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12. Venedig, Dezember 2010

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Nebelschleier durchzogen sanft die Luft über dem Weg, der vom Bahnhof zum Bootsanleger führte. Die Steine waren sehr alt, ungleichmäßig verteilt und nun durch die Feuchtigkeit auch noch glitschig. Sabine ging vorsichtig und langsam, die Augen auf den Boden gerichtet, um nur ja nicht auszurutschen. Ihr kleiner Trolley holperte hinter ihr über das Pflaster, und der Geruch von Schiffsdiesel veranlasste sie dazu, den Blick zu heben. Sie hatte die Station Ferrovia erreicht, von wo aus das Vaporetto 2 zur Station S. Marco bei der Piazza San Marco fahren sollte. Der Wind war frisch, doch nicht so eisig wie in Deutschland, und sie war froh, dass der Winter hier, jenseits der Alpen, milder war. Noch mehr beißende Kälte hätte sie derzeit nicht gebrauchen können.

Sie schien Glück zu haben. Kaum hatte sie ihr Ticket erstanden, näherte sich bereits das wichtigste Verkehrsmittel Venedigs und legte mit dem üblichen hektischen Getöse an. Sabine stieg kurz darauf ein und es gelang ihr sogar, den freundlichen Gruß eines Matrosen zu erwidern. Im Innern kuschelte sie sich in einen Eckplatz, wischte die angelaufene Scheibe etwas frei und warf einen Blick nach draußen.

Venedig!

Sabine dachte an den Vorabend zurück. Noch mitten in der Nacht war sie in München in den Zug nach Venedig gestiegen. Weg, so schnell wie möglich weit weg von allem, der Punkt war erreicht.

Die Fahrt hatte dann länger gedauert als gedacht, denn die Berge in Österreich waren tief verschneit und mehrmals musste der Zugführer die Fahrt verlangsamen. Sabine war darüber nicht böse gewesen, im Gegenteil: Hauptsache, sie brachte genug Strecke zwischen sich und die Ereignisse, wie lange es dauerte, spielte jetzt keine Rolle mehr.

Sie hatte sich in einem spontanen Moment für den Ausstieg und für Venedig entschieden. Hier hatte sie so viele glückliche Stunden erlebt. La Serenissima, diese magische Stadt, hatte sie einst wie so viele andere von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen. Das Flair dieser märchenhaften Umgebung würde ihr vielleicht helfen, so hoffte sie zumindest, das Erlebte zu verarbeiten.

Der Nebel hielt leider noch vor, während das Vaporetto 2 von Station zu Station den Canal Grande entlang fuhr, ansonsten hätte Sabine wie bei einer kleinen Stadtrundfahrt viele Erinnerungen wachrufen können. Trotzdem, als sie in S. Marco ausstieg, fühlte es sich schon ein wenig an wie nach Hause zu kommen. Die ab und zu durch den lichter werdenden Dunst leuchtende Sonne färbte den Nebel an den Rändern zartrosa. Vor Sabine ragte nun, von Schleiern umwabert, der Campanile, der große Turm des Markusplatzes, empor.

Nur wenige Touristen verloren sich hier auf dem riesigen Platz. Im Winter gehörte Venedig wieder – fast – den Venezianern. Sabine knotete den Gürtel ihres Mantels zu und machte sich auf den Weg zur »Pensione Martin«. Signora Martin, die Eigentümerin und gute Seele des Hauses, hatte sich gefreut zu hören, dass sie kam. Sabine kannte sie schon seit der Schulzeit. Damals, als sie mit ihrer Freundin vom Campingplatz in Jesolo aus mit Freunden den ersten Ausflug nach Venedig unternommen hatte und sich rettungslos in die Stadt verliebte, um sich dann ebenso rettungslos in dem Gassenlabyrinth mit all den Brückchen und kleinen Kanälen zu verlaufen, hatte Signora Martin sich erbarmt und die verzweifelten Mädchen nach einer Eisschokolade in der kleinen Cafébar nebenan eigenhändig wieder auf die Fähre zurück nach Jesolo verfrachtet. Signora Martin war früh verwitwet, ihr Ehemann war Deutscher gewesen, und sie beherrschte die Sprache recht gut, weswegen die Freundinnen sich auch sofort bei ihr geborgen gefühlt hatten. Das war vor über zwölf Jahren gewesen. Seither war der Kontakt zu Signora Martin nie abgerissen.

Als Sabine bei der kleinen bezaubernden Pension ankam, die direkt an einem schmalen Kanal lag, wartete die Signora schon auf sie. Die alte Dame stellte keine Fragen, aber ihr trauriger Blick, als sie die noch nicht verheilte Narbe auf Sabines Stirn erblickte, sprach Bände. Sabine erzählte ihr, was geschehen war, es sprudelte nur so aus ihr heraus.

Ja, er hatte sie geschlagen, der Mann, dem sie vertraut und an den sie geglaubt hatte. Viele ihrer Freunde hatten sie vor seinem Jähzorn und seiner unkontrollierten Eifersucht gewarnt. Aber wenn man verliebt war, was ja zu Anfang zutraf, wollte man so etwas nicht hören. Man wollte stattdessen an die rosa Wolken glauben, auf denen man schwebte. Zu Beginn hatte sie sich noch geschmeichelt gefühlt, wenn er auf jeden Blick von anderen Männern ärgerlich reagierte. Bald aber wurde seine Eifersucht zu einer immer stärkeren Belastung für ihre Beziehung. Es begann damit, dass sie ihre Freunde nicht mehr besuchen durfte und endete damit, dass sie nicht mehr ohne ihn aus dem Haus gehen sollte. Schleichend war aus ihrer Liebe Angst geworden.

Und dann kam jener Abend vor wenigen Wochen, als sie sich spontan zu dem Kinobesuch entschlossen hatte. Sie hatte ja noch versucht, ihn zu erreichen und ihm eine SMS geschickt, weil er nicht an sein Handy gegangen war. Wieder zu Hause angekommen, war er über sie hergefallen. Er hatte zügellos auf sie eingeprügelt, ins Gesicht, an den Kopf, auf den Oberkörper, bis der Sturz sie endgültig außer Gefecht gesetzt hatte.

Im Krankenhaus war sie wieder zu sich gekommen. Schwere Gehirnerschütterung, eine Platzwunde am Hinterkopf, ein angebrochenes Nasenbein, weitere Prellungen im Gesicht und am Körper. Er hatte sich danach bestimmt tausend Mal entschuldigen wollen, doch sie konnte und wollte nicht mehr, die Grenze war überschritten. Endlich brachte sie die Kraft auf, ihre Selbstlügen, dass alles gar nicht so schlimm sei, einzusehen, und infolgedessen nicht nur die Beziehung für beendet zu erklären, sondern auch den Kontakt sofort abzubrechen.

Die Signora hatte schweigend und immer wieder den Kopf schüttelnd zugehört. Mit einem freundlichen Lächeln, einem gütigen Tätscheln auf Sabines Wange und den Worten: »Du weißt, ich bin da, wenn du mich brauchst«, drückte sie, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, Sabine den antiken Schlüssel in die Hand.

Sabine genoss es, die kleine, knarzende Holztreppe hochzugehen, vorbei an den vergilbten Bildern von Signora Martins Familie, in goldene Rahmen gepackt. Wenige Minuten später stand sie in dem kleinen, hübschen Zimmer am offenen Fenster. Die Winterbrise spielte in ihren langen blonden Haaren, während sie beobachtete, wie die Dämmerung hereinbrach und weiche Linien zeichnete.

Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie wieder frei atmen. Zu Hause hatten die Erinnerungen und die allgegenwärtige Angst vor seinen Nachstellungen sie fast erdrückt. Jetzt entspannte sie sich und sah träumend, gedankenverloren, dem Treiben draußen zu.

Ihr Magen beschwerte sich laut knurrend und holte sie damit ins Hier und Jetzt zurück. Sie freute sich über die Meldung ihres Körpers, denn in der letzten Zeit hatte sie keinen Hunger gehabt und so gut wie nichts mehr gegessen. Dass sie nun Hunger empfand bedeutete, dass sie allmählich wieder zu sich fand. Und das schon nach den wenigen Stunden.

»Eine leckere Pizza hast du dir nun wirklich verdient«, sagte sie zu ihrem Magen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr müdes Gesicht, traurige Augen sahen sie an. Das musste sich schnell ändern! Sie kämmte ihr langes Haar, ein Hauch ihres Lieblingsduftes durfte es ebenfalls sein. Als sie hinaus in die venezianische Winternacht trat, fühlte sie sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder frei und fast schon unbeschwert.

Kinder der Dunkelheit

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