Читать книгу Kinder der Dunkelheit - Gabriele Ketterl - Страница 34

8.

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Mohammed stand reglos am Meeresufer, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. So sehr er auch versuchte, sich auf das Rauschen der Wellen zu konzentrieren, wenn sie sich am Strand brachen, die Flutwellen in seinem Kopf waren stärker. Ana war tot. Seine Ana, die allein mit ihrem Lächeln Rosen zum Erblühen gebracht hatte, war tot.

Sie hatte ihr Leben aufgegeben, weil sie annehmen musste, er sei ebenfalls durch die Hand Don Ricardos gestorben, des Mörders von Mohammeds gesamter Familie.

Er hatte Raffaele und Vittorio um Verständnis gebeten, dass er die Höhle verlassen würde, weil er für eine Weile allein sein musste. Raffaele hatte ihm daraufhin neue Kleidungsstücke gebracht, da seine eigenen nur noch blutgetränkte Fetzen gewesen waren.

Still verharrte er am Wasser, starrte auf einen Horizont, den zu sehen er nicht in der Lage war, und suchte in seinem Innersten verzweifelt nach Tränen, die er um seine große Liebe weinen wollte – doch in ihm war nichts als Leere.

Raffaele betrachtete Mohammed mit großer Sorge. Er hoffte, dass sein Schützling bald wieder zu sich fand und akzeptierte, was geschehen war, um die Entscheidungen für sein zweites Leben zu treffen. Vittorio kam aus der Höhle und setzte sich neben Raffaele in den langsam erkaltenden Sand. Sein Blick wanderte zum Ufer und dem jungen Mann, der in den letzten Tagen alles verloren hatte. Auch sein Leben, wenn sie beide nicht gewesen wären. Schweigend warteten sie geduldig, bis Mohammed sich wieder so weit gefasst hatte, dass er zu ihnen zurückkam. Er setzte sich und brachte lange Zeit kein Wort heraus, bis es schließlich aus ihm hervorbrach.

»Dieser Sohn einer räudigen Hündin muss sterben! Ich muss, und vor allem, ich will meine Familie rächen, ich muss Ana rächen! Er darf nicht ungestraft weiterleben, nachdem er so viele unschuldige Leben auf dem Gewissen hat! Leiden soll er, genau so, wie meine Mutter, mein Vater und meine Geschwister gelitten haben. Er soll das Entsetzen fühlen, das sie empfunden haben und er soll die endlose Hilflosigkeit und die grenzenlose Trauer spüren, die Ana in den Tod getrieben haben.«

Nach seiner Verwandlung war er bleicher als zuvor, und so glühten die schwarzen Augen in einem unheilvollen Licht. Die Flamme des Hasses brannte in ihnen. Falls er erwartet hatte, dass einer seiner Retter ihn zurückhalten würde, so sah er sich getäuscht.

Sie lächelten ihn zustimmend, ja fast zufrieden an.

»Gut so«, lobte Raffaele. »Lass deinem Zorn und deiner Trauer Raum, lass dich hineinfallen, aber lass dich nicht von deinen Gefühlen kontrollieren. Deine Rache muss wohlbedacht und geplant werden, und zu leicht willst du es deinem Feind sicherlich nicht machen, wenn du blindwütig vorstürmst.«

»Außerdem musst du zuerst lernen, deine neuen Kräfte zu kontrollieren«, fügte Vittorio hinzu.

Mohammed blinzelte verwirrt. »Was meint ihr damit? Es geht mir gut, und ich war stets kräftig, aber besondere Kräfte kann ich nicht spüren.«

Vittorio lächelte und stand auf. »Komm und stell dich zu mir! Es wird Zeit, dich mit ein paar Dingen zu konfrontieren, die dich zukünftig begleiten werden.« Er hielt ihm die Hand hin und zog ihn mit einem einzigen Ruck auf die Beine. »Mein Freund Raffaele hat dir ja schon erzählt, was wir sind. Er hat dich ein wenig in unsere Geschichte eingeweiht, aber hast du auch wirklich begriffen? Weißt du beispielsweise, wer ich wirklich bin?«

Mohammed schüttelte den Kopf und Vittorios Lächeln vertiefte sich. »Wie stehst du zu Legenden und Schauergeschichten? Was sagen dir die Raben Kastiliens?«

Mohammed zuckte ein klein wenig zusammen, als er den Namen hörte. »Die Untoten Spaniens, die Kreaturen der Nacht. Sie haben übermenschliche Kräfte, sie ...« Ihm stockte kurz der Atem.

Vittorio lächelte jetzt sehr nachsichtig. »Ich bevorzuge den Ausdruck ›Geschöpfe‹ anstatt Kreaturen, das klingt freundlicher und entspricht uns auch besser. Oder würdest du dich gern als Kreatur bezeichnet wissen?«

Mohammed wusste, wann es besser war zu schweigen, und das tat er jetzt. Er konnte es kaum fassen, stand er wohl tatsächlich dem legendären Anführer der »Raben Kastiliens« gegenüber! Einst war er überzeugt gewesen, das seien Märchen, um Kinder und Frauen zu erschrecken. Allerdings durften wohl gerade Frauen beim Anblick Vittorios alles andere empfinden als Erschrecken.

Dieser sprach, unbeeindruckt von Mohammeds Erstaunen, weiter. »Es ist an der Zeit zu lernen, junger Freund. Streck deine Arme aus, die Handflächen nach oben.«

Raffaele war etwas zur Seite gegangen und zeigte auf einen Felsen. »Nimm diesen hoch.«

»Findet ihr beide das komisch? Ich bin doch kein Übermensch!« Mohammed war unsicher, jetzt schienen die zwei ihren Spaß mit ihm haben zu wollen.

»Versuch es einfach.«

Mohammed fragte sich zwar, ob er gerade dabei war, den Verstand zu verlieren oder sich total zum Narren machte, aber er trat schließlich zu dem Steinbrocken, legte die Hände an dessen scharfe Kanten und ... hob ihn an. Er hob ihn nicht nur ein paar Millimeter, nein, er hob ihn hoch, als würde er einen Sack Mehl anheben – keinen allzu großen, wohlgemerkt. Mühelos hielt einen Felsbrocken auf den Armen. Die amüsierten Gesichter seiner beiden Lehrherren bewiesen ihm, dass sein Blick jetzt gerade nicht der klügste sein konnte. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass er einen Stein von der Größe einer Reisetruhe hochhob!

»Na, was sagst du jetzt?« Raffaele grinste.

»Das ist unfassbar! Ich habe die Kraft eines Stieres! Ich kann es kaum glauben.«

»Glaub es lieber, freu dich darüber und probiere alles aus, was du möchtest. Wonach steht dir der Sinn?«

Er dachte kurz nach. »Ich liebte es früher, am Ufer entlangzulaufen. Ich mochte den Wind auf meinem Körper und das Gefühl von Freiheit.«

Vittorio hob einladend die Hand. »Lass deinen Gefühlen und Wünschen freien Lauf, lern dich neu kennen, na los!«

Mohammed wandte sein Gesicht dem Meer zu, warf noch einen Blick auf die beiden Männer, die ihm aufmunternd zunickten, und begann die ersten Schritte über den kühlen Sand – zuerst etwas zögerlich, doch dann immer schneller. Er flog regelrecht auf das Meer zu. Als er am Wasser ankam, wendete er und lief am Ufer entlang weiter in Richtung der Klippen. Irgendwann riss er sich das Hemd vom Leib und rannte mit nacktem Oberkörper durch die Nacht.

Als er die Klippen erreichte, wollte er wissen, wie es war zu klettern. Mit sicherem Griff und ebenso sicherem Tritt erklomm er in wenigen Augenblicken die steile Felswand. In ungefähr zwanzig Metern Höhe erreichte er einen Felsvorsprung, der ein Stück ins Meer hinausragte. Langsam trat Mohammed an den Rand des Felsens und blickte hinunter. Das Meer donnerte mit gnadenloser Wildheit gegen die Klippen und doch verspürte er beim Blick nach unten weder Angst noch Sorge. Der Wind blies über seine nackte Haut und er genoss die Kühle der Nacht. Raffaele hatte recht behalten – die vom Mondlicht durchtränkte Nacht war traumhaft schön. Als er wieder auf die Wasseroberfläche blickte, wusste er instinktiv, dass ihm nichts geschehen würde. Er hob die Arme über den Kopf, warf seine langen Haare zurück, federte sich kurz auf den Zehenspitzen ab und sprang dann furchtlos kopfüber in die Tiefe.

»Donnerwetter! Schade, wir hätten einige der Damen Granadas zu diesem Schauspiel einladen sollen. Sie hätten jede ein Vermögen für diesen Anblick bezahlt.« Vittorio grinste breit.

»Du hast leicht reden, es ist ja auch nicht deine Hose, die dort gerade im Salzwasser baden geht.« Raffaele hatte ein leichtes Bedauern im Blick, fing sich aber rasch. »Ich wusste es, er wird einer von uns, mit Leib und Seele. Er wird Zeit brauchen, doch er wird viel lernen und uns viel Freude machen. Um ehrlich zu sein, ich bin jetzt schon stolz auf ihn.«

Vittorio sah ihn kopfschüttelnd an. »Du solltest irgendwann eigene Kinder bekommen, ich sage doch, du hast was Väterliches an dir.«

»Ja, und? Ich habe alle Zeit der Welt, das irgendwann nachzuholen. Wer weiß, vielleicht findest ja auch du endlich eine Gefährtin, die auf Dauer deinen Ansprüchen genügen kann, dann könnten unsere Kinder gemeinsam aufwachsen.«

»Hör auf damit, du machst mir Angst!«

»Wenn ihr beiden dann irgendwann mit der Planung des Nachwuchses fertig seid, könnten wir uns vielleicht darauf konzentrieren, wie wir Don Ricardo ein würdiges Ende bereiten? Ich wäre so weit!«

Leise war Mohammed direkt hinter sie getreten. Sein langes Haar klebte tropfnass an seinem Oberkörper und seine nackte, nasse Haut glänzte im Licht des Vollmondes. Zum ersten Mal, seit er wieder erwacht war, zeigte sich auf seinem Gesicht ein Lächeln, das Raffaele und Vittorio ahnen ließ, was hier auf die Welt zukommen mochte.

»Raffaele, wir haben uns, scheint’s, eine ziemliche Konkurrenz geschaffen, aber ich denke, das ist gut so. Willkommen bei den Kindern der Dunkelheit!« Vittorio schloss Mohammed in die Arme, schob ihn dann zurück und lächelte ihn an. »Gut, und nun?«

Mohammed zeigte ein weiteres Lächeln, wobei seine neuen weißen Eckzähne aufblitzten.

»Nun? Nun gehe ich und räche meine Familie. Kommt ihr mit?«

Raffaele seufzte genießerisch. »Na endlich! Das klingt nach einer mörderischen Nacht!«

Kinder der Dunkelheit

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