Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 37

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»Soledad, du musst dich beeilen! Wenn wir vor Tagesanbruch hier weg sein wollen, dann sollten wir nicht zaudern. Die Kinder sind noch müde und wir werden sie tragen müssen. Es ist weit und gefährlich. Mein einziger Wunsch ist, dass wir sicher ankommen. Ich sehe draußen nach dem Rechten.« Pedro schlüpfte in seine beste Jacke und knöpfte sie gewissenhaft zu.

Sie durften nicht auffallen. Sie mussten als reisende bürgerliche Familie angesehen werden – und zwar als harmlose Familie. Sicher hatten sie eine lange und beschwerliche Reise vor sich, aber dafür würde er nachher zumindest wieder einigermaßen ruhig und ohne nagende Schuldgefühle schlafen können. Sein einziges Pferd war zwar kräftig, aber nicht mehr das jüngste. Seine Kutsche verdiente diesen Namen nicht, doch bis zur nächsten Stadt würde das Gespann wohl halten. Dort würde er das Pferd und den alten Wagen für das Geld verkaufen, das man ihm bieten würde, und dann konnten sie hoffentlich eine richtige Kutsche bekommen oder mit einem Schiff weiterreisen. Er drückte die verzogene Tür seines kleinen Hauses auf und trat hinaus in die Nacht. Müde schlurfte er zu dem kleinen Stall, um das Pferd einzuspannen. Die alte Stute war zwar sichtlich überrascht, ließ sich jedoch brav wie immer das Geschirr anlegen.

»Aber Pedro! Du willst doch nicht etwa verreisen, ohne dich von mir zu verabschieden?«

Pedro erstarrte. Er kannte diese Stimme, er kannte sie nur zu gut. Schließlich hatte er den, zu dem sie gehörte, aufwachsen sehen, ihm stets sein Pferd gebracht und ihn mehrmals auf seinen frühen Ausritten begleitet, wenn sein Vater zu beschäftigt gewesen war. Aber er wusste auch, dass Mohammed al Hassarin tot war! Sein Körper verweigerte ihm den Gehorsam, es gelang ihm nicht, sich umzudrehen. Starr und erschrocken stand er, die Zügel in der Hand, bewegungslos neben seiner Kutsche.

Mohammed legte ihm die Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich. »Was ist? Freust du dich nicht, mich zu sehen? Nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben? Ich bin etwas enttäuscht, mein lieber Freund.«

Pedro starrte in das schöne, gänzlich unversehrte Gesicht seines ehemaligen Herrn. Das war unmöglich! Juan hatte sich überall damit gebrüstet, dass er den jungen al Hassarin eigenhändig zu Tode gefoltert hatte. Er war tot – ebenso, wie der Don die ganze Familie ausgelöscht hatte. Und doch stand er hier leibhaftig vor ihm, blasser als sonst und bedrohlicher, mit einem Lächeln, das den Tod verkündete. Pedro atmete tief ein. Gut, er hatte es so verdient. Wenn Mohammed von den Toten auferstanden war, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, dann musste es so sein, aber er durfte seine Familie nicht antasten, schon gar nicht jetzt, denn dann wäre alles verloren. Zu Mohammeds Erstaunen fing Pedro nicht an zu schreien oder zu betteln, nein, er straffte seine Schultern und sah mutig zu ihm auf.

»Herr, wenn Ihr zurückgekommen seid, um Euren Tod und den Eurer Familie zu rächen, so werde ich mich nicht dagegen wehren. Ich war schwach, ich hatte Angst und ich habe feige gehandelt, aber ich habe es für meine Familie getan. Juan drohte, sowohl meine Frau als auch mein kleines Mädchen zu töten, wenn ich seine Anweisungen und die des Don nicht befolgen würde. Hier bin ich, ich bin bereit, für das zu bezahlen, was ich getan habe. Aber ich flehe Euch an, schont meine Familie und verschont vor allem anderen das Kind, das dort mit im Haus ist. Es darf nicht das Grauen, das es sah und dem es so mutig und so klug entronnen ist, überlebt haben, um jetzt dem Don doch noch in die Hände zu fallen! Bitte lasst die drei ziehen, sie müssen von hier fort, noch bevor der Tag anbricht, sonst sind sie in zu großer Gefahr.«

Pedros Mut und seine Worte verwunderten und verunsicherten Mohammed. Ihm war bewusst, dass er immer unter dem Einfluss des rücksichtslosen Juan gestanden hatte, doch konnte das allein sein Handeln entschuldigen? Gerade wollte er zu einer Antwort ansetzen, als aus dem Haus die Stimme von Pedros Frau erklang.

»Kommt, Mädchen, ihr müsst euch eilen! Ihr werdet später weiterschlafen können, ich verspreche es, jetzt aber müssen wir aufbrechen. Rasch, ihr Süßen, legt eure Umhänge an!«

Die Stimme, die ihr antwortete, hätte Mohammed auch ohne sein neues feines Gehör unter Tausenden erkannt.

»Tia Soledad, ich helfe dir, ich ziehe Anita an, ich kann das.«

Mohammed wäre um ein Haar gestrauchelt, er konnte nicht glauben, was er hier hörte. Er griff nach Pedros Schultern und rüttelte ihn, als könne er die Antwort auf nicht gestellte Fragen aus ihm herausschütteln. »Pedro, das kann nicht sein! Ist sie es wirklich? Wie kommt sie hierher?«

Pedro nickte unter Tränen. »Ja, Herr, sie ist es. Sebastian, der Hauptmann von Don Ricardo, fand sie verwundet in einer Mauernische des Hauses. Obwohl sie einen Schwerthieb abbekommen hatte, war sie so klug, sich ins Haus zu schleppen und sich dort zu verstecken. Als Sebastian sie fand und sah, dass sie nicht lebensgefährlich verletzt war, dachte er nicht lange nach. Er verband ihre Wunde behelfsmäßig mit einem Stofffetzen, versteckte sie in einer Diwan-Decke und brachte sie zu uns, da er wusste, dass sie uns kannte. Sie hat alles mit ansehen müssen, sie sah ihre Mutter sterben und ihren Bruder. Wenigstens blieb es ihr erspart, den Tod Eures Vaters zu erleben und den Euren ...« Pedro schwieg erschrocken und sah zu Mohammed auf.

Der richtete seinen Blick auf das kleine Haus, in der vagen Hoffnung, durch die Wände sehen zu können. Da erklang erneut die Kinderstimme und seine Hände begannen zu zittern.

»Sieh doch, Tia Soledad, Anita kann laufen, sieh doch, sie läuft an meiner Hand!«

»Das ist ja wunderbar, das hast du gut gemacht, mein Engel, sie liebt dich sehr, sie möchte einfach bei dir sein. Wenn ihr fertig angezogen seid, dann geht leise nach draußen und zeigt es Tio Pedro. Er wird staunen, wenn er das sieht. Ich komme so schnell wie möglich nach. Warte, meine Kleine, du musst noch etwas Warmes trinken, das ist wichtig für dich, komm zu mir.«

Mohammed zog Pedro in den Schatten des Stalles, wo sie vom Haus aus nicht gesehen werden konnten. »Was habt ihr vor? Wohin wollt ihr?«

»Es ist hier zu gefährlich für sie, Herr. Wenn der Don oder Juan oder einer der anderen Mörder sie finden, ist ihr Leben nichts mehr wert. Ich habe noch das ganze Geld Eures Vaters, das er mir gab für –«, Pedro stockte und tiefe Röte überzog sein Gesicht. »Ihr wisst schon … Ihr wart dabei ... Und ich habe von Sebastian noch die Hälfte seines Soldes bekommen, um die Kleine in Sicherheit zu bringen. Bis gestern war sie zu schwach, um zu reisen, doch jetzt müssen wir fort. Ich werde sie zur Schwester meiner Frau bringen. Sie lebt weit weg von hier in Marseille. Ihr Mann hat eine große Schmiede und kann dort meine helfende Hand sehr gut gebrauchen. Dort sind wir sicher vor Juan, vor dem Don und allen anderen – und die Kleine ist weg von all dem Hass. Ich werde sie mit meinem Leben schützen, was auch geschieht, das schwöre ich Euch!« Hoffnungsvoll sah er seinen ehemaligen Herrn an.

Mohammed fuhr sich aufgewühlt durchs Haar. »Sie lebt, Alhamdulillah, gepriesen sei Allah, sie lebt! Pedro, nimm deine Familie, nimm meine kleine Prinzessin und geh so weit wie möglich fort von hier! Sie darf mich in diesem Zustand nicht sehen, sie muss ihren inneren Frieden finden, das wird sie mit dir, deiner Frau und eurer kleinen Tochter schaffen. Niemand darf je von unserer Begegnung erfahren, schwöre mir zu schweigen!«

»Das tu ich, Herr ...«

»Ich habe etwas, das ihr helfen wird, bring mir eine kleine Flasche mit frischem Wasser, schnell!«

Pedro eilte ins Haus und kehrte schon nach wenigen Sekunden mit einer kleinen grünen Flasche zurück, die er Mohammed mit fragendem Blick reichte.

»Spann fertig an, ich bin sofort zurück. Hab keine Angst mehr, ich werde dir nichts tun!«

Pedros Miene entspannte sich sichtlich und er beeilte sich, der Aufforderung Mohammeds Folge zu leisten. Der verschwand hinter dem Stall und rannte wie von Sinnen in die Dunkelheit.

»Hoppla, langsam, junger Freund! Wir konnten alles hören. Und ich ahne auch, worum du uns bitten willst. Gib schon her.« Vittorios Stimme klang seltsam belegt bei diesen Worten. Er griff nach der Flasche, entkorkte sie und reichte Mohammed den Verschluss. Dann hob er sein Handgelenk zum Mund und öffnete sich die Pulsader. Langsam floss sein kostbares Blut in die Flasche. Als er befand, es sei genug, gab er Mohammed die Flasche zurück. Seine Ader schloss sich unverzüglich wieder.

»Sie sollen ihr das heute im Laufe des Tages zu trinken geben. Morgen wird die Kleine wieder gesund sein, ihre Narbe wird sich schließen. Aber die Narben in ihrem Geist werden lange brauchen, bis sie heilen. Sie braucht alle Liebe dieser Welt. Mach ihm klar, was mit ihm geschieht, wenn sie die nicht bekommt.« Vittorio sah so finster aus, dass Mohammed lächeln musste.

»Ich habe das Gefühl, sie wird sehr, sehr viel Liebe bekommen.«

Dann lief er zurück zu Pedro, der fertig eingespannt und den Wagen mit dem Wenigen beladen hatte, das sie mitnehmen wollten. Nun stand er wartend, die Zügel schon in der Hand, neben dem Gespann. Mohammed reichte ihm die Flasche.

»Hier, dies ist eine ausgezeichnete Medizin. Sie wird sie heilen. Du und deine Frau aber, ihr müsst die Wunden auf ihrer Seele heilen, dafür habe ich kein Mittel. Das kann nur eure Liebe, Pedro.«

»Ja, Herr, Ihr könnt mir glauben, die wird sie bekommen, das schwöre ich beim Leben meiner kleinen Tochter.« Pedro wollte weitersprechen, doch da öffnete sich zaghaft die Tür und die leise Mädchenstimme, die nach Pedro rief, brachte Mohammed schier um den Verstand.

»Geh zu ihr, rasch! Nimm noch das hier, es wird euch helfen auf eurer Reise.« Rasch ließ er einige Goldmünzen in Pedros Hand gleiten und winkte ungeduldig ab, als dieser es ablehnen wollte.

»Nimm schon, das Leben meiner Schwester ist alles Gold dieser Welt wert! Leb wohl, Pedro, und halte dein Wort, ich finde dich sonst, wo immer du auch bist!« Hastig zog er sich in die Schatten zurück.

Pedro nickte heftig und eilte dann zur Haustür, aus der soeben zwei kleine Gestalten traten. Die eine war sehr klein und wackelig auf den dicken Beinchen, aber sichtlich stolz auf das, was sie soeben gelernt hatte, die andere etwas größer, mit langen schwarzen Locken, die ihr blasses, aber jetzt strahlendes Gesicht umrahmten. Sie lächelte Pedro entgegen.

»Tio, Onkel Pedro, schau doch, Anita kann richtig laufen! Ich habe es ihr beigebracht. An meiner Hand geht es schon sehr gut.«

Pedro ging in die Knie und umfing beide Mädchen. »Oh ja, was habe ich für kluge, tapfere und starke Mädchen. Ich bin ja so stolz auf euch beide!«

Asma schwieg eine Weile, dann fragte sie leise: »Tio, glaubst du, meine Māmā wäre auch stolz auf mich?«

Das war fast mehr, als Mohammed in seinem Versteck ertragen konnte. Er umklammerte den Ast des kleinen Baumes so fest, dass dieser fast zerbarst. Dann vernahm er Pedros Antwort, der Asma mit erstickter Stimme erklärte, dass ihre Mamá überaus stolz auf sie wäre und dass sie nie vergessen solle, dass ihre Mutter immer über sie wachen würde.

Asma sah ihn mit ernstem Blick an und wandte sich dann der Kleinen an ihrer Hand zu. »Und ich passe auf dich auf, Anita, damit keinem von uns mehr etwas zustößt.«

Mohammed blieb in seinem Versteck, bis die Familie aufgebrochen war, er musste einfach so lange wie möglich seiner kleinen Schwester nachblicken. Erst, als der Wagen ein gutes Stück entfernt war, löste er sich aus den Schatten. Er sah ihm nach, bis er mit der heraufziehenden Dämmerung verschmolz, unfähig, seinen Blick vom Horizont zu lösen.

Und jetzt, hier, auf Pedros kleinem Hof, konnte er endlich all die Tränen weinen, die in ihm waren. Die Tränen um seine Eltern, seinen Bruder, die Tränen um Ana – all das, was so tief in ihm vergraben gewesen war, brach jetzt aus ihm heraus. Er spürte wie in Trance Raffaeles Hand sanft auf seiner Schulter, der ihm wortlos die Zügel seines Pferdes reichte. Seine Freunde sahen besorgt in sein tränenüberströmtes Gesicht.

»Wir wissen, was gerade in dir vorgeht, aber wir wissen auch, dass wir jetzt von hier fortmüssen. Komm, mein Freund.« Vittorio klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

Mohammed stieg auf und sie galoppierten hinunter zum Meer. Mit den ersten Sonnenstrahlen erreichten sie die schützende Höhle. Während seine Freunde sich schlafen legten, setzte er sich in den Eingang der Höhle, gerade so, dass die Sonne ihn nicht erreichte, er sie aber zu sehen vermochte. Langsam beruhigten sich seine Gedanken. Er war dankbar, dass diese Nacht ein solch unerwartetes und wundervolles Ende genommen hatte. Asma lebte! Sein kleiner Engel lebte! Der Don war tot, ebenso seine Handlanger, seine kleine Schwester aber würde weiterleben. Sie würde geliebt werden, dessen war er sich sicher. Er hatte die tiefe Zuneigung gespürt, die Soledad und Pedro für sie empfanden – sie würde glücklich werden.

Nach einer Weile zog er sich zurück und legte sich auf sein Kissenlager. Er wusste, dass nach dieser Nacht seine Träume wieder heller werden würden – nur ein wenig, aber jedenfalls heller!

Kinder der Dunkelheit

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