchte ich weit weg von diesen Ufern sein. Beeil dich, mein Freund.«

Mohammed sah sich kurz um, doch er hatte alles eingepackt. »Ich bin fertig. Viel zu packen hatte ich nicht.«

»Da könntest du dich täuschen.« El Cazador grinste und winkte den zweiten Mann herbei, der einen großen Seesack über der Schulter schleppte.

»Hier, Vittorio hat uns angewiesen, dir ein paar Kleidungsstücke zu besorgen. Wir haben kurzerhand ein paar Dinge zusammengepackt. Ich hoffe, wir haben deinen Geschmack getroffen.«

»Danke, Etna, gute Arbeit. Es ist sicherlich etwas dabei, was seinen Gefallen findet.« Vittorio nahm dem Mann mit der blonden Igelfrisur den Seesack ab und reichte diesen dann kommentarlos an Mohammed weiter.

»Danke, äh, Etna? Habe ich das richtig verstanden?«

Der Blonde lachte. »Ja, man nennt mich so, weil niemand wusste, wie ich wirklich hieß, als sie mich fanden. Und da ich jedes Mal so schnell hochgehe wie der Vulkan im fernen Sizilien, heiße ich eben jetzt Etna.«

»Männer! Ihr werdet noch genug Zeit finden, Händchen zu halten. Vorwärts, auf die Pferde! Wann wird Samira am Schiff sein?«

»Zwei Stunden vor Mitternacht, haben wir vereinbart. Sie wird auf euch warten. Wobei sie meinte: ›Raffaele kommt ja doch wieder zu spät!‹ – so was in der Art.« El Cazador grinste anzüglich, und fing sich einen giftigen Blick von Raffaele ein.

»Mohammed, verstau deine Sachen«, fuhr er fort, ohne darauf einzugehen. »Etna, du und dieses Lästermaul, ihr werdet uns begleiten. Vittorio, kommst du mit oder reitest du gleich zurück?«

»Ich begleite euch bis zum Hafen«, antwortete Vittorio, »von dort aus reite ich weiter nach Toledo.«

Gleich darauf ritten sie in gestrecktem Galopp nach Malaga und dort direkt hinunter zum Hafen. El Cazador und Etna übernahmen das Gepäck, um es umgehend und unauffällig auf die El Águila zu bringen.

Auf Mohammeds Frage, warum sie es derart eilig hätten, antwortete Raffaele: »Weil wir Samira keinerlei Gefahr aussetzen wollen und dürfen. Sie ist Abdallahs Tochter. Wenn ihr etwas passiert, erwürgt er uns eigenhändig und das willst du nicht. Warte, bis du ihn triffst.«

Der Hafen war auch in der Nacht voller Menschen und so konnten sie sich leicht unter die anderen Reisenden mischen, wobei Mohammed feststellte, dass die großen Kinder der Dunkelheit mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit es schwer haben sollten, nicht aufzufallen. Doch sie hatten gelernt, sich gewissermaßen zu tarnen, und er würde eines Tages darin so versiert sein wie sie.

Schließlich war alles vorbereitet und eine Gruppe von zwölf verhüllten Gestalten schickte sich an, an Bord der Reina Isabella zu gehen. Raffaele gesellte sich zu ihnen und reichte Mohammed einen Umhang. »Los, anziehen, gut einwickeln und Kapuze auf!« Dann wandte er sich an Vittorio und umarmte ihn herzlich. »Leb wohl, mein Freund, bis zu unserem nächsten Treffen, auf das ich mich schon heute freue. Hab Dank für alles.«

»Kein Grund, mir zu danken – unseren jungen Freund heute hier so lebendig zu sehen, macht mich genauso glücklich wie dich. Und du, Mohammed, wirst heute und hier zum ersten und letzten Mal deinen Namen aus meinem Mund hören. Wenn dieses Schiff abgelegt hat, dann wird Mohammed al Hassarin hier am Ufer zurückbleiben und mit ihm all die bösen Erinnerungen. Aber Luca de Marco wird auf jenem Schiff dort stehen und – so das Schicksal es will – in seine glückliche Zukunft segeln.«

Mit diesen Worten zog Vittorio ein Blatt Papier aus den Falten seines Umhangs und reichte es Mohammed. »Hier ist das Dokument, das dich als Luca de Marco ausweist. Du bist in Genua geboren, hast dann in Rom gelebt und jetzt mit deinem entfernten Verwandten hier eine Reise durch Spanien unternommen. Ihr seht euch noch ein wenig die Wüsten Tunesiens an, um dann zurück nach Italien zu reisen. Alles klar?«

Trotz seiner Verwirrung nickte Mohammed. »Ja, mehr oder weniger.«

»Achte darauf, dass dieser perfekte Fälscher da neben dir regelmäßig das Geburtsdatum ändert, sonst könnte es irgendwann eng werden.« Vittorio umarmte Mohammed lange und herzlich. »Wir sehen uns wieder, das kann ich dir versprechen.«

Kurz darauf betraten Mohammed und Raffaele, eingehüllt in ihre Umhänge, die El Águila, gemeinsam mit zehn anderen, die sich alle schnell unter Deck begaben. Nur eine kleinere schlanke Gestalt kam rasch auf Raffaele zu, zog die Kapuze ein wenig zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.

»Pünktlich! Das erste Mal in zweihundertvierzig Jahren! Du wirst alt!«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Mohammed ein fast schwarzes Augenpaar aufblitzen und blickte in das schönste Frauengesicht, das er bisher zu Gesicht bekommen hatte. Schon hatte die Unbekannte sich wieder verhüllt und war im Bauch des Schiffes verschwunden.

Fast gleichzeitig legte das Schiff ab und trieb von der Hafenmole weg.

»Frech wie eh und je. Das, mein Bester, war Samira. Wir werden noch viel Freude mit ihr haben. Was ist, kommst du mit zu den anderen?«

»Gib mir bitte noch etwas Zeit, ich möchte mich verabschieden, verstehst du das?«

»Nur zu gut, Luca, nur zu gut.«

Seinen neuen Namen zu hören, war ungewohnt, doch fühlte es sich auch irgendwie richtig an. Raffaele schloss ihn kurz in die Arme und folgte dann Samira.

Mohammed-Luca stellte sich an den Bug der El Águila und genoss den frischen, kalten Nachtwind, während das Schiff sich immer weiter vom Ufer entfernte. Er sah hinüber zur Anlegestelle und mit einem Mal war ihm, als sähe er dort sich selbst stehen. Doch sein Spiegelbild begann sich bereits aufzulösen, als würde es Stück für Stück vom Wind davongetragen. Da endlich konnte er es akzeptieren.

Mohammed al Hassarin würde für immer dort zurückbleiben und mit ihm das Grauen und der Tod.

Luca de Marco aber würde ab heute beginnen zu leben. Ein Leben, dem er voller Erwartung und Neugier entgegenblickte.

Als er einen letzten Blick zurückwarf, war Mohammed verschwunden. Luca entschloss sich, als Erstes die schöne Samira besser kennenzulernen. Er streifte die Kapuze ab, strich mit beiden Händen sein langes Haar zurück und schritt mit einem Lächeln zum Abgang ins Passagierdeck der El Águila.

Kinder der Dunkelheit

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