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11.

Venedig, Dezember 2009

LUCA ERWACHTE AUS EINEM KURZEN, jedoch erholsamen Schlaf. Lächelnd betrachtete er die neben ihm schlummernde Frau, bevor er sich geräuschlos erhob und das warme Bett verließ, was ihm bei den aktuellen Temperaturen gar nicht so leicht fiel. Doch er war unruhig und brauchte etwas Bewegung. Vorsichtig zog er die Decke etwas höher über die Schlafende, schlüpfte in seine Jeans, die er vor ein paar Stunden achtlos über eine Stuhllehne geworfen hatte, und trat ans Fenster.

Er schob den schweren Samtvorhang einen Spalt beiseite und blickte hinaus in die nächtliche Lagunenstadt. Selbst jetzt, zu dieser eigentlich frühen Stunde, eilten bereits viele Menschen durch die schmalen Gassen. In den langen Jahren, in denen er nun schon hier lebte, hatte er die Überzeugung gewonnen, dass Venedig wohl nie schlief.

Das mochten andere Städte ebenfalls von sich behaupten, doch hier war es etwas anderes. Hier rasten keine hupenden Taxis durch die Straßen, hier ertönten keine nervenden Polizeisirenen, die das hundertste Verbrechen in einer Nacht ankündigten. Stattdessen erwachte in den Nächten die Magie zum Leben. Boote glitten lautlos über die im Mondlicht glitzernden Kanäle, Musik klang aus Theatern und Privathäusern, alte Mauern wisperten Geschichten in die Nacht für alle, die sie zu hören vermochten.

Raffaele hatte seinerzeit, wie so oft, recht behalten: Luca hatte sich Hals über Kopf in Venedig verliebt.

Als sie vor über fünfhundert Jahren nach Tunis gesegelt waren, wollten sie dort eigentlich nur ein Jahr verbringen. Über fünfzig waren es geworden – Jahre, in denen Luca viel gelernt hatte. Abdallah war ein guter und geduldiger Lehrherr gewesen. Der beeindruckende Beduinenfürst, einer der Ältesten von den Kindern der Dunkelheit, hatte ihn eingeführt in eine Welt weit jenseits seines bisherigen behüteten Lebens. Eine Welt, die ihm völlig fremd war und die sich ihm nur langsam und zögerlich erschloss. Abdallah hatte es verstanden, Luca diese Welt Stück für Stück näherzubringen und ihm zusammen mit Raffaele seine neuen Möglichkeiten aufgezeigt.

In vielen Nächten in der Weite der Sahara unter dem endlos scheinenden Sternenhimmel hatte Luca gelernt, was Demut und wahre Größe bedeuteten. Und er lernte zu kämpfen, wie man rasch und effizient tötete, aber auch, wie man in Ehre lebte, seine Kräfte sinnvoll und zielgerichtet einsetzte, und Nachsicht walten ließ, wenn sie angebracht war.

So war aus ihm zuletzt ein Mann geworden, der Werte schätzte, der im Sinne der Gerechtigkeit handelte. Sein kämpferisches Talent war voll entwickelt, und er beherrschte viele Techniken mit dem Schwert, Wurfsternen, Peitschen.

Doch das waren alles noch Dinge, die auch ein gewöhnlicher Mensch in jahrelangem Studium erlernen konnte. Doch was er den Sterblichen voraushatte, waren seine mentalen Kräfte, in denen Abdallah ihn ausführlich schulte. Er konnte Menschen allein durch seinen Blick und die Kraft seiner Gedanken beeinflussen, sie in Trance versetzen oder sie Stunden ihres Lebens einfach vergessen lassen. Ja, es war sogar möglich, wenngleich eher verpönt und nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, Schmerzen allein durch Willenskraft zuzufügen.

Eines Tages hatte Abdallah sein Schwert sinken lassen, ihn angelächelt und die Worte gesprochen, die Luca niemals zu hören erhofft hatte: »Du warst ein gelehriger Schüler, Luca de Marco. Jetzt bist du nicht nur ein Kind der Dunkelheit, sondern auch noch ein wahrer Krieger der Dunkelheit. Ich bin stolz darauf, dein Lehrer gewesen zu sein.«

Noch heute, Jahrhunderte später, regte sich Stolz in Luca, wenn er an diesen unvergesslichen Augenblick zurückdachte.

Raffaele hatte ihn dann von Tunis aus nach Neapel und von dort über Rom nach Venedig begleitet. Luca genoss es, die Welt kennenzulernen, die Schönheiten der einzelnen Städte, die Faszination des endlos wirkenden Meeres.

Ein kühler Lufthauch zog durch die Ritzen des alten Palazzo-Fensters und brachte ihn zum frösteln. Luca schob den Vorhang ein Stück weiter, um das nächtliche Treiben besser betrachten zu können. Unten waren bereits die ersten Lichter in den Geschäften in der engen Calle angegangen. Mariella hatte schräg gegenüber im Keller ihrer Bäckerei damit begonnen, ihre köstlichen Gebäckstücke und das wundervoll duftende Weißbrot zu backen. Dick vermummte Männer fegten die Ecken aus, um die Stadt für die Venezianer und alle Touristen, die sich im Winter hierher verirrten, feinzumachen.

Luca spähte hinüber zur großen Kirchturmuhr. Es war vor fünf, noch hatte er Zeit. Zu gern wäre er hinausgegangen und hätte sich ziellos durch die Stadt treiben lassen. Sein Blick wanderte sogleich schuldbewusst zu der jungen Frau, die in dem großen Bett schlummerte. Leise trat er an ihre Seite und blickte auf sie hinab. Die langen dunklen Locken waren wie ein Fächer auf dem Kissen ausgebreitet und auf dem hübschen Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Eine Frau, die im Schlaf lächelte, musste zufrieden sein. Luca grinste leise in sich hinein.

Seit ein paar Wochen stillte er sowohl den Durst als auch seinen Hunger nach Nähe und Wärme an ihr. Die Erinnerung an den Sex ließ er ihr, die Erinnerung daran, dass er ihr Blut trank, löschte er aus ihrem Geist. Er wollte keine enge Bindung, wollte nicht, dass sie herausfand, was er wirklich war. Roberta war süß, doch ahnte sie bestimmt, dass die Tage an seiner Seite gezählt waren. In ihrem Alter war das kein Drama, mit gerade einmal zwanzig Jahren genoss man das Leben von einem Tag auf den anderen. Vor allem, wenn diese Tage mit einem überaus attraktiven, reichen jungen Mann verbracht werden konnten, der fast jede Nacht den Himmel auf Erden mit einem Lächeln kredenzte, das Roberta so noch nie gesehen hatte.

Luca schlenderte zurück ans Fenster, er wollte sich auch nach all den Jahren nicht sattsehen an der Schönheit Venedigs. Der Augenblick, als Raffaele ihn vor über zweihundert Jahren geweckt hatte, damit er die Ankunft der Karavelle in der Lagune nicht versäumte, hatte sich unauslöschlich in seine Erinnerung gegraben. Der Sonnenuntergang über Venedig war ein Bild voll atemberaubender Schönheit gewesen. Man hatte den Eindruck, der Himmel über der Lagune habe Feuer gefangen und Funken würden auf die Gondeln regnen, die sanft in den Wellen dümpelten. Es war ein Willkommensgruß gewesen, für den er der Dunkelheit heute noch dankte.

Frierend zog er die Schultern hoch. Jetzt im Winter wurde es doch ordentlich kühl in dieser von Kanälen durchzogenen Idylle und das Feuer im Kamin war schon vor Stunden erloschen. Die Heizung war noch abgestellt. Also schlüpfte er zurück ins Bett. Das Kinn aufgestützt, betrachtete er die schlafende Roberta.

Sie war ihm eine angenehme Gespielin, doch in absehbarer Zeit würde er diese Beziehung beenden. Raffaele hatte ihm nahegelegt, das nahende Weihnachtsfest abzuwarten, denn eine Trennung zu den Festtagen wäre ein ziemlich miserabler Stil. Natürlich hatte er damit wieder einmal recht und so hatte Luca in der vorletzten Nacht ein teures Armband aus Gold, mit funkelnden Smaragden besetzt, erstanden. Es würde Roberta sehr gut stehen, und sie hatte es bei ihren nächtlichen Spaziergängen mehrmals in der Auslage des Juweliers bewundert. Sicherlich rechnete sie nicht damit, dieses kostbare Schmuckstück geschenkt zu bekommen, und er freute sich jetzt schon darauf, es ihr zu überreichen. Dass es letztendlich auch ein Abschiedsgeschenk sein würde, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Das war nun einmal unvermeidlich, so war es nun einmal bei Seinesgleichen.

Luca ließ seinen Finger langsam über Robertas nackte Schulter hinunter zum Ansatz ihrer festen runden Brüste gleiten. Die warme, weiche Haut einer Frau zu spüren, war immer aufs Neue ein wundervolles Erlebnis.

Roberta erwachte von der Liebkosung und strahlte ihn voller Vorfreude an. Luca lächelte nicht minder erfreut zurück. Wie pflegte Raffaele zu sagen? »Man muss die Feste feiern, wie sie einem in die Arme fallen.« Dem galt es nicht zu widersprechen.

Langsam neigte er sich zu ihr, seine Lippen näherten sich ihrem Mund und seine Hände glitten tastend über ihren Körper. Roberta schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn dicht zu sich.


München, Oktober 2010

HIMMEL, WAR DAS KALT! Dafür, dass es gerade einmal Ende Oktober war, fror sie erbärmlich. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass sie schon wieder Angst hatte. Der heutige Kinobesuch war spontan gewesen, der Film göttlich. Mehrfach hatte Sabine versucht, bei Thomas anzurufen und ihn zu bitten, doch auch mitzukommen, aber er war nicht an sein Handy gegangen. Sie hatte in den letzten Jahren auf so vieles verzichtet, nur um ihn nicht zu reizen und seine Eifersucht nicht auf den Plan zu rufen. Aber mit der Freundin einen harmlosen Kinoabend zu genießen, das sollte für eine Frau von achtundzwanzig Jahren doch möglich sein.

Jetzt aber, während des Heimwegs, waren ihr wieder diese Zweifel gekommen, ob sie nicht lieber hätte verzichten sollen. Und ärgerte sich sogleich darüber. Verdammt, wie dumm konnte sie sein! Sie war eine erwachsene Frau, hatte ihr Studium mit besten Noten absolviert, ihre Forschungsarbeiten waren in den Himmel gelobt worden. Ihr Doktorvater hatte sich geradezu überschlagen und ihrem angekratzten Selbstbewusstsein einen Schub gegeben. Kaum stand sie vor der Tür der gemeinsamen Wohnung, mutierte sie von der erfolgreichen Forscherin zum schüchternen Schulmädchen. Warum tat sie sich das denn an? Sie konnte ihr Hirn so lange durchforsten, wie sie wollte, dafür gab es keinen guten Grund, schon lange nicht mehr. Die Liebe zu Thomas war mit jedem seiner Eifersuchtsanfälle Stück um Stück verschwunden. Wenn sie nur endlich den Mut aufbringen würde, das alles zu beenden!

Jeder Vorsatz war dahin, als Thomas sprühend vor Zorn vor ihr stand und ohne ihr zuzuhören umgehend auf sie eindrosch. Das Letzte, was sie spürte, war ein Schlag gegen die Schläfe, der sie aus dem Gleichgewicht brachte und nach hinten taumeln ließ. Im nächsten Augenblick knallte ihr Kopf gegen etwas Spitzes, Hartes – dann verlor sie das Bewusstsein.

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