Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 35
9.
ОглавлениеMohammed war fasziniert davon, wie schnell er sich bewegen und wie er ohne Anstrengung mit seinen Gefährten mithalten konnte. Sie liefen rasch, ohne zu ermüden, nicht einmal sein Herz schlug schneller, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Sie näherten sich Granada von Süden, hielten sich dann in östliche Richtung und gelangten so zu Mohammeds ehemaligem Zuhause.
Mit der Sicherheit und Schnelligkeit einer Raubkatze erklomm Vittorio einen Baum und sah von einem dicken Ast aus hinüber zu dem Haus, in dem alles ruhig zu sein schien. »Er hat Wachen aufgestellt: sechs Männer auf der Mauer und zwei im Innenhof. Raffaele, das sind für jeden von uns leider nur drei und für unseren Freund die beiden im Hof.« Er glitt mit ausgebreiteten Armen elegant nach unten, um dort geräuschlos auf dem Boden aufzukommen.
»Langsam begreife ich, warum man euch als Raben Kastiliens bezeichnet. Ihr könnt offenbar tatsächlich fliegen.« Mohammed war beeindruckt.
Vittorio zuckte nur mit den Schultern. »Ein klein wenig, da haben wir leider unsere Grenzen.«
»Meine lieben Freunde, über irgendwelche Fähigkeiten könnt ihr euch noch euer ganzes Leben austauschen. Aber irgendwann wird die Sonne aufgehen und mir ist nicht nach einem Sonnenbad.« Raffaele schien es kaum erwarten zu können, sich der Männer des Don anzunehmen.
»Lasst sie uns töten!« Mohammed wollte gerade losstürmen, als Raffaele ihn am Arm festhielt.
»Halt, mein Junge! Du darfst mit dem Don nach Herzenslust verfahren, ebenso mit diesem Verräter Juan. Bei den anderen aber wirst du zuerst in dich hineinhören. Wir haben eine Fähigkeit, die für uns sehr wichtig ist, denn wir können fühlen, was für ein Mensch uns gegenübersteht. Wenn das jemand ist, der nur seine Arbeit macht, der noch nichts Böses getan hat, dann kannst du das spüren. Vielleicht noch nicht so intensiv wie wir, aber du fühlst es in jedem Fall in Ansätzen. Es gibt eine Regel: Töte keine Unschuldigen! Verstanden?«
Raffaele sah ihn eindringlich an und Mohammed nickte.
»Ja, ich habe verstanden. Mir liegt nichts am Tod unschuldiger Menschen, ich respektiere das Leben. Aber das Leben des Don gehört mir – und zwar nur mir allein.«
Niemand, der ihn jetzt sah, hätte geglaubt, dass er noch vor wenigen Tagen dem Tode näher gewesen war als dem Leben. Angespannt bis in die letzte Faser seines neu erwachten Körpers stand er da, sprühend vor Hass, und der Sinn stand ihm nur nach Rache.
Vittorio erlöste ihn endlich. »Es geht los. Hol dir Don Ricardo und lass ihn bluten für das, was er getan hat!«
Das ließ Mohammed sich kein zweites Mal sagen. Er zog das Schwert, das Raffaele ihm gegeben hatte, und lief los. Er war so schnell, dass das menschliche Auge Mühe gehabt hätte, ihn zu erfassen.
Schnell hatte er die Mauer erreicht, ohne entdeckt zu werden. Da er wusste, dass er sich auf Raffaele und Vittorio blind verlassen konnte, kletterte er blitzschnell an der Wand hoch und ließ sich lautlos in den Hof fallen. Wie schwarzer Nebel waberte der Zorn durch sein Bewusstsein und engte sein Blickfeld ein. Geräuschlos trat er hinter den Wachmann und im selben Moment erkannte er, wovon Raffaele gesprochen hatte. Er konnte die Toten riechen, die dieser Mann auf dem Gewissen hatte. Sie riefen nach ihm, sie riefen nach Rache und sie bekamen ihre Rache. Niemals aber würde er einen Menschen von hinten meucheln und so tippte er ihm höflich auf die Schulter. Als der Mann sich umdrehte, erkannte er den ehemaligen Herrn dieser Güter sofort. Er wurde kreidebleich und sein eilig gezogenes Schwert zitterte in seiner Hand.
»Al Hassarin, Ihr seid tot!«
»Falsch! Ich lebe, du stirbst!« Mohammed stieß dem Wachmann das Schwert in die Brust, ehe dieser verstand, wie ihm geschah. Der Schrei blieb ihm im Halse stecken.
Wenige Schritte weiter stand Mohammed hinter dem zweiten Wächter, der gerade von den Ställen herbeigeschlendert kam. Gerade wollte er auch ihn hinrichten, als er bemerkte, dass er nichts fühlte. Der gute Mann vor ihm war nichts als ein harmloser Diener, der dazu verdonnert worden war, seinen Herrn zu bewachen. Er dachte an Raffaeles Worte und ließ das Schwert sinken. Stattdessen schlug er den Mann mit der bloßen Hand nieder. Es knackte verdächtig und Mohammed hoffte inständig, dass er seine Kräfte nicht unterschätzt hatte. Doch er hatte keine Zeit, sich damit aufzuhalten.
Während er auf das Haus zulief, hörte er aus kurzer Entfernung den Schrei eines Raben und wusste, dass seine Gefährten ihren Teil erledigt hatten. Das Schwert in seiner rechten Hand drückte er mit der Linken langsam, aber nachdrücklich gegen das große, schwere Eingangstor. Es war verschlossen, doch es konnte Mohammeds neuer Kraft nicht standhalten und schwang auf. Selbst wenn die Halle nicht von mehreren Kerzenleuchtern erhellt worden wäre, so hätte er sich zurechtgefunden. Zum einen, weil er hier jeden Stein kannte, zum anderen, weil seine Augen so scharf sahen, als sei es heller Tag. Er wusste nicht, welche Räume der Don für sich auserkoren hatte, doch er ahnte, dass es das ehemals herrschaftliche Schlafzimmer seiner Eltern sein würde. Seine Schritte verursachten keinerlei Geräusche auf der geschwungenen Marmortreppe und so stand er wie eine aus dem Nichts entsprungene Erscheinung plötzlich vor Juan, der soeben aus einem der oberen Zimmer trat.
Als der die dunkle Gestalt erblickte, erschrak er zwar zuerst, dachte dann aber wohl, einen der Wächter vor sich zu haben, ohne sich über die hünenhafte Größe des anderen zu wundern. »Was machst du im Haus, du Idiot? Verschwinde nach draußen und tu deine Arbeit! Los, mach schon, du hast hier nichts zu suchen!«, fauchte er.
»Juan, solch rüde Worte? Freust du dich denn gar nicht, mich wiederzusehen?«
Juan kniff seine Schweinsäuglein zusammen, um besser sehen zu können. »Was soll das? Wer bist du?«
»Ach, Juan, du enttäuschst mich. Du hattest genug Verstand, um mich und meine ganze Familie zu verraten und jetzt erkennst du mich nicht einmal mehr?« Mohammed trat einen Schritt näher und damit in den Lichtkegel eines zweiarmigen Kerzenleuchters.
Juan taumelte einen Schritt nach hinten. »Das ist nicht möglich! Ich sah dich sterben, Mohammed al Hassarin. Das ist Teufelswerk, du bist tot. Du kannst nicht mehr leben!«
Er stolperte, wild mit den Armen rudernd, wieder in den Raum zurück. Ridhas Raum.
»Du irrst dich, Juan. Ich bin nicht tot, auch wenn das dein sehnlichster Wunsch war – du kleine, verschlagene Ratte! Ich lebe! Und du wirst jetzt bezahlen. Du wertloses Stück Dreck hast uns verkauft, hast dabei zugesehen, wie jene Menschen abgeschlachtet wurden, denen du lange Zeit ein gutes Leben zu verdanken hattest. – Wirst du wohl endlich stehen bleiben!« Wütend griff Mohammed nach dem dünnen Hemd seines ehemaligen Stallknechtes, der inzwischen fast am Ende des Zimmers angekommen war.
Juan begriff, als er den festen Griff spürte, dass es kein Geist war, der ihm hier gegenüberstand. Seine Gesichtsfarbe veränderte sich von weiß zu hellgrün und er angelte verzweifelt nach einem kleinen Dolch, den er an seiner rechten Seite trug. Er bekam ihn zu fassen und stieß damit nach seinem ehemaligen Herrn. Ein erstaunter Ausdruck trat in seine Augen, als er sah, dass er diesen nicht nur verfehlt hatte, sondern dass Mohammed sein Armgelenk wie ein Schraubstock umfasste und langsam, aber stetig zudrückte. Schließlich knackte es laut und deutlich.
Juan jaulte auf wie ein geprügelter Hund. »Du hast mir die Hand gebrochen, bist du wahnsinnig?«
»Ja, Juan, ich bin wahnsinnig. Wahnsinnig vor Zorn, wahnsinnig vor Schmerz und wahnsinnig vor Trauer um die, die ich verloren habe – deinetwegen. Willst du wissen, was Schmerz ist, wirklicher Schmerz? Dann pass jetzt gut auf.«
Endlich kam es Juan in den Sinn, dass er um Hilfe schreien könnte, doch in dem Moment, in dem er Luft holte, schloss sich Mohammeds Rechte wie eine eiserne Klammer um seinen Hals. Zeitgleich schob er den Verräter an die Zimmerwand, hielt ihn fest, zog seinen eigenen Dolch aus der Lederhülle an seiner Hüfte und setzte ihn an der Stelle direkt über Juans Brustbein an. Juan wand sich verzweifelt, doch er hatte den Kräften seines Gegenübers nichts entgegenzusetzen. Mohammed zog den Dolch langsam und gleichmäßig von Juans Hals hinunter zu seinem Bauch. Juan hörte den Stoff seines Hemdes unter der scharfen Klinge reißen und dann fühlte er den brennenden Schmerz des tiefen Schnittes. Tränen traten in seine Augen.
»Tut das weh, Juan? Ja, ich weiß, dass das sogar sehr weh tut. Pass auf, das hier schmerzt auch ganz besonders.« Er stieß den Dolch zwischen Juans Rippen und drehte ihn langsam und genüsslich herum.
»Spürst du das? Das habe ich auch gespürt. War nicht schön.«
Blut floss aus Juans bebendem Körper und tropfte auf den Fußboden. Die Luft zum Atmen wurde langsam knapp und der Mann röchelte panisch.
»Fühlt sich das gut an, Juan? Macht es dir Freude, das zu spüren? Nein? Seltsam, ich hatte den Eindruck gewonnen, dass du der Folter nicht abgeneigt bist. Aber du hast Glück, ich bin selbst jetzt noch kein solches Monster wie du es bist oder vielmehr warst. Los Juan, sieh mir in die Augen. Du kannst darin die Hölle sehen, in die ich dich jetzt schicken werde. Dorthin, wo du mich haben wolltest. Leb wohl und grüße mir den Engel des Todes, du feiger Wurm.« Nur wenige Augenblicke später lag Juan tot in seinem Blut.
Mohammed wandte sich um und schenkte dem Toten keinen Blick mehr. Er hatte jetzt etwas viel Wichtigeres zu tun. Mit bedächtigem Schritt näherte er sich dem Raum, in dem früher seine Eltern geschlafen hatten. Jetzt konnte er ihn riechen. Leise drückte er den schweren Griff nach unten und öffnete lautlos die Tür.
Der Don stand am offenen Fenster, ohne ihn wahrzunehmen, aber er hatte wohl bemerkt, dass auf dem Gelände etwas nicht stimmte. Vermutlich, weil es so still war und keiner seiner Männer mehr zu sehen. Er fuhr herum und öffnete den Mund, um nach Juan zu rufen, als er die große dunkle Gestalt im Türrahmen sah.
»Wer schleicht hier herum? Wer bist du? Geh zurück auf deinen Posten und schicke mir Juan, diesen Nichtsnutz!«
»Juan ist gerade verhindert, Don Ricardo. Genau wie die anderen. Der Einzige, der noch hier ist, bin ich. Ihr müsst schon mit mir vorliebnehmen, wenn Ihr plaudern wollt.« Mohammed trat näher und lächelte den Don scheinbar aufmunternd an. »Don Ricardo, was ist los mit Euch? Bei unserem letzten Aufeinandertreffen wart Ihr in Plauderlaune. Dass Ihr dabei immer wieder erwähnt habt, wie sehr Ihr meinen Tod wünscht, habe ich wohl missverstanden, so hoffe ich doch?« Mohammed schenkte dem Granden ein strahlendes Lächeln, während er sehr langsam auf ihn zuging.
Als der Don erkannte, dass sein verhasster Feind, den er längst tot geglaubt hatte, nun nicht nur kräftiger und lebendiger denn je, sondern auch noch mit dem Gebiss eines Raubtieres ausgestattet war, begann er zu schreien.
Mohammed schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich muss doch sehr bitten, Don Ricardo, wollen wir denn nicht wie zivilisierte Menschen miteinander sprechen? Ach ja, ich vergaß, dazu seid Ihr ja nicht in der Lage. Ihr foltert lieber und tötet alle, von denen Ihr glaubt, sie seien Euch im Wege. Wie einfallslos, findet Ihr nicht?« Er verharrte direkt vor dem noch immer wie am Spieß schreienden Don.
»Ich bin enttäuscht, Don Ricardo, ich hatte auf ein anregendes Gespräch über den Tod gehofft. Ich darf Euch versichern, dieser ist durchaus nicht so schlimm, wie Ihr ihn Euch immer vorstellt. Seht mich an, ich bin der Beweis dafür, dass man sich sehr gut mit ihm arrangieren kann.« Mohammed trat einen kleinen Schritt zurück, hob seine muskulösen Arme und grinste den Don strahlend an. Seine Schreie waren verstummt, und er war so kalkweiß geworden und zitterte derart am ganzen Leib, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
Mohammed sah das und meinte lächelnd: »Ihr habt Mühe, aufrecht zu stehen? Das Gefühl ist mir ja so vertraut! Ihr müsst kämpfen, Don Ricardo, nun kommt schon, macht mir die Freude. Ich habe doch noch so wunderbare Pläne mit Euch.«
Der Grande war sich bestimmt bewusst, dass Mohammed auf seine Kreuzigung anspielte.
Plötzlich quollen seine Augen aus den Höhlen, seine Hände zuckten an den Hals, während er immer heftiger nach Luft rang, als schnüre ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zu. Er röchelte und in seinen Mundwinkeln erschien weißer Schaum, und dann sank er, haltlos wie eine Marionette mit abgeschnittenen Schnüren, in sich zusammen.
Mohammed bückte sich, um seinen Puls zu fühlen, und musste feststellen, dass der Grande tot war. Wie so viele adlige Spanier hatte er anscheinend einen Giftzahn besessen. Ein grausamer Tod.
»Feigling! Stiehlt sich einfach davon.«
Mohammed war wütend, andererseits war er sich sicher, dass Ricardos letzte Augenblicke ihm Höllenqualen bereitet haben mussten. Das einst so blasierte Gesicht war von Schmerz und Todesangst verzerrt, seine Augen blickten voller Grauen ins Leere.
Auch wenn er nicht den letzten Streich geführt hatte, er hatte Ana, seine Familie und alle übrigen, die durch den Don ums Leben gekommen waren, in jedem Fall gerächt.
Gerade wollte er sich abwenden, als ihm ein Gedanke in den Kopf schoss. Er wandte sich um und ging zu einem in die Mauer gehauenen Relief zwischen dem Fenster und dem Ausgang zum Balkon. Das Relief zeigte zwei ineinander verschlungene Rosen, gehalten von schlanken Frauenhänden. Der Rahmen des Kunstwerkes bestand aus sich wiederholenden, formvollendet miteinander verwobenen Schnörkeln. Am unteren Rand war in der Mitte des Rahmens eine weitere, kleinere Rose eingearbeitet. Auf diese Rose drückte Mohammed behutsam.
Mit leisem Klacken sprang der Rahmen ein wenig weiter aus der Wand. Mohammed griff an beide Außenseiten, zog vorsichtig daran und langsam löste sich der Rahmen von der Wand. Er ließ sich genau so weit beiseiteschieben, dass er mit den Händen dahinter fassen konnte. Ein Lächeln glitt über seine Züge. Auf seinen Vater und dessen Ordnungssinn hatte man sich immer verlassen können. Sorgsam darauf achtend, nichts zu zerstören, zog Mohammed zwei Bündel und eine hölzerne Schatulle nacheinander aus dem gut verborgenen Geheimfach.
Nachdem er sich versichert hatte, dass das Fach leer war, verschloss er es wieder.
Nach einem abschließenden Blick auf den am Boden liegenden Ricardo lief Mohammed aus dem Zimmer, in dem sich plötzlich die Erinnerungen aus den Ecken zu winden schienen – und er wollte nicht erinnert werden! Er erspähte eine achtlos über eine Bank geworfene Satteltasche. Rasch stopfte er alles hinein, warf sie sich über die Schulter und verließ das Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend glücklich verbracht hatte, auf immer.