Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 43
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Luca verließ das antike Theatro und schnupperte in die Nacht.
Das Wasser der Kanäle schlug schwer gegen die Pfeiler und gluckerte fröhlich in Hohlräumen unter der kleinen Brücke, die er überquerte. Er blieb stehen, lehnte sich gegen das marmorne Geländer und ließ seinen Blick über den dicht befahrenen Canal Grande schweifen. Das Theaterstück, das er gerade gesehen hatte, schwang noch in ihm nach. Shakespeares »Ein Mittsommernachtstraum« in einer – endlich wieder – historisch angemessenen und somit glaubwürdigen Inszenierung! Er verabscheute die meisten »modernen« Aufführungen mit minimalem Bühnenbild und auf Gegenwart getrimmten Darstellungen.
Zwei amerikanische Touristinnen gingen kichernd an ihm vorbei, sahen dabei neugierig zu ihm herüber, verlangsamten sogar ihre Schritte, um ihn genauer mustern zu können. Einer der vielen Vorteile seiner Unsterblichkeit bestand darin, dass er seine jugendliche Schönheit über die Jahrhunderte hinweg bewahren konnte – und er vor allem durch die Reife der Erfahrungen inzwischen sogar noch anziehender wirkte als früher in seinem ersten Leben.
Kurz überlegte er, ob er die attraktiven jungen Touristinnen ansprechen sollte; vermutlich warteten sie sogar darauf, denn sie waren stehengeblieben und unterhielten sich scheinbar höchst interessiert über den Ausblick auf den Canal Grande. Sie wären willige Gefährtinnen für eine Nacht und würden seinen Hunger, sowohl im wörtlichen Sinne als auch den nach körperlicher Nähe, ausführlich stillen.
Doch ihm war heute nicht nach einem One-Night-Stand. An Abenden wie diesen überfiel ihn die Einsamkeit, die Leere, die immer nur zeitweise gefüllt werden konnte. Jetzt dachte er an Ana, wie immer, wenn er ein Stück von Shakespeare gesehen hatte. Noch heute empfand er es als Privileg, für seine einzig wahre Liebe gestorben zu sein. Nie wieder hatte er so empfunden wie für Ana. Dass sie sich nach seiner Ermordung das Leben genommen hatte, hatte er bis heute nicht richtig verkraftet. Als er das erste Mal »Romeo und Julia« gelesen hatte, war er kurzzeitig versucht gewesen, sie beide darin wiederzufinden. Nur mit dem Unterschied, dass er sich gewandelt hatte und noch heute existierte, wohingegen es für Ana keine Erlösung gegeben hatte.
Luca schenkte den beiden jungen Frauen ein geheimnisvolles Lächeln, als er an ihnen vorüberging, dann trieb es ihn, von plötzlicher seltsamer Unruhe ergriffen, weiter.
Nachdenklich und rastlos strich Luca durch die ruhige, kalte Stadt. Etwas war anders heute, etwas war nahe, das sein Blut schneller kreisen ließ, ihn elektrisierte. Er schloss die Augen und ließ seinen ausgeprägten Instinkten freien Lauf. Unvermittelt fand er sich im Studentenviertel Campo Santa Margherita wieder, in dem das Leben, selbst jetzt im Winter, nie zum Erliegen kam. In Mäntel und Jacken gewickelt standen die jungen Leute, der Kälte tapfer trotzend, vor den zahlreichen Bars und tranken ihre Cocktails, Glühwein oder duftenden Kaffee. Manchmal beneidete Luca sie um ihre unbeschwerte Jugend und um diese Genüsse, und wenn er dann durch die Gassen voller Bars, Restaurants, Pubs und Kneipen zog, ein wenig den unwichtigen Unterhaltungen lauschte und das fröhliche Gelächter in sich widerhallen ließ, fühlte er sich als Teil von ihnen. Heute aber zog ihn ein eigenartiges und ganz spezielles Gefühl tiefer hinein, als wäre er auf der Suche. Bei einem Restaurant, aus dessen kleinen Fenstern warmes, weiches Licht auf das Steinpflaster fiel, verharrte er abrupt.
Er sah sie sofort. Wie ein Engel. Langes hellblondes Haar umrahmte ein schmales, blasses Gesicht. Dieses Gesicht, aus dem zwei himmelblaue Augen strahlten, wäre noch schöner gewesen, wenn nicht tiefe Traurigkeit darauf gelegen hätte. An ihrer Stirn, für die meisten vermutlich nicht gleich ersichtlich, prangte eine kaum verheilte Narbe. Irgendjemand oder irgendetwas musste diese Frau sehr verletzt haben. Was ihn aber fast noch mehr bewegte, war die selbst durch die Mauer geradezu greifbare Angst, die in regelrechten Wellen aus ihr strömte.
Sie saß allein an einem Zweiertisch am Fenster bei einem Glas Rotwein und aß, offenbar in Gedanken versunken, eine Pizza. Luca stellte sich vor, wie schön es sein müsste, mit ihr gemeinsam dort zu sitzen. Diese Frau regte tatsächlich etwas in ihm an, das er geglaubt hatte, für immer verloren zu haben: sie berührte sein Herz. Erschrocken vor sich selbst zog er sich zurück in die Dunkelheit der Häuserwände, konnte sich aber nicht überwinden, zu gehen. Vielmehr beobachtete er die Unbekannte so lange, bis sie das Restaurant verließ. Sie fröstelte offensichtlich und schlang ihren langen Ledermantel enger um sich. Wie er schien sie sich an den Geräuschen und Gerüchen des Amüsierviertels zu erfreuen. Sie hob langsam den Kopf und ließ ihren Blick mit wehmütigem Lächeln über die historischen Häuserfronten schweifen, bevor sie sich in Bewegung setzte.
Luca nahm, während er der Unbekannten auf Abstand folgte, ihre wirren Gefühle in sich auf – so viel Unsicherheit, so viel Angst! Schmerz über einen Verlust, aber auch eine verhaltene Wut.
Bei der Brücke, die sie gerade überquerte, waren einige Gondeln im Winterkleid festgezurrt. Sie freute sich offenbar über den Anblick und schlenderte näher zur Treppe des kleinen Anlegers. Luca beschleunigte sofort seinen Schritt. Das Spritzwasser aus den Kanälen verwandelte die alten, abgetreten Steinstufen in heimtückische Rutschfallen, vor allem bei den kalten Temperaturen.
Schon rutschte sie aus! Doch in dem Moment war er bereits bei ihr und fing sie gerade noch auf.